Wocken/chrin
ZWEITER JAHRGANG
I. HALBJAHR
OKTOBER 1911 — MARZ 1912
HAMMER-VERLAG. G. M. B. H.
BERLIN W. 15 - UHLANDSTRASSE 30
Inhalts- V erzeichnis
A. Rache an Tschudi
Adler, Max, Dr. Der Lokomotivfiihrer
Adler, Paul. Theodor Daubler. Ein Gesprach mit dem
unlustigen Leser iiber einen Dichter .
Albin, Alfred. Der Druckknopf
.. .. Es denkt
Alexandre, Arsine. Durand- Rue 1
Anwalte. ( MetternichprozeB. )
Bahr, Hermann. Religion . . .
Baudelaire, Charles. Von belgischer Art und Kunst . .
Beckmann, Max. Gedanken iiber zeitgemafle und unzeit
gemafie Kunst
Behl, C. F. W. In memoriam Hermann Bang ....
Benndorf, Friedrich Kurt. Naturalismus. Eine Definition
Bemeis, Benno. Zeichnung (Das Pelztier.) ....
a
Zeichnung
BlaB, Ernst. Der temperamentlose Schmetterling
,, ,, Literatur
„ ,, Manns , , Schauspielerin" ....
Bonnie. Tschudi- Gedachtnis-Stiftung
,, Koniglich bayrische Komodie ....
Briusoff, Valer. Russische Verse
Brod, Max. Kommentar zu Robert Walser . .
„ „ Lied des Stubenmadchens im Hotel
Busoni, Ferruccio. Selbst-Rezension
C. Das Berliner Vieh
Das heimliche Theater und Wedekind
|„ Der l&stige Wedekind
|„ Erinnerung
l„ Reue .
JJ
Cardonne, G. le. Ein jungfranzbsischer Roman . . .
Cassirer, Paul. Der Tempel des Bismarck ......
„ Erklarung 131.
„ „ Kritiker?
Clemen, Paul. Ueber das Bismarckdenkmalsthema . . .
ft
404
345
536
260
376
ii5
97
323
435
499
370
399
259
573
456
123
375
407
557
53
180
327
159
347
293
293
349
410
186
316
95
hi
Constable, John. Aeufierungen liber Kunst 9, 67
Corbach, Otto. Englisch-deutsche Annaherung und Ostasien 473
,, „ Politisch-biologischer Humbug 429
,, „ Sprache und Politik 452
Dauthendey, Max. Sterngesprach 211
Davidsohn, Georg. Wie fiihlt sich der Parlamentskandidat ? 292
Dehmel, Richard. Politik 236
Der Schonberg-Streit 489
Die Unterirdischen (s. a. 350, 490, 518) 405
Die Verwandtscbaft ( Mettemichprozefi) 100
E. Die Tschudi-Stiftung 434
Ehrenbaum-Degele, Hans. Kreuzfahrer 502
Ein deutscher Gouverneur. Von * * * 171
Ein Idealist 36
Einstein, Carl. Brief uber den Roman 477
Ernst, Paul. Die Kunstfigur und die Maske. Ein er-
dichtetes Gespr&ch 483
Essig, Hermann. Ein Weltereignis 19
„ ,, Lucie . . . . 491
Eulenberg, Herbert. Das M&rchen von Ails 45
„ ,, Verlaine 267
FI. V, Katinka, Die Fliege 321
Flake, Otto. Franzdsisches Tagebuch 463
Franck, Philipp. Corinth und Leistikow 33
Frank, Ludwig. Auf der Landagitation 209
Fred, W. Abschied des Journalisten 312
,, „ Das Theatergesch&ft 234
, , , , Der heilige Kientopp und das olympische Mirakel 232
,, „ Edith 264
„ ,, Hof- und Theatemachrichten 262
,, ,, Kammerspielabend 3 21
,, ,, Liigt doch nicht so ! 163
m ty Pelze . .. 255
,, ,, Revolverschiisse 14 1
„ ,, S. Fischers 25 Jahre 160
„ „ Unglaubliches 232
„ ,, Unziinftige Theaterkritik 162
„ „ Wahlversammlung 263
,, ,, Was man alles schreiben und drucken lassen darf 265
„ ,, Weihnachtsbiicher 194
Friedlander, Dr. S. Fasching als Logik. Vortrag eines Mars-
bewohners 333
Friedjung, Heinrich. Der Bund mit Italien 181
Friedrich der Grofie. Elegie der Stadt Berlin an den Baron von
Pollnitz 389
IV
4
Glaser, Curt. Die Biihnenperspektive in Japan 303
Gr&ner, Georg. Arnold Schonberg 85
Gurlitt, Ludwig. Stil-Leistung eines Richters 48
Guthmann, Johannes. Der Schopfer und die Kreaturen 507
H. A. Der modeme Volkswirt 226
Hermann, Georg. Politik 239
Heym, Georg. Gedichte 301
„ „ Aus Georg Heyms Jugend. Von Georg
J. Plotke 516
Heymel, Alfred Walter. An eine Erscheinung im Kameval 385
Hi. K. Heiliger des Ueberflussigen 34
„ „ Was man nennt das grofie Ochsen 67
Hiawatha. Die Krise des Parlamentarismus 503
,, Agrarische Psyche. (Der Bauer auf dem
Zweirad. ) 560
Hiller, Kurt. Der Trappist 99
,, ,, Die Anekdote 544
„ „ Aphorismen 573
Hofmannsthal, Hugo von. Das Spiel vor der Menge ... 176
Jatho, C. Politik 238
Kaemmerer, Theodor. Ebbe und Flut 231
Kayser, Rudolf. Wedekinds Franziska 547
Kellermann, Bernhard. Die Geisha 150
Kerr, Alfred. Altmodischer Umsturz 1
„ ,, Coda 131
„ ,, Der Pan-Bahn-Bann 32
„ ,, Die Unterirdischen (s. a. 405, 490, 518) . . 350
„ ,, Edison 65
„ „ Erkl&rung 131
„ „ Freisprechung 34
,, „ Kythera, Pflicht und Mancke 97
„ „ Mettemich und Cyrenaika 37
„ ,, Ober-Bamum und Kythera 34
„ ,, Philipp Eulenburg 32
,, ,, The Reinhardt Stage 65
,, ,, Was ist zu tun? 69
Koester, Reinhard. Das Fenster 424
„ „ Pariser Sonnette 287
Krites. Amerikanische Schuhe 289
,, Baukrach 28
,, Corriger la fortune 156
,, Der Eidbruch des Ministers 372
„ Der Staat als Kaufer 228
„ Hefe 92
,, Koniglich preufiischer Umsturz 341
V
Krites. Terror der Syndikate
,, Um Mosler und Wersche
Kurtz, Rudolf. Appell an ehrliebende Theaterdirektoren
Leonhard, Rudolf. Legende
,, „ Sawitri
» »» Verse
Leube, v. Politik ....
Liebermann, Max. Tschudi
Loerke, Oskar. Graudenz
4 * *4 * A * 4
Ludwig, Emu. Friedrich .
Mann, Heinrich. Politik .
,, „ Reichstag
Marc, Franz. Anti-Beckmann
„ „ Die konstruktiven Ideen der neuen Malerei
„ „ Die neue Malerei
Matthes, Ernst. Zeichnung : Foyer
Mendelssohn, Erich ▼. Das Kloster in Tibet
Muller, Fritz. Kulturgeschichte A la franpaise
,, ,, Putzfrauen
Nard. Das goldene Mainz. Zeichnung (mit Gedicht) . . .
,, Zeichnung (mit Gedicht)
,, Zeichnung
Plotke, Georg J. Aus Georg Heyms Jugend
Politik. Aeuflerungen (s. a. Dehmel, Jatho, ▼. Leube, Mann,
Hermann, Wedekind)
Quentin, Franz. Die Hoflichen. Novelle
Ru. An. Viktor Hadwiger f
Reik, Theodor. Aus Flauberts NachlaB
„ ,, Der liebende Flaubert
„ „ Dichtung und Psychoanalyse
,, „ Flauberts Jugendregungen
Rodin, Auguste. Der Nutzen der Kunstler
,, „ Zwei Federzeichnungen 167,
Rosenhagen, Hans. Mitteilung
Rubiner, Ludwig. In der italienischen Oper
Schaeffer, Emil. Eine Audienz bei Goethe
Scheerbart, Paul. Hoftrauer. Persische Novellette . . .
Scheller, Will. Gustav Meyrink
Schonberg, Arnold. Aus ,, Waller im Schnee“. Von Stefan
George. (Notenbeilage) nach . . .
,, ,, Der Musikkritiker
„ ,, Schlafwandler
Schonberg- Sammlung
Schonberg-Streit
Schur, Ernst. Bilderdiebstahle
59
552
126
129
472
545
238
138
63
295
238
133
555
527
468
137
5 6 7
307
572
8
44
98
5i6
236
54i
66
386
xoi
519
75
*65
169
294
276
338
395
39i
114
460
432
33
489
283
Sochaczewer, Hans. Trio 486
Strindberg, August. Der Giinstling des Publikums . . .331
„ „ Die Windmiihlen. Ein Akt . . . . 351
»i M Hut ab 143
T. Dekorativ 378
Tagger, Theodor. Yuanschikai Kunktator 367
,, ,, Pantomimiker (Schiller — Wagner) . . 402
Tolstoi, Leo. Ein Idyll 197, 241
Tu. Meyrink englisch 35
Urville, M. Die Zukunft des Islam 378
Verein Kerbholz .... 518
Vetter, August. Vier Gedichte . . 90
Von den Unterirdischen (s. a. 350, 465, 518) 490
W. Sozialdemokratie, Agadir und Ausland 349
Waldmann, Emil. Alte und neue Bilder in Athen . . . 447
„ ,, Europ&er vor viertausend Jahren . . 4x5
,, ,, Stendhals italienisches Tagebuch . . 532
Wie die „deutschen“ Kunstausstellungen
im Auslande gemacht werden ... 146
Walser, Karl. Zeichnung 53, 151, 153
„ Robert. Essen 129
„ „ Was aus mir wurde 459
Wedekind, Frank. Politik 240
Westheim, Paul. Die steinerne Maske 319
,, ,, Die vielen, vielen Kiinstler 509
Wieland. Der Kbnig regiert 317
Wo. A. Munckel 572
Worton, Richard Wolfgang. Der Fahrende
Du bist so still
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Verse
Wulfen, Wilhelm van. Der Genufimensch
■
*
DRUCKCREI —
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Altmodischer U msturz
p
Altmodischer Umsturz
i.
Bagroffs
Bethmann wird
femen Tags gefriedet, nach unbeschleunigtem Alter
Aber geistig konnte seine Stellung so aussehn, wie Stolypins
zuletzt war : der Russe stand luftschnapperid zwischen Rechts
und Links. Und da es im Osten war, vollzog sich sein Ende
nach der Oberlief erung des Landes : beschleunigt.
Diesem, dem Deutschen Reich abgunstigen Diktator, welch er
dem geeinten Turm Frankreichs und Englands Klammern ,
* i *■
Stiitzen, Mortelfuhren zubrachte, haben deutsche Politiker
Worte der Verehrung weinend gewidmet. Warum ? weil er ein
Hersteller der Ruhe war. Er war es nicht. Er beging alt-
modische Rechenfehler. Wenn eine Verfassung nach vielem
geopfertem Schweiss einmal gegeben ist — wie soli durch den
Bruch dieser Verfassung ein Land zur ,,Ruhe“ kommen ?
II.
Eine mittlere Kraft ninunt die Gewalt. Er beseitigt die
Vertretung eines Volks. Er metzt ein verfassungsm&ssig
p
angegliedertes Nachbarland in Stiicke. Dieser Mensch ist
•a
haftbar fiir einen griindlichen Schwaden von Einzel jammer ;
er steht ein fttr|Tausende vonTotungen, so man im Schatten seiner
Fliigel vollbracht : und er wundert sich, wenn er eines Tags
gestoppt wird? Zehntausend Fedem in Deutschland wundern
sich mit.
i
3 Altmodischer Umsturz
Wer Krieg anf&ngt, muss &uf Kugeln gefasst bleiben. Es
w&re die letzte Feigheit : Gewalt zu iiben — und gegen Gewalt
gesichert zu sein. Der vielleicht ehrlich-beschrankte, doch eid-
und rechtsbriichige Stolypin ist Mitteln unterlegen, . . . die er
angewendet hat. Er nimmt sein gutes Bewusstsein in die Leichen-
kiste. Er bekreuzt sich nach der Loge desZaren; ,,glucklich“sei er,
fur ihn zu sterben. Man sieht einen beklagenswerten, elenden,
mitleidzeugenden Menschen, der sich mit zerfetztem Bauch und
inneren Blutstiirzen gurgelnd w&lzt : aber so sterben im Krieg
Hunderttausende, die Schuld niemals auf sich luden. Im Fort-
tragen hat er vielleicht noch gespurt, wie echt-russische Leute
seine Uhr mausten.
Der an Stolypin veriibte Mord ist kein Beweis fur irgend etwas
Wesentliches. Dieser Mord ist, in sittlichem Betracht, so bldd-
sinnig wie ein Krieg ; Revolverschiisse so nichtssagend wie eine
Feldschlacht. Was wird bewiesen ? Allen falls Nebensftchliches :
die unschlaue Taktik des Ermordeten, die zu gleichen Mass-
regeln einlud. Bewiesen wird der bescheidene Satz : Wurst
wider Wurst. Nicht aber bewiesen : ob Bagroff Recht gehabt
hat und Stolypin Unrecht.
Wer den Krieg verdammt, muss Bagroffs Methods verdammen.
III.
Aber bewiesen ist auch, dass Bagroff kein feiger, verachtens-
werter Schuft ist. Den Tod hat er gespendet — den Tod hat er
gew&rtigen miissen. Exekutiert darf er werden : beschimpft
nicht. Die deutschen Zeitungen beschimpfen ihn. Warum
so ungleich messen ? Unsre Kriegsschreier stossen sich Ver-
zierungen ab, wenn im Biirgerkrieg (Burger krieg ist in Russland,
nach dem Staatsstreich) ein Schuss f&llt. Bagroff hat getan,
was sie verherr lichen, — wenn es minder intellektuell geschieht.
Er hat sein Leben eingesetzt. Das Unrecht seiner Tat ist nicht
zu riihmen, aber der Tater selbst vor Unrecht zu schutzen. Der
Mann ging in eine Schlucht . . . mit dem sicheren Bewusstsein :
der Ausgang ist eine Schadelstatte. Der Totenstem gl&nzte vor
ihm, doch er schritt auf ihn zu. Das ist kein elender Kerl — ihr
Schreiberiche, die ihr das Wort , , Gesindel* ‘ fiir Charaktere solchen
Schlags aufbringt. Bagroff darf erschossen werden : aber nicht
bespuckt.
Ein deutscher Musiker, aus Steglitz, hat als Angenzeuge die
Tat geschildert. Die Opemkapelle von Kiew hatte man durch
Mitglieder des „Schneevogtor chesters" verst&rkt. Schneevogt-
orchester ; nirgends in der dramatischen Welt fehlt etwas Deutsch-
Idyllisch-Humorhaftes. Der wackere Musiker schreibt (etwas
ausfuhrlicher) : ,,Glucklich war der erste und zweite Akt zu
Ende gegangen . . . knallte mitten in den Beifall ein peitschen-
schlagartiger Schuss. Hochaufgerichtet stand in einer von der
Zarenloge ziemlich entfemten Loge ein Mann, einen Revolver
in der Hand des ausgestreckten Arms . . . alles bekreuzigte
sich ... In diesem Augenblick tonten die Worte des Attent&ters :
,Ich bin es gewesen. Hier bin ich !‘ durch die Stille. Eine unbe-
schreibliche Verwirrung folgte . . . Der Attentater war der einzige
unter all den Menschen, der ruhig blieb. Stolz und gerade auf-
gerichtet, erwartete er seine Verhaftung . . . Die Kosaken der
zarischen Leibgarde sturzten auf ihn zu nebst einigen M&nnera
aus dem Publikum, und blutend ftihrte man ihn ab. Der Bl&ser
Berger wurde durch den Sabelhieb eines Kosaken verletzt, weil
er sich zu friih von seinem Platze wegbegeben wollte.“ So das
Mitglied des Schneevogtorchesters. Wer, zum Donnerwetter
sieht hier Gesindel? Der wildeste Gegner kdnnte bloss einen
Irrenden sehn.
Warum nennt ihr nicht Andre lieber Gesindel ? Wenn es in
k
Deutschland Verbrecher gibt, die wegen ihrer Beteiligung am
Handel mit verarbeitetem Stahl einen Krieg wunschen ; die
somit aus Geldliebhaberei die Ermordung . . . nicht eines Einzelnen,
Herausgesuchten, sondern wahllos Hunderttausender wollen :
warum nennt >. ihr diese nicht Gesindel ? Weil sie mehr besitzen.
Die Bagroffs sind im Unrecht : aber die Andren sind feiger, ent-
sittlichter. Die Bagroffs irren, weil sie, den schleunigen Pfad
erklimmend, Gewebe, Knochen, Verrichtungen, Gefdsse von
ihresgleichen durch unwiderlegbaren Eingriff zerschmettern :
aber sie wollen doch nicht halbe Volker blind und plump aus
Altmodischer Umsturz 5
ausseren Mittel geglaubt. Auch er war ein Romantiker, bloss
ein konservati ver . Er hat grob die deutsche Linke zu ent-
heimaten gesucht. Trotz allem hat von den Bedriickten keiner
in Bagroffscher Art je zu tun getrachtet , was nur der frommere
Kulhnann unternahm. Ein Menschenalter vor Jena. Zivilisierung
der Umsturznatur.
Bethmann ist nicht stark. Er h&tte Deutschland kaum ge-
einigt. Aber ein D&mmer Dessen lebt vielleicht in ihm, was
* -r W
nach der Einigung — nach einer abschliessenden Tat, als welche
riickwarts blickt — in unpathetischen Lauften zu fordem ware.
Vielleicht ist alles das eine Posse: doch eine Posse mit Moglich-
keiten; Luftschlosser mit einer Grundmauer. Herz mein Herz;
einErzbischof, der von Mtinchen, hat imschlummerndenDom
nicht vor grauer Zeit, sondem vor sieben Jahren an den
Griiften sich umdrehender Kaiser einen Bund gebaut zwischen
Schwarzen und Genossen. Verstandigungen, Abmachungen ,
Kontrakte. (Zivilisierung der schwarzen Menschennatur.) Kein
Biirgerkrieg um Dasein oder Untergang. Arbeitsteilung, Arbeits-
teilung. Das Stimmrecht an der 111 wurde durch die roten Ver-
biindeten dieses Erzbischofs Wahrheit. — weil auch Bethmann
^ *
einen Bund gebaut hat.
Er ahnt vielleicht, wie sich Dinge entwickeln. Ohne dass
er dieser Einsicht je Gestalt schaffen wird. Er weiss, dass Deutsch-
land keine Bagroffs hat. Der Sozialist Calwer hat vielmehr
festgestellt, dass seine Partei der deutschen Regierung ,, nicht
in den Arm fallen will, wenn diese bei der Verteilung uner-
schlossener Gebiete die Deutschland zukommenden Anspriiche
geltend macht“. Der Unterschied zwischen Bebel und Bagroff
liegt, unter anderm, in Jena. (Hier begab sich ein Schwank
auf Deutsch lands rechter Seite. Vor Jena murmelten die
Parteien rechts: „Unser Zorn wird riesengross, wenn Bebel
unpatriotisch redet!!!“ Nach Jena: „Unser Zorn ist aber noch
grosser, weil er nicht unpatriotisch geredet hat . . .“)
Herr von Bethmann, kaum ein kenntlicher Umriss in seiner
Zeit, sondem bisher eine (bei Bismarcks Verfassung) pech-
verfolgte Nummer in Reih und Glied; verspottet, obschon ihm
die H&nde gebunden sind nach dem Zuschnitt, welchen jener
Altmodischer Umsturz
6
p i
Heros gemacht: — Herr von Bethmann findet sich einem
so zivilisierten Umsturz gegeniiber ; yon ungesetzlichen Zwischen-
h
f&llen durch eines Senkbleis Tiefe getrennt : er oft hiniiber-
scbweifen mag in geheimen Stunden. Hier steht ein namen loser
Kanzler. Er kdnnte noch aus der Reihe der Nummem treten —
und einer werden. Es bedarf dazu keiner Persdnlichkeit :
sondem zun&chst eines Sichtragenlassens. Ein bis heute
ruhmloser Reiter findet sich vor einer Wand. Seine Politik hat
Deutschland einem grossen Geldkrach entgegengefiihrt. Nur
die ersten Folgen zeigten sich bisher. Bei Marokko (welches
nicht bloss Weltpolitik, sondem Wahlpolitik machen wollte)
meldet sich ein furchtbarer Rechenfehler. Manches, aber keine
Finanzerschiitterung war in diesem drohenden Umfang von
Kiderlen vorausgesehn. 1st es wahr, dass franzdsische Bank-
h ft user Milliarden von Berlin zuriickgezogen haben ? ist es wahr,
dass die deutsche Hauptborse ein Jahrzehnt brauchen wird, um
wieder in die dritte Reihe zu kommen ? Bis jetzt lenkte die Dauer
der Verhandlungen vom Schaden ab, den wir besehn werden.
Der dussere Karren ist verfahren ; die L&rmwiinsche von
Knallpatrioten sind unsinnig, da wir den Angriff zweier Flotten
auf die deutsche gewfirtigen muss ten im Augenblick, wo England
einen deutschen Bluff gegen Frankreich . . . nicht als Bluff
nimmt. Der Karren ist verfahren. Es gibt fur den Kanzler die
eine, die eine Rettung. Der grosse Zug nach Links.
Ein Mann, der ihn tut, h&tte die Moglichkeit zu wachsen:
zu einer zivilen Gestalt besseren Kalibers ; nach allem Pech,
A
nach aller Schuld. Er konnte manches ins Trockne bringen;
durch den Entschluss, mit den stromendsten Kr&ften des
Landes : nicht gegen sie zu arbeiten. Eine Tat w&re dazu
notig. Vor der Reichstagswahl Verkiindung des elsftssischen
Stimmrechts fiir Preussen. (Er wird sich hiiten.)
Das Vertrauen kehrte zuriick — und eine Willigkeit, sonst
auf den hundertsten Teil herabgesetzt. Dieser Kanzler konnte
haben, was er fordert, um die Erholung eines Landes, dessen
Nerven er strapaziert hat, zu beeilen.
«
Sonst wird er luftschnappend ein Ende zwischen zwei ihn
hassenden Welten finden, zwischen rechts und links, nicht
Altmodischer Umsturz 7
korperlich, doch bildlich, wie Stolypin zwischen Kugeln und
Kreuzen.
Nicht nur Dernburgs notwendiger Hilfszug hat bewiesen , dass
die Zeit neuere Beine zum Fortkommen braucht. Sie mussen
in der Not politischer Schlappen scharengewaltig herangebracht,
die linke Tiir aufgestossen werden. Offene Tiir . . . nicht
durch Schiisse, sondem durch Pleiten. Und durch den Genie-
mangel unserer Obmanner.
Ein Staatskunstler hat geaussert: „Ich habe den Eindruck,
dass wir bei dem direkten Wahlrechte bedeutendere
■
Kapazit&ten in das Haus bringen, als bei dem indirekten." Es
war 1867, im norddeutschen Reichstag. Wer? Bismarck.
DAS GOLDNE MAINZ
John Constable
John Constable
Ausserungen fiber Kunst
t
In einer Zeit wie die unsere*) sollte die Kunst verstanden
und nicht mit blinder Bewunderung anges taunt, noch als ein
blosses poetisches Sehnen angesehen werden, sondern als eine
T
berechtigte, wissenschaftliche und technische Betatigung.
Der alte Kunstplunder, die muffigen, elenden Bilder, die die
r
Leute sammeln, aufhangen und vor ihren Freunden zur Schau
stellen, sind Shakespeares ,,leeren Schachteln und ausgestopften
Krokodilen" zu vergleichen. Die Natur ist alles andere eher
als das, sowohl in der Poesie, der Malerei, wie in Feld und Wiese.
Wie verfuhren Claude und die Poussins? Obwohl sie von
Palasten voller Gemalde umgeben waren, erwahlten sie vor-
nehmlich die freie Natur zur Statte ihrer Studien.
* ■
W. ist sich bewusst, dass er ein arger Manierist ist und auch
I
dafiir gilt. Man sagte ihm, die Ausstellungskommission habe
aus diesem Grunde grosse Miihe mit seinem Bilde gehabt, weil
1
es die Nachbarschaft keines anderen vertrug; gekrfinkt er-
widerte er: ,, Manier konne sowohl gut sein wie schlecht".
Aber Fuseli macht den richtigen Unterschied zwischen Manier
und Stil.
Lord Bacon sagt , , Verschmitztheit ist verkehrte Klugheit".
Nun ist nichts verderblicher, als wenn verschmitzte Menschen
fur klug gel ten. Und so verhdlt es sich auch mit der Manie-
riertheit in der Malerei. Die Manieristen sind verschmitzte
Leute, und das Ungluck ist: das Publikum ist nicht imstande,
zu unterschelden zwischen ihren Bildern und echter Malerei.
Manier ist immer verfuhrerisch. Sie ist mehr oder weniger
eine Nachahmung von bereits Dargestelltem und deshalb immer
wahrscheinlich, glaubhaft. Sie verheisst den kiirzesten Richt-
weg zu gegenw&rtigem Ruhm und Vorteil durch Nutzbar-
J-
*) Erstes Drittel des neunzehnten J ahrhunderts.
John Constable
zo
mac hung der Arbeit anderer. Sie fiihrt beinahe unmittelbar
zu Ruf und Ansehen , weil sie fiir die unwissende Welt ein Wunder
be deutet. Sie besitzt stets einige glinzende und plausible Reize,
die das Auge auf sich ziehen. Da Manieriertheit sich stufenweise
entwickelt, und durch Erfolg^ in der Welt, Beifall usw. gefdrdert
*
wird, sollten alle Maler, die in ihrer Kunst wirklich Grosses
leisten wo lien, fortwahrend gegen sie auf der Hut sein. Nur
innige und bestandige Beobachtung der Natur kann sie vor
der Gefahr bewahren, zu Manieristen zu werden.
Von den grossten Malern war keiner exzentrisch in seinen
Werken. Sie waren zu sehr in Obereinstimmung mit sich selbst ,
am ein solches Epithet zu verdienen, sich zu wohl bewusst,
was sie darstellen wollten.
Die Sucht der Grossen und Reichen, den Beschiitzer zu
J
spielen, die der Hoffnung entspringt, entweder der erste zu
sein, der das verborgene Genie entdeckt, oder einen jungen
Mann von mittelmassigem Talent in ein Genie zu verwandeln,
obwohl sie hin und wieder von Nutzen sein mag, ist weit h&ufiger
schadlich fur die wahren Interessen der Kunst und selbst fiir
das solcherart protegierte Individuum. Sonst treffliche M&nner,
die von dieser Eitelkeit besessen sind, werden vollig blind fiir
die Ungerechtigkeit, die sie gegen alle die begehen, die redlich
das Treffen gewonnen haben, und die sie nicht anstehen wiirden,
von ihrem Platze zu verdrangen, um einem von ihnen Bevor-
zugten Raum zu schaffen, der um ihrer Unterweisung und
Fdrderung willen auf den Gipfel des Ruhmes gestellt werden soli.
Auch in der Kunst sollte, wie in allem anderen , Moralgefiihl
vorhanden sein: es ist nicht recht, wenn ein junger Mann, der
emstes Studium und muhsames Ringen noch nicht kennt, sich
ein Ansehen gibt oder schon fiir vollkommen halt.
Nie ist ein Knabe ein Maler gewesen, noch kann er es sein.
Die Kunst erfordert eine lange Lehrzeit, denn sie ist ebenso-
wohl Technik wie Geistigkeit.
In Rom war es, wo Claude anting die Natur zu studieren.
Er war dort hingekommen als eingeschworener Manierist. Bald
aber fand er es notwendig, „zu werden wie ein Kind* 4 und
widmete sich dem Studium der Natur mit einem Eifer und
John Constable
1
II
einer Ausdauer, die vielleicht vor ihm nicht ihresgleichen hatten.
Er lebte im Freien, den ganzen Tag lang, und zeichnete abends
in der Akademie — denn die Kunst ist und bleibt am Ende
doch eine Kulturpflanze und keine Pflanze der Wiiste.
Die Teile eines Kunstwerkes sind so notwendig {hr das
Ganze gleichwie in der Arithmetik die einzelnen Stellen fur
eine Endsumme: nehmt einen einzigen Posten fort, und die
m
Rechnung muss falsch sein.
Wenn ich mich hinsetze, um eine Skizze nach der Natur
zu machen, so ist es mein erstes, dass ich danach trachte, zu
vergessen, je vorher ein Gemalde gesehen zu haben.
Meine Bilder werden nie volkstiimlich werden, denn sie haben
keine Kunstkniffe. Aber ich sehe keine Kunstkniffe in der
Natur.
Nein, es gibt nichts Hassliches ! Ich habe nie in meinem
Leben etwas H&ssliches gesehen. Denn mag die Form eines
Dinges sein wie sie will: Licht, Schatten und Perspektive werden
es immer schon gestalten.
In Claude Lorrains Landschaften ist alles anmutig, liebens-
wiirdig, alles Schonheit und Harmonie, der sanfte Sonnenschein
des Herzens. Er fiihrte die Landschaft tatsachlich zur Vollendung.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die grossten Meister ihre
besten Leistungen nur als Versuche betrachteten und vielleicht
als misslungene Versuche im Vergleich zu dem, was sie erhofft,
ersehnt und in der Natur erblickt hatten. Denn wexm wir von
Vollendung in der Kunst sprechen, so diirfen wir nicht vergessen,
was fiir Material es ist, mit dem der Kiinstler mit der Natur in
die Schranken tritt. Fiir das Sonnenlicht hat er nur Gelb und
Bleiweiss, fiir die dunkelsten Schatten nur Umbra und Russ.
Lichte Klarheit war der charakteristische Vorzug Claudes,
Klarheit unabh&ngig von Far be — denn welche Farbe hat
dieses Glas Wasser ?
Der Genussmensch
t
Der Genussmensch
Von WILLEM VAN WULFEN
Die folgenden Seiten stehn im Gegensatz zum Grundzug
der aus dem PAN hervorwachsenden Denkart. Sie werden hier
veroffentlicht : als Anregung zum Beklopfen ( und Festigen)
dieser Denkart.
Der Verfasser lfisst bei Hans, von Weber in MQnchen fiber
den Gegen stand ein anregendes Buch (mit dem Beuatz: Ein
Cicerone im rticksichtslosen Lebensgenuss) erscheinen. Die
furchtfreie Ruhe, womit er seinen blossen Hedonismus verktindet,
wird man unter sachlichem Widerspruch feststellen.
Wulfen scheint vor dem Streben der menschlichen Gattung
zu einer Art Nihil ismus zu gelangen. Ich habe solche Stim-
m ungen gelehrt, mit abweichender Schlusswendung (,,Das
Neue Drama'*, Seite zi): „Im Kampf des Formens und Um-
formens geben sie die SSfte dahin, die Strebensmenschen.
Ffir wen 1 O du mein Heiland ! Ffir ein paar Liebhaber ? Ffir
ein paar Kunsthfindler ? Ffir die Abonnenten einer Zeitschrift ?
Ffir die Leser dieses Buchs ? Ffir eine kleine Nachwelt, die
ung nicht mehr kfissen und nicht mehr bezahlen kann ? Und
wenn es eine Welt ist : ffir wen !“
1908 ( , .Theater in Berlin") — : ,,Soll man aufwirtsstreben ?
Es lassen sich all er hand Einw&nde hierwider machen. Mein
Streben, beispielshalber, geht mit mir zugrunde. Ich kann
nicht alles schriftlich mitteilen, was ich bin ; also nicht fiber-
tragen. Zweitens : ich habe keinen Sohn ; also bleibt es un-
vererbt. Schlemme, soweit etwa dein Wohlgeffihl nicht von
Katerstimmung vers chi echtert wird. (Nur so weitu) Im Sommer
durchschaust du die Torheit, dich zu verstromen. Arbeit schfindet.
Warum Bficher durchbl&ttem. Warum gar eine Kritik hin-
schreiben ; dartun, dass man eingesetzt ist ; und als ein Richt-
kfinstler siegen. Man kriegt Falten davon . . . und verscherzt
sich die Liebe vielleicht einer Stupfnase mit zartbuschigem
Brauenstrich.
,,Atmen will ich : und mich nicht opfem. Ich weiss, dass ich,
im Februar, dennoch dazu gebracht bin : mein gelbrotes Blut
zu vemichten ; weisse Teile zu kriegen ; mein Herz zu ver-
stromen, — warum? um einer Musik willen, die ich sChuf, in
drei Seiten stabiliert, dereinstens als Versiumnis erkannt: um
kfirzer zu leben als die goldene Vampyrschar meiner ffir feme
Zeit gezeugten Worte.
Der Genussmensch
* 3 :
„ Arbeit sch&ndet. Dort nahen die Weltschlemihle (Michel.
Angelo, Beethoven) ; die grossen Halbmenschen — und werden
meine Gefahrten : fur eine Dressur, uns auferlegt von unsicht-
baren Vivisektoren, zu einem vielleicht geringen Dungzweck,
dem wir pathetische Worte leihen."
191 1 (..Theater des Erfolgs“) — : „Man versaumt die
Zeit mit dem ganzen Beruf : sofem er nicht ein Mittel ist,
mir frohes Bewusstsein zu bringen, den Reiz des Atmens zu
verzehnfachen. Manchmal artet er leider zum Selbstzweck aus ;
zum Sport ; zum besinnungslosen Drang — mit allem Vergessen.
der wahren Ziele des Hierseins, der Wunder dieses einmaligen
Falls. Oft steht nodi etwas mystischer Glaube dahinter an ein'
Unverlorensein dessen, was einer hier einmal erreicht, errungen v
in die Welt gesetzt hat — fiir alle Ewigkeit. ‘ ‘
Also Theorien, verwandt mit denen Wulfens. Auf die Schluss-
wendung aber scheint es mir anzukommen. Ich bin des Glaubens:'
dass man zugleich ein Sommer- und ein Wintermensch ist.
Zugleich ein Koster und ein Koch. Ich bin des Glaubens: dass
Rufe solcher Art bloss Rufe der Sehnsucht sind im Kampf
eines Harrenden — welcher den Kampf liebt, auch wo er ihn
nicht liebt. Ich bin des Glaubens:. dass fiir Menschen keine
Moglichkeit ins Kom zu werfen ist .nicht einmal die, den Tod
abzuschaffen; noch die Zuversicht, beim Vergletschem dieses
Aufenthalts den Inhalt unseres Erreichten auf einen bessereh
Stem zu tragen. Dieses ,,Trotzdem“ ist Ehrenpunkt — schon
weil es ( Verzweiflung zugestanden, Sehnsucht zugestanden) be-
sondre Genussklassen aufschliesst.
Wulfens Werk bringt eine Genusslehre nach dem Stand
heutigen Wissens. Er ist von Geburt H<dldnder, lebt id der.
Schweiz und hat sein fesselndes Buch deutsch geschrieben.
Kerr
Die prassenden Romer pflegte der Anblick eines . um die Tafel-
runde herumgebotenen Schddels zu • hitzigerem Drauflos-
schmausen anzufeuern. Der Totenkopf predigte : , ; Kurz ist das
Leben. darum sputet Euch mit dam Genuss.“ Fast noch eindring->
licher scheint mir zu skrupellosem Leben aufzufordem : der
Gedanke an. die Todesstunde der Menschheit, die Vorstellung der
erkaltenden Sonne und des im .Eis erstarrenden Erdballs. Viel-
leicht hatte es noch einen Sinn, und, wire nicht eitel Schwdrmer-
torheit, sich und seine Freude der Menschheit und ihrer Kultur
zu opfem, wenn diese Kultur ohne Ende dauerte, und die darauf
verwandte Lebensarbeit von Ewigkeit zu Ewigkeit sich steigernde
Lustzinsen und Zinseszinsen triige. Doch Kultur ist kein totes.
Kapital, das sich von Jahrhundert zu J ah r h under t hoher haufen
*4
Der Genussmensch
lfisst ; sie ist ein lebendiges Gebilde, das w&chst, bliiht und ver-
welkt. Die Rose unter meinem Fenster bliiht ein paar Tage,
unsere Menschenrasse, wenn es hoch kommt, ein paar Jahr-
tausende ; der Rest wird Staub sein. Und selbst wenn eine neu
emporgeklommene Rasse ttberreste unseres Wirkens wieder ans
Licht herausscharrte und sich zu Nutzen machte, so wird such
fur dieses Geschlecht die letzte Stunde einst schlagen, und
unwiderruflich wird kommen der Tag, da mit dem letzten Menschen
der letzte Kulturrest vermodert. Welch erbirmlicher Schlussakt
und sch&biges Endresultatl Lohnt sichs da wirklich, den Riicken
unter Pflichtenlasten zu kriimmen und Lebenslust und -drang
einem Werk zu opfern, das wie ein Rauch verweht, ohne eine
Spur im Weltall zu hinterlassen ? Mdge dies tun, wessen breiter
Eselsriicken zum Lastentragen geschaffen ist, oder wer fiir
irdische Plage auf zehnfachen Entgelt im Jenseits rechnet. W i r
aber sagen : Morgen leben wir und unser Geschlecht nicht mehr,
darum wollen wir heute leben ! Von anspruchsvol lerer Art, als
Roms Epikurier, deren Wahlspruch hiess : „Lasst uns essen und
trinken, denn morgen sind wir tot“, wollen wir nicht nur mit
Gurgel und Gaumen, sondern mit alien Organen des Leibes und
der Seele schwelgen und schmausen und das Gelage des Lebens
durchjubebi, solange der Tag wihrt.
*
Welch frevelhafte Gesinnung und riicksichtslose Lebens-
maxime !
Nicht wahr, Ihr Tugendbolde? Und doch wiirde vielleicht
ein Lot dieser Genussweisheit dem ganzen Menschengeschlecht
nicht ubel bekommen ; denn wieviel Lust hat dieses Geschlecht
durch seinen wahnwitzigen Kraftaufwand bis heute errackert?
Wird nicht auch u n s e r e Kulturbilanz mit einem kliglichen
Defizit schliessen, mit einem horrenden tlberschuss von Jammer
und Weh iiber ein bisschen Augenblicksbehagen und Kultur-
komfort ? Von jeher lebten die Eltern fiir ihre Kinder, und diese
wieder fiir die ihrigen, e i n Geschlecht miihte sich ab fiir das
kommende, und e i n Jahrhundert fiir das nachfolgende. Jeder
Generation wuchs der Trieb zu wirken und fiir die Zukunft zu
sorgen anmassender ins Fleisch und Blut, und vor lauter miihe-
vollen Vorbereitungen zu immer weiter auslangendem Leben
Der Genussmensch
15
blieb niemandem mehr Ze it zum Leben selbst und zum Lebens-
genuss. Das Heute, das einzig unser Prinzip ist, muss sich dem
unsicheren Morgen op fern, und das Morgen dem Obermorgen ;
die Gegenwart gibt sich hin fur die Zukunft, und diese wiederholt
das Spiel, schaut stets nur nach vome. Zum Fest des Lebens
*
sind wir alle geladen, aber wer denkt ans Schmausen und guter
Dinge sein ? E i n Zeitalter plagt sich ab um das andere, den
Festsaal noch besser zu schmucken und die Tafel noch reicher
zu decken, bis der kaum genippte Festwein zu Essig geworden,
und niemand mehr da sein wird, an den iibertruffelten Lecker-
bissen sich zu ergotzen. Ist das nicht n&rrisch ? doppelt n&rrisch ,
weil der Moderne so sehr auf den Nutzen erpicht ist und das
kleinste materielle Profitchen mit Yirtuosengeschick zu ergattern
versteht. Doch was niitzt all der Nutzen, wenn sie es verlemten,
in Lust ihn zu wandeln ? Nicht ein letztes Ziel soil er ja sein, nur
eine Hilfe dazu : ein Lust-Versprechen und -Guthaben, eine
Briicke, ein Spnmgbrett zur Lust. Aus jedem alten Knochen und
schmutzigen Lappen weiss unsere Technik noch Nutzen zu
schlagen, aus der Technik selbst und dem ganzen Kulturbetr ie b
frohlockende Lebenssicherheit und schnalzende Erdenlust zu ge-
winnen, das versteht niemand. Eine schnurrige Welt 1 Um
fettere Beute aus dem Leben zu holen, ward unter tausend Op fern
ein ungeheuerlicher Kulturapparat erdacht und erschaffen ; statt
nun zum Entgelt fur die immer muhevollere Bedienung und Hand-
habung dieser monstrosen Natur-verkauenden Maschinerie
reicher zu warden an Lust und Gluck, erleideh sie im Gegenteil
noch t&glich Einbusse am einzig realen Gut : der Freude zu leben.
Erst seufzten sie unter dem herrischen Zwang der Natur ; dies
Joch ist entzwei, dank Wissenschaft, Technik und Kunst.
Offiziell spreizt sich der Mensch nun als Herr der Schdpfung ; in
Wahrheit promovierte der Sklave der Natur zum Lakaien der
Kultur.
Doch was hilft das Lamentieren, gescheiter ist es, dariiber zu
lachen ; wenn sie nur den Hohlklang der Worte und nicht die
wirkende Kraft der Sache begehren, wenn sie zufrieden sind,
mit Phrasen von Freiheit und Menschheitswiirde im Maul, den
Riicken zu kriimmen und gehorsame Diener und dUpierte Narren
*
Der Genussmensch
16
ihrer eigenen Gemachte zu sein, wer soil es ihnen wehren, immer-
zu, immerzu 1
* *
*
Du meinst, die Lippen seien nicht inuner zum Lachen erbotig.
Auch im Leben eines Genussmenschen gebe es tragische Stim-
mungen und Anwandlungen von Mitleid mit den armen Teufeln,
die ihres Daseins nicht froh werden. Oft fehle nicht viel, und Du
schemes t Dich Deiner Freude inmitten der Freudlosigkeit, die
Dich umd&mmert, und der Triibsal, die Dich umseufzt. Nur keine
Sentimentalitaten , mein Junge ! Soli sich wirklich das Gesunde
vor dem Siechen, das Schdne vor dem Hasslichen, die Lust vor
dem Leid schamhaft verkriechen ? Denke daran, es gibt kein
grosseres tlbel als den Widerspruch, und keine diimmere Dumm-
heit, qJs das Ziel zu wollen und den einzigen Weg zum Ziel zu be-
kritteln. Wer Eierkuchen begehrt, muss Eier . zerschlagen, und
nur ein sentimentaler Wirrkopf sucht Kultur zu schmausen, ohne
Jammer und Weh mit in den Kauf zu nehmen. Lass Dir doch vbn
diinribartigen Schw&rmem, die an der Welt her umstochem , nicht
das Geschichtchen vom „ Gluck fur Jedermann“ auf-
schwatzen. Lust und Schmerz sihd mm einmal die Pole, um die
sich unaufhaltsamen Schwungs das animalische Leben dreht, um
zu immer vollkommeneren Formen sich emporzuwirbeln. Kultur
aber ist nichts anderes, als dieses Lebens Hochschwung und Weit-
sprung ; Kultur ist Natur durch Arbeit zum hochsten Genuss
prapariert. Wie? soil nun im Treibhaus ein ander Gesetz
herrschen als im Urwald, soil, wo rohe Lust zu frohlockettder
Freude und schmelzendem Gliick sich gesteigert, nicht auch der
Schmerz zu Kummer und Verzweiflung sich vertiefen? Ein
Gegensatz am andem sich scharfen und zuspitzen ?
Wen logisches Denken nicht von der Konstanz des Massen-
wehs iiberzeugt, der lasse sich durch Experjmente bekehren. Seit
1500 Jahren bekennen sich die Vdlker Europas zu dem Gotte, der
da sprach : Liebe Deinen Ndchsten wie Dich selbst. Die Emsten
und um ihr ewiges Heil Bekummerten unter den Menschen haben
seither unter Gebet und Arbeit damach getrachtet, dies Gebot zu
er fiillen und den Armen und Ungliicklichen beizustehen. Das
Der Genussmensch
1
i
i
Resultat all der Liebesmiihe ist, dass die Welt arger von Elend
qualmt und stinkt als je. Wer noch klug werden kann, l&sst sick
i
durch diese Lektion der Jahrtausende belehren und erkennt,
dass Not und Triibsal zum eisernen Bestand des Kulturinventars
gehdren. ... Er wird gewahr, dass das Leid sich nur
vertreiben lasst, um in anderer Form wiederzukebren.
Die eine Zeit kennt es zumeist als Leibesnot und Kriegs-
geschrei, die andere : vergeistigt und verinnerlicht, als Seelen-
qual und Herzenspein; die Maske wechselt, zugegen ist es
immer. Der einzelne mag sichs mit unerhortem Aufwand von
Geist und Gut wohl vom Leibe halten, das Menscbengschlecht im
ganzen, niemals. Je raffinierter eine Kultur, und auf je steilere
Hohe gespomt, desto raffinierter aucb das Elend des Kultur-
maschinisten-Proletariats. Obne Sklaverei keine Bliite antiker
Kunst, ohne Leibeigenschaft kein Ritter turn, obne dicht sich
drangende Heere verkiimmernder Handarbeiter und Hirntag-
lohner keine zum Dienst des Modernen eingespannten und zum
*
Aufwarten befoblenen Naturkrafte. Solange die Welt bestanden
hat, war die Crdme einer Kultur noch nie fur den grossen Tross
mit dem dicken Fell und dem stumpfen Him, vielmehr von jeher
nur fur die schmale Auslese einer dunnhiiutigen und skrupel-
losen Kultur- Aristokratie, die mit fein und hart geschliffenen
Rasseorganen die hochgehauften Schdtze einer iiberreifen Zeit
zu unerhorter Macht oder Lust zerrieb.
Ob Dir das traurig erscheint oder nicht, kummert mich wenig ;
denn nicht zu f ii h 1 e n heisst es gegeniiber der unabSnderlichen
Notwendigkeit, — es gilt zu h a n d e 1 n. Wer ein Mann ist,
hartet sein Herz ab und zwingt Empfinden und Denken, mit dem
Massenelend der meisten sich abzufinden, wie mit Tod und Alter
und Winter und Nordwind. Einem jeden das Seine. Dem
briinstigen Heisshimger und Fieberdurst nach Lust, die Natur
und Kultur zum Genuss serviert ; dem weichen Gemiit, die Ge-
nugtuung, an Unheilbarem herumzusttimpern und fur Kruppel
sich selber zum Krtippel zu leben.
Versteh mich wohl. Auch ich kenne das Mitgefiihl und achte
I
es an anderen, doch mit Leidenderi zu leiden ist nicht meine
Sache. Ich lasse die Toten ihre Toten begraben und die Ungluck-
PppffWWWWW'WW*'
18 Der Genussmensch
lichen den Ungliicklichen beistehen. Aber wenn meine Seele den
bedringenden Schwall der Freude nicht mehr zu fassen vermag,
lass auch ich ihn hiniiberspritzen in die Seele des N&chsten, und
suche dem iiberwallenden Gluck Ablauf in die Herzen der Mit-
menschen. Meine Freude heischt Mitfreude und Lustgenossen
mein Festjubel. Urn dieser Freude stets die Fiille zu haben, muss
ich reich sein an Kraft und Geist und Personlichkeit ; ich darf an
nichts sparen, was meiner Eigenart und Genusskraft zur Atzung
und Kraftigung dient . . . Was wird aus der Palmenoase, die
ihr Wasser aus torichtem Mitleid mit dem Wiistenrand teilt ? Die
Palmen verdorren, und die Wiiste bleibt Wiiste.
Auch ich bin ein Garten in der Wiiste, eine Oase von Lebens-
freude auf diirrer Heide der Freudlosigkeit. Statt die Giiter, die
mir zu Lust und Leben verhelfen, mit anderen zu teilen und selbst
kiimmerlich zu darben, will ich zu immer weiterem Umfang mich
recken und im Uberfluss schwelgen. Nicht meine Mittel zum Ge-
nuss verschwend ich an andere, wohl aber die Freude, in die ich sie
umwandle.
Tue es mir gleich, und nimm Dir das Recht, mit Deiner
eigensten Miinze zu zahlen. Und wenn in den Ebbestunden der
Lebenslust mitleidende Schwache Dich anficht, so denke an die
Palme, die eigensiichtig nur fur sich selber lebt und doch Tausende
letzt. ... 1st die Lebenssucht weitsichtig und stark genug, Deine
Personlichkeit zu formvollendeter Fiille auseinanderzubreiten,
so wie der blinde Lebensdrang den Dattelkern zu Palmwedelpracht
entfaltet, dann leb auch Du getrost voll unersattlicher Genuss-
sucht Dir selber ; es kommt sicher die Zeit, da auch andere Dirs
danken. Denn perlt Freude in Dir, geht Deine Umgebung nicht
leer aus ; Du mehrest ihre Lust, wahrend der Mitleidige nur
U n 1 u s t mindert. Du machst Gliickliche gliicklicher, und jener —
Ungliickliche nur weniger unglucklich. Der Tugendhafte schenkt
Hab und Gut, der Meister im Lebensgenuss: eigene Personlichkeit.
Christenideal ist das der eigenen Notdurft abgeknauserte Witwen-
scherflein ; unser Ideal : uberquellende Fiille, die zur eigenen
Lust sich ausschiittet, ohne zu fragen, ob sie Schweinen zur Mast
oder Konigen zur Labung diene.
Bin Weltereignis
Ein Weltereignis
Von HERMANN ESSIG
Ein Mausepaar sah einem freudigen Ereignis entgegen.
„Geh hin,“ sprach die M&usin zum Mauserich, ,,und kund-
schafte, ob du irgendwo einen fetten Ort findest, der mich mit
tneinen kleinen Mauslein lange gut ernahren wird.“
Der Mauserich driickte ihr einen Kuss auf die Schnauze und
begab sich auf die Reise. ,,Dass du nicht zu lange ausbleibst,“
sagte sie noch, „und gehe ja nicht in die Falle. (< ,,Nein, nein,
ich kofflme gleich wieder, “ sprach er.
Er kletterte und rutschte durch alle Engpasse und Fluren
des Hauses Nr. 96 empor, schliesslich roch und duftete es in der
dritten Etage bei Stanges nach einer Unmenge schoner Blumen,
dem reichen Abfall von Kiiche und Tisch, der uberall zerstreut
lag. Freudig erglanzten Mauserichs Augen , hier wollte er seine
Traute herbr ingen, damit sie die Kleinen zur Welt brachte.
Schleunigst wollte er umkehren und seiner Frau von dem
Lande kiinden, damit sie mit ihm herzoge. Wie’s aber so
geht, an einem Punkt dieser Landschaft blieb er stehen, um sich
noch einmal umzuschauen. Da floss ein rauschendes Wasser,
•das gurgelnd in die Untiefe kollerte. Auch fiel ein helles Licht
neben ihn. Er verkroch sich in den Schatten, da sah er eine
Riesengestalt vor sich, die schnell wieder verschwand.
Er zitterte liber diese Erscheinung und blieb in stillem Bangen
sitzen, ob hier wirklich so gute St&tte sein wiirde. Wahrend ihm
alles iibrige recht wohl gefallen hatte, hier war es wild romantisch;
-das grelle Licht und die tosenden Wasser. Endlich wollte er wieder
fur bass gehen und seiner Frau Meinung dartiber horen, aber
da erschien wieder die Riesengestalt, und es hielt ihn fest in Angst
und Bangen.
Nun zog aber wie von Zephyrdiiften gefachelt plotzlich
ein siisser Duft um seine Nase. Bald stellte er fest, dass hier
in der Nahe das ihm bis jetzt verborgen gebliebene Eden
liegen musste. Als die Riesengestalt auch diesmal gliicklich
-wieder verschwand, wurde er beherzt und neugierig, dem Ur-
sprung des Duftes nachzuziehen.
Wohl iiberkam ihn ein Gefiihl, als horte er die Worte, die
-seine Traute beim Abschied zu ihm gesprochen hatte, „ Artur,
jgehe mir ja nicht in die Falle, gelt, geh mir nicht in die Falle,
**
f
20 Ein Weltereignis
passe gut auf.“ ,,Nein, nein, was denkst du, ich gehe doch nicht
in die Falle,“ batte er dann gesagt. Komisch, dass er's jetzt im
schonsten Augenblick so sehr lebhaft dachte. Er machte eine
die jetzige Wirklichkeit klarstellende Bewegung, indem er den
Kopf durcb die beiden V order fiisse strich. Und da stiess er auch.
schon an etwas, ganz leis, das ein grosser Speck war, das war
es, ja, der Speck hypnotisierte ihn, es schauerte ihn, es knickte
und klatschte, er wollte den Schwanz einziehen. Das ging nicht,
er stiirzte zu Boden und hdrte das tosende Wasser. So lag er
eine Weile gerade ausgestreckt mit eingeklemmtem Schwanz,
ganz unbewusst.
Da erschien wieder die Riesengestalt, er wendete nicht den
Kopf nach ihr, denn jetzt erkannte er sie, sie hatte ihm das Un-
gliick gebracht. Es war Frau Stange, die gerade ins Bad steigen
wollte.
Frau Stange drehte den Wasser hahnab, dasTosen verstummte.
Der Mauserich fiihlte sicfa angehoben wie auf schwankendem
Aeroplan. Frau Stanges Stimme gellte schrill: „Die Maus, die
Maus, ich hab sie, ich hatte mich doch nicht get&uscht, es war
eine Maus.“
Und ein Haufen kleinerer und grosserer Riesengestalten kam,.
Frau Stange warf ein Badetuch um sich. Ein Geschrei und
Larmen wurde, es ging in die Liifte gehoben durch R&ume und
Hande, Augen, Brillen, bis wieder ein Stillstand kam. Da sah.
sich der Mauserich umgeben von Tellern und Tassen, in seiner
N&he sah er eine blaue Flamme, worauf ein Kessel mit Wasser
kochte.
Ob dies ihn betraf — ?
Es iiberkam ihn ein Zustand von Wursthaftigkeit, er begann-
sich seine Lage anzusehen. Allerdings, er war in die Falle ge-
gangen. Da heraus kommenl Er biss um sich, das war
harter Draht, so ging’s nicht. Sein Schwanz war freigemacht,
offenbar von Frau Stange selber. Vielleicht konnte er auch
hoffen — I Er setzte sich recht timid hin und wartete, er gab sich
als einen, der nicht auf drei zahlen kann, dem man ruhig die
Zellentiir offnen konnte, der selbst dann nicht entflohe aus
der siissen — verwiinschten — N&he des Speckes jener dummen
Sau.
Frau Stange kam von neuem auf ihn zu, er sah sie recht
treuherzig an und putzte sich sogar. Frau Stange l&chelte ihm
zu. Oh wie er jetzt hoffte und an seine Traute, an dieses Wieder-
sehen dachte!
Aber bald verlor er wieder die Hoffnung, Frau Stange loschte
die Flamme aus, hob den Kessel vom Herd und schrie lauti
Sin Weltereignis
„Wer will noch einmal die Maus sehen!“ Es larmte und grohlte
«in Haufen daher, ein Eimer wurde auf den Boden gesetzt, der
Kessel wurde hineingeschiittet, es qualmte und dampfte. Die
Stimme: ,,Totet das siisse Mauslein nicht!“ wurde iiberhort. Dem
M&userich krampfte es das Herz ; ,,wenn das ihn betraf — o
Traute!* 1 , wShrenddem ihm viele vergniigte Gesichter Liebes-
Tvorte zufliisterten „du susses Mauschen“. Ach, beim Blick in
i
<len Dampf des Eimers auf dem Boden misstraute er dieser Lieb-
kosung der Riesen.
Wahrhaftig, es gait ihm, es ging in den Abgrund, er fiihlte
-die[Nahe des heissen Pfuhls, kletterte verzweifelt in die oberste
Ecke der Falle, ein Pfiff entrang sich ihm ,, Traute susse“,
-ein kalter Ruck, und ein glatter Leichnam wurde aus dem
Jieissen Sud gezogen.
Wie abscheulich! alles schiittelte sich in Grausen vor dem,
•welchen man soeben noch siisses MSuschen genannt hatte.
Die Klappe der Falle wurde geoffnet und Arturs Kadaver aus
der dritten Etage in den Hof geschleudert, nachsten Morgen beim
Kehren vom Portier — mit einem Fluch gegen oben gefunden,
mit einer Zange in den Mullkasten getragen, wo er sein Grab
fand.
Frau Stange badete selbige Nacht ihren Lebensnam, schnee-
weiss, gedachte beim Erinnern an die Maus nur der einzigen
Interessantheit, dass am Leichnam die Maus deutlich als Mann
zu erkennen war, um den es immerhin schade war.
* *
*
Die Mausin gramte sich, warum Artur nicht zuriickkam.
Spatestens um zehn sollte er wieder da sein, weil man das Haus
schloss.
Sie fiihlte schon die zwanzigbeinigen Stosse der Kleinen in
ihrem Bauch, und es hatte not, bald das Nest zufinden. Triibselig
king sie den Kopf. Die letzten Strassenbahnen rollten schon
voriiber, er kam nicht.
Sie konnte ja nicht ahnen, dass ihr schoner Mann nicht
allzuweit von ihr in so schaudervollem Ansehen auf dem Hof-
pflaster lag. Aber da ihm doch irgend etwas zugestossen sein
musste, machte sie sich schliesslich auf, ihn zu suchen.
Leicht fand sie den Weg, den er hingegangen war, an vielen
Orten hatte er ein Exkrement als Wegzeichen und Andenken
hingesetzt. Mit Freuden passierte sie immer wieder so eine
St e lie, wo etwas von ihm lag. So war er also doch so weit ge-
kommen! Da fand sie ihn vielleicht noch, am Ende hatte er
Ein Weltereignis
sie bloss geschwind aus Fresssucht, die sie an ihm kannte,
vergessen. Irgendwo hockte er und schlemmte! Immer mehr
vermutete sie dies, und ihre Sorge, er konnte in die Falle
gegangen sein, schwand.
Wie sie boch oben bis zur drittenEtage gewandert war, verloren
sich des Liebsten Spuren in der Ebene. Mit einer gewissen ehr-
furchtigen Scheu trat sie in das Land ein, wo sie ihn bei leckerem
Mahle zu finden ganz bestimmt hoffte.
Sie fand bald viele Platze, wo er gewesen war. Aber ihn
selbst fand sie nirgends. Sie pfiff ihm in diinnem, nur seinem
Ohr vernehmlichem Ton. Da wuchs ihre Sorge wieder, da gar
nie eine Antwort erfolgte.
Besonders an einer Stelle, wo sie jetzt ankam, befiel sie
tiefe Angst. Da bog ein Wasserrohr ab in die Wand, da lagen
Haare, wie er sie hatte. Eine getrocknete winzige Pfiitze, als
wenn er hier nach ihr geweint haben miisste.
Sie wimmerte, dass ihre zappelnde Brut in ihr bebte, hastete
unruhig herum, ging gedankenlos an alien Schonheiten und
Verlockungen vorbei, trube den Kopf hinabh&ngend.
Schliesslich gab sie’s auf, ihn zu suchen. Sie musste sich ein
Nest zurichten an einem Ort, wo sie niemand vermuten und
storen konnte. Dazu erwahlte sie sich einen grossen Schrank.
Mit fieberhaftem Eifer begann sie ein Loch in den Schrank zu
nagen, dann wollte sie innen irgendeine Rocktasche benutzen,
um in ihr das Wochenbett durchzumachen.
Das Loch gedieh erfreulich rasch, und sie konnte hoffen, in
zwei Nachten freien Eingang zu haben.
Plotzlich fiel ein Lichtschein an ihr voriiber, und sie wurde
ganz still. Es liefen schwere Tritte wie von Riesen, dann wurde
die Schranktiir laut knarrend gebffnet. Das Licht erlosch
wieder, und sie wollte gerade das Nagewerk fortsetzen, als eine
siisse Speckluft sich um sie legte und sie umkreiste.
Da war eine Falle hingestellt worden!
Woher sonst sollte auf einmal der Speck kommen ?!
Sie horchte gespannt und hbrte nun fliistern.
Herr Stange sagte zu Frau Stange: „Ich glaube, dass sie so
nicht in die Falle geht, das merkt sie. Es war fur die Katze,
extra in die Kiiche zu gehen, den Speck anzubrotscheln, die
Falle zu stellen, nur um sich kalte Fiisse zu holen.“
Aber obgleich Traute auf der Hut war, so bangte sie
doch vor der Gefahr, denn ob sie vom Geruch weglief oder ihm
entgegen, vermochte sie nicht zu entscheiden. Eines wusste
sie jetzt, dieser Duft war ihres armen Mannes Verhangnis ge-
worden.
i
Ein Weltereignis
Mit Enttauschung sah die gespannte Mausefalle unter Frau
Stanges Schrank hinab, als sagte sie: „Gott, kommst du nicht
endlich.“ Die Falle stand offenbar hier nicht richtig, sie blieb leer.
Im Stangeschen Haushalt irrte nun Traute, wohl reichlich
Nahrung, aber schlechten Unterschlupf findend, umher. Kein
Mensch . bemerkte unter Tags ihre schwangere Anwesenheit, die
sonst im Leben mit so viel Anstossen und Naserumpfen schleunigst
an holden Repr&sentantinnen bemakelt wird. Trotz dieser Un-
gestortheit wurde es der irrenden Traute immer verzweifelter
zu Mut. Die Kleinen in ihr wollen gar rummer Ruhe geben,
oft fiel sie geschwinde hin. Es wurde Zeit zum Neste.
Herr Stange setzte sich der Kiiche gegenuber gerade an den
Tisch und feierte Halbmond, indem er in der dunklen Seite sass
und die Kiiche erleuchtet war. Er dachte so gut wie nichts,
sah viehnehr ins Helle. Seine Frau n&herte sich ihm tastbar,
es ware vielleicht zum Kusse gekommen.
Aber Herr Stange stand auf mit Emporung: „Soeben lief
in alter gemiitlichen Frechheit langsam eine riesengrosse Maus
von der Eimerbank zum Abwaschschrank, es ist doch unerhort!
Wir haben jetzt also richtig M&use. Nicht mehr ausnahmsweise
eine Maus, nein, , M&use* haben wir!** Frau Stange schlug entsetzt
an ihre Brust.
Man lief zur Falle und pr&parierte den Speck. Mit J&gergenie
stellte Herr Stange die Falle auf „den Wechsel" der Maus. Da
musste sie in Sekunden gefangen seinl
In der Kiiche roch es zuf&lig sehr stark nach verbranntem
Pflaumenkuchen, dass jeder andere Geruch darin ersticken
musste.
Frau Stange bezweifelte darum die Wirkung des Specks,
aber Herr Stange hielt daran fest: „Mit Speck f&ngt man M&use.**
Die Falle stand.
Die Rettung des verbrannten Pflaumenkuchens nahm alle
Hande sodann in Anspruch.
Es musste verhext sein, es schnappte und klappte, es schien
kein Augenblick. Die Maus musste direkt auf den Speck ge-
wartet haben.
Herr Stange frohlockte mit hocherhobener Jagdtroph&e, die
zur schweren H&lfte aus der Falle heraushing.
Die Gefangene &chzte: „Verfluchter Pflaumenkuchen, der
mir die Witterung genommen hat!*' Aber mit Speck f&ngt man
M&use, frohlockte der J&ger, hab ich’s nicht gesagt ?!
Im Gliicke seiner Einfalt befreite er durch leises Anheben der
Klappe die Maus — die eine Kapitalmaus war — aus ihrer
Schmerzenslage, und Traute huschte vollends in den K&fig hinein.
Ein Weltereignis
Frau Stange, welche durch ihre Kunst im Pflaumenkuchen-
backen eigentlicb die Schuldige an der Maus Schicksal geworden
war, hatte den Pflaumenkuchen vom Blech geldst und eilte nun
herbei.
Traute und Frau Stange sahen sich an. Mit einem Blick 1
Er hiess: „Wir sind schwanger.“
Eine Maus, die Junge kriegt, ist es, erhob sich ein Jubel.
Die sperrt man diesmal ein! Die Kinder freuten sich schon der
jungen Miuslein. Und man wiinschte nur den getoteten M&userich
wieder zuriick.! Hatte man ihn nicht getotet, jetzt hatte man
die schonste Familie Maus beieinander.
Traute schien zu verstehen und hockte mit ihrem dicken Leib
k
in der Falle.
Es war cun dritten Tage, nachdem sie ihren Mann verloren
hatte.
’ I
Frau Stange sah recht oft und innig zu ihr in die Falle: ,,Dein
armes Mannel erlebt deine Freude an deinen Kinderchen nicht
mehr.“ Es wurde den beiden Frauen recht weh urns, Herz und
sie schlossen schnell Freundschaft.
Traute liess . die Zuckungen ihres Leibes beobachten und
liess ausrechnen, wie lange es ungef&hr noch dauern werde.
In einem alten Einmachglas, das mit einem durchlochten
Bohnerwachsdeckel zugedeckt war, stand sie schliesslich mitten
auf dem Tisch beim Abendbrot, Friihstiick, Mittagessen.
Zum Schein freute man und ergdtzte sich an ihren reizenden
Bewegungen, in Wahrheit warf man gierige Blicke auf den
Bauch der Gefangenen, ob’s bald losginge.
Traute bekam die besten Sachen kredenzt, aber sie nahm
ausser einem kleinen Brockelchen mit Milch keine Nahrung zu
sich. Ein Extra- Aufzug fur Milch, der ins Glas gearbeitet wurde,
machte nicht einmal Eindruck auf sie. Dann driickte sie oft
so eigentiimlich, als miisste sie husten, sass immer triibseliger
und zwinkerte mit den Augen.
Frau Stange liess kein Auge mehr von ihrer Gefangenen ,
sie . zweifelte nicht, dass die Maus in Wehen lag.
Und es fiigte sich, dass man zu Tische sass und die Tisch-
genossin im Glas das erste Junge zutage forderte. — Gerade,
wie wenn eine Katze auf einem Sandhaufen sitzt und -1
war der Anblick.
a
„Das geht aber einfach,“ rief Frau Stange.
Die Maus frass nur nach dem Ereignis die Blutteile vom
Jungen ab und beleckte es. So ging es funfmal. Es war das.
,appetitlichste‘ Spektakulum im Stangeschen. Den Kindern
war das Ereignis durchaus so am verstcindlichsten, um so mehr,
■*
Bin Weltereignis 25
als die Andeutungen, dass es beim Menschen gerade so gehe,
nicht fehlten.
Mit der Zeit fiel es jedoch auf, dass die Jungen sich gar nicht
ruhrten. Man schritt zu ihrer naheren Untersuchung. Da ergab
sich, dass Trautes Kleinen alle erst halb entwickelt und sie
samtlich Fehlgeburten waren.
Da schmeckte das Essen denn doch nicht mehr recht in
der Nahe dieser Kindsleichen. Jedoch hielt Herr Stange es fur
gahz falsch, sich den Appetit verderben zu lassen, sondern
erklarte vielmehr, dass dies ganz einfach „eine Friihgeburt sei,
welche Erscheinung auf die Quetschung der Maus dutch den
Deckel der Falle zuriickzuf uhren sei — wie bekanntlich auch beim
Menschen, wenn Unglucksf&lle usw. .
Es schmeckte nach solcher Offenbarung zwar nicht besser,
immerhin konnte man wenigstens die Maus abtragen, denn
die medizinische Wissbegier war vollauf befriedigt. Das Theater
war fur diesen Abend ganzlich uberfliissig geworden.
Traute beschaftigte sich mit Aufraumungsarbeiten, die Jungen
stopfte sie unter die Holzspane, welche man ihr ins Glas gegeben
hatte. Nur das Erbarmlichste von ihnen liess sie in seinem
embryonalen Aussehen an dem Rand des Glases kleben, wahr-
scheinlich zum Hohn der Beschauer.
Miihselig und geschwacht kletterte sie herum, so dass sie
Erbarmen genug fur sich erweckte, sie, die arme Mutter, nicht
den Tod durch Ersaufen sterben zu lassen wie den Herrn
Gemahl .
Dieser Maus, die man leiden gesehen hatte, musste die Freiheit
geschenkt werden. Fiir sie war die Freiheit ein Recht geworden,
lautete der Beschluss der menschlichen Gesellschaft.
Also gut. Fr&ulein Stange wurde beauftragt, den Inhalt
des Einmachglases auf die neue Rasenpflanzung der Parkstrasse
auszuschiitten. Dreiyiertel neun Uhr, es war schon Nacht ge-
worden, stieg sie mit Wonnegefuhl hinab, Jemandem, wenn’s auch
bloss eine Maus war, die Freiheit schenken zu diirfen.
% *
Vom hohen Balkon schauten die anderen hinab.
Jetzt schiittelte sie,! sofort rannte die Maus da von, weg von
ihren Friihgeburten.
Aber was war’s!
Eine Katze!
Niemals war sonst hier eine Katze zu sehen. Jetzt war sie
da, axis dem Bauzaun herausgekommen wie von der Vorsehung
hierhergesetzt, die Maus, fiir die voll Grossmut die Freiheit
praludiert war, zu haschen.
Die Katze trug die Entbundene im Maul in den Neubau
Ein Weltereignis
hinein, ihr dort den Garaus zu machen, und so die erste Leiche
dort niederzulegen.
Nur noch mit schwachen Zuckungen seufzte Traute das
letzte Gedenken an die schone Flitterzeit einst mit Artur samt
den dabei gehegten Hoffnungen.
Es war vorbei.
Am n&chsten Morgen zogen die Besenweiber auf, den Rasen
zu kehren. Eine von ihnen klaubte das Holz, worauf die Maus
geboren hatte, in ihre Scburze. Vielleicht wurde auf dieses Holz
sp&ter noch ein Zuckerhase geklebt, da das Brettchen schon
einmal rot war.
Dann kehrte das Weib den Rasen, und die M&usebrut spritzte
vom Besen in den Rinnstein der Strasse.
Herr Stange philosophierte dariiber, ob es Zufall war, dass
hier die Katze dem Menschenwillen in die Quere kam, oder ob die
allgemeine Weltweisheit hier gescheiter gewesen sei als der
Mensch.
Wenn die Herzen dieser Mauseleben auch wirklich fiir ein-
anderschlugen, so war dieser Ausgang diesmal das Beste.
Die Braut
Die Braut
Von RICHARD WOLFGANG WORTON
(Ulm)
Wiisst’ ich Eines doch nur gewiss
beim Eingehn in die Finsternis,
mein Liebster Du!
Dass Dir ins Herz gedrungen,
als ich Dich sterbend umschlungen,
die Seele der Braut zu schauender Ruh.
Drum kann ich nicht aufhoren
mit brennenden Kiissen.
Ich stiirb ja so selig,
konnt’ ich nur wissen,
dass alles Leben und Leiden Dein,
kams Dir ins Herz hinein,
mich darin f&nde,
lebendig nur Dir, tot fur das Andre.
Halt mich! Gib mir deine HInde!
Kites’ mich! Trauter! heisser noch!
Siehst du’s denn nicht :
dass ich still nun von dir wand’re?
**
Baukrach
Baukrach
Das Wort von den unbegrenzten Moglichkeiten musste oft
dazu dienen, Glaubige zu werben fiir die Beteuerung der Terrain-
und Bauspekulation, dass der baulichen Ausdehnung Berlins
keine Schranken gesetzt w&ren . . . Wer nicht daran glaubte ,
dass alle Kartoffelfelder zwischen Berlin, Luckenwalde und
Stettin sehr bald mit vierstockigen Mietskasernen bebaut sein
wiirden, dent fehlte das Verst&ndnis fiir die Entwicklungstendenzen
unserer Zeit. Wer gar vor wenigen Jahren von einer Ueber-
spekulation auf dem Baumarkte sprach, war
nach dem Urteil der Leute von der Terrainzunft ein unwissender
Narr.
Zwar begann die letzte Krise mit einer Stagnation der Bau-
tfitigkeit; als aber der Terrainmarkt sich dusserlich behauptete,
wurde jubelnd verkiindet, dass eine neue Periode bluhender
Baukonjunktur nahe bevorstehe. Nur die Geldverteuerung im
Jahre 1907 war nach den Erkl&rungen der ,,Praktiker“ das
Hemmnis fiir den weiteren Aufstieg.
In schneller Folge sanken die Sfitze fiir Leihgeld, doch ein
wirklicher Verkehr im Terrainhandel blieb aus. (Waren im
Jahre 1906 im Berliner Baugewerbe zi6 655 Personen beschdftigt,
so sank diese Ziffer im Jahre 2907, das noch zum iiberwiegenden
Teil im Zeichen einer guten Wirtschaftslage stand, auf 99 956
Personen und im Jahre 1908 auf 89 676 Personen.) Auch die
Zahl der Neubauten hatte in den Krisenjahren einen Ruckgang
orfahren, — — behauptet hatten sich nur die hohen Berliner
Terrainpreise.
* *
*
Knappheit an bauf&lligen Terrains in Berlin war zu allerletzt
die Veranlassung dieses Beharrens der Bodenpreise, das Angebot
war erdriickend, — wahrend von einer Nachfrage ernstlich
iiberhaupt nicht gesprochen werden konnte. So miisste man
schliesslich an ein Wunder glauben, wenn nicht die Lehre von
der Preisbestimmung durch Angebot und Nachfrage bei solchen
Yerh<nissen ein Marchen ware. Durch das formliche B o den*
m o n o p o 1 , das die Grossbanken fur Berlin und seine
Vororte mit den Jahren erworben haben, wenn sie in den
Grundbuchern auch nicht als Besitzer der ihrer Kontrolle
unterstehenden Terrains eingetragen sind, war die Aufrecht-
erhaltung dieses widerspruchsvollen Zustandes moglich. Nur
auf die kolossaleBeteiligung der Grossbanken
an der Terrainspekulation war es zurftckzuftihren,
dass die Krise auf dem Baumarkt nicht l&ngst zu stiirmischen.
Ausbriichen gefiihrt hat. Private Kapitalisten hatten unter der
Ungunst der Konjunktur und des Geldmarktes l&ngst kapitulieren
miissen, die Banken allein vermochten durch ihre Finanzmacht
die enormenEngagements durchzuhalten und
neue darauf zu haufen.
Um ihr Programm, mehr gezwungen als freiwillig, durch zu-
fiihren, sahen sich die Grossbanken gendtigt, neue Terains
zu ubernehmen, denn dasAuftretenjeder
storenden Konkurrenz musste verhindert
w e r d e n. Am deutlichsten dusserte sich diese Taktik bei dem
Erwerb des Tempelhofer F e 1 d e s , dessen Besitz sie
unter Aufbietung aller ihrer Verbindungen und Krafte erkampften,
um die R e g u 1 i e r u n g d e s Terrainmarktes in
der Han id zu behalten.
Eine Erschliessung des Tempelhofer Feldes
etwa durch die Stadt Berlin (ob sie die Bebauung
selbstandig vorgenommen hatte , wenn ihr das Feld zugeschlagen
worden w&re, ist allerdings eine andere Frage) h & 1 1 e a 1 1 e
Berechnungen der Banken uber den Haufen
geworfen. Deshalb nahmen sie auch diesen Komplex,
obwohl sie nicht wussten, was sie mit den riesenhaften Terrains,
die sie schon vorher besassen, anfangen sollten . . .
Ihre Terrainbeteiligungen ftihrten dazu, dass sie alle Institute,
die Hypothekengelder zu vergeben haben, in ihren Dienst zogen.
Versicherungsunternehmungen und Terraingesellschaften stehen
' unter dem Protektorat der Banken in engster Verbindung — und
die Hohe der Beleihungstaxen wird gleichfalls den Interessen
der Banken angepasst.
h
* *
*
Selbst in den Jahren vorziiglicher Borsenkonjunktur blieben
die Terrainaktien von den allgemeinen Kurssteigerungen un-
beriihrt, sie konnten nicht nur keine Aufwartsbewegung erzielen,
ihre Kurse sind vielfach noch weiter gewichen. Dem
verehrlichen Publikum will man plausibel machen, dass sich
darin die Folgen der Wertzuwachssteuer dussem, nachdem ihm
vorher erz&hlt worden war, dass nach der Annahme des geplanten
Steuergesetzes die Zuriickhaltung derSpekulationsicherschwinden
B&ukrach
wiirde. Seit langem ist den Terraingesellschaften
eine nennenswerte V e r k a u f s t a t i g k e i t un-
moglich gewesen, obwohl es an krampfhaften Be-
miihungen zur Belebuag des Geschaftes nicht gefehlt hat. Unter-
lassen haben die Banken nichts, Bauleben in die Terrainmassen
hineinzubringen .
Hoch- und Untergrundbahnen wurden errichtet und neu
projektiert, grosse Grundstiicke fiir Kirchen und
Amtsgeb&ude werden verschenkt, nur um die
Erschliessung zu lordern. Viele Kampfe um die
Strecken neuer Bahnen sind nichts weiter
als die Versuche der S p e k u 1 a t i o n , d i e ver-
schiedenen Stadtverwaltungen zurUnter-
stiitzung ihrer Bodeninteressen zu zwingen.
Aber das sind Hilfsmittel, die nicht mehr verfangen, um zahlungs-
fahige Kaufer in genugender Zahl heranzuziehen. Die Gesell-
schaften fordern fur ibre Terrains wahre Liebhaberpreise , sie
miissen sie fordern, denn sie haben ihren Besitz selbst zu
ausserordentlichen Preisen iibernommen, zumeist aus den
H&nden der Banken, die bei den Griindungen in Gestalt von
Zwischengewinnen den grossten Teil der Rentabilit&tsmdglichkeit
vorweggenommen haben.
* *
♦
Der Geschaftsbericht des Verbandes der Batigesch&fte von
Berlin und den Vororten fur 1910/1911 weist in knappen Worten
auf die gewiss nicht neue Tatsache hin, dass die Baustellen
haufig zu Preisen veraussert werden, die zu dem wirklichen
Wert der Grundstiicke in der betreffenden Gegend in keinem
Verhaltnis stehen . . . Da zahlungsfahige Kdufer derartige
Kaufpreise in den allermeisten Fallen nicht bewilligen, treten
an ihre Stelle kapitalschwache Existenzen, die nun bauen und
vielfach wahrend der Ausfuhrung des Baues in Schwierigkeiten
geraten. Das Grundstiick kommt zur Zwangsvollstreckung,
die Handwerker fallen mit ihren Forderungen aus. Es hiesse
die Verhaltnisse beschonigen, wenn man nicht ausdriicklich be-
tonen wollte, dass dies der N ormalzustand im Berliner Bau-
gewerbe ist.
Nur unter solchen Bedingungen liess sich die Baut&tigkeit
in dem bisherigen Umfange erzielen. Schon Oktober 19x0
wurden in Gross-Berlin 65 000 leerstehende Wohnungen und
1 1 000 leere Geschaftslokale gezahlt; das sind ca. 6 pCt. aller
JRdume. Mit dem Friihjahr 19x1 setzte eine verstarkte Bautatigkeit
Baukrach
3i
ein, die nur dazu fiihren konnte, die Ueberproduktion noch zu er-
hohen. Es muss fortgebaut werden, um wenigstens
den Schein einer Bewegung auf dem Terrain-
markt hervorzuruien, obgleich die Erschliessung
jedes neuen Gebietes eine Entwertung eben erbauter Strassen-
ziige nach sich zieht.
Bei der Erkenntnis dieser Zusammenhange ist es nicht ver-
wunderlich, dass die grossen Terrainspekulanten bei der im Frii ti-
ling 1910 in zahlreichen Provinzorten erfolgten Bauarbeiter-
aussperrung auch den heissen Wunsch spiirten, die Aussperrung
in Berlin eintreten zu lassen. Damit ware die Bautatig-
keit zum Stillstand gelangt, die Spekulation
h a 1 1 e Atem schopfen und den Besitzern von Terrain-
aktien mit riihrender Stimme erzahlen konnen, dass die Arbeiter-
schaft die Einstellung jeder Bautatigkeit gerade in dem Augen-
blick verschuldet babe, in dem sie sich herrlich entfalten wollte.
Verhindert wurde die Verwirklichung dieser Kalkulation
durch den Widerspruch der noch vorhandenen
soliden Baugeschaf te, die Arbeiten fur
fremde Rechnung ausfiihren und die bei der besseren
Wirtschaf tskon j unktur im Jahre 1910 sich ihr Geschaft nicht
unterbinden lassen wollten . . .
So wurde und wird die Ueberproduktion weiterbetrieben.
Doch immer naher kommt die Zeit, in der solche Wirtschaft
nicht fortgesetzt werden kann; in der die ganze Baumisdre zum
Ausbruch kommen muss.
Wenn die Banken in einer Periode all-
gemeinen Niederganges der Konjunkturdie
Terrain- und B a u s p e k u 1 a t i 0 n nicht mehr
wiebisher zu subventionierenin der Lage
w&ren, — dann wurde der Baukrach sich mit
Donnergepolter entladen. KRITES
Vive la bagatelle 1
Swift
PHILIPP EULENBURG
Kaum dass der , ( blode Eulenburghander ‘ gestreift worden ist, so
steht gleichlautend in Bl&ttem der Linken und Rechten die Meldung :
der Meineidsprozess wider den Mann wird jetzt, im Oktober, vor dem
Landgericht stattfinden. Warum? , , Beobachtungen, die im Laufe des
Sommers von Kriminalschutzleuten und von Angesteilten eines Detektiv-
bfkros vorgenommen wurden . .
Auch von Angesteilten eines Detektivbtiros. Neugierig ist man, wer
sie bezahlt ; Herr von Holstein, welcher den An griff machen liess, ist
ja tot. Bericfatet wird, „dass Eulenburg, sobald er sich unbeobachtet
weiss, sehr munter ist und keine Symptome einer emsten Erkrankung
zeigt“. Es handelt sich um ein Verkalken der Adem. Der nicht
wachsende Umfang dieses Siech turns ist durch das Opemglas ermittelt.
So sich der Forscher nicht auf Gehorswahmehmungen verliess, auf das
Knacken der durch inneres Ablagem verkalkten Blutgeffisse. Die Detektivs
haben an der Herzarterie weder ein auf Entfemungen erheblichesBummsen
noch Rasselknirschen festgestellt. Eulenburg ist ,,munterer“, wenn er sich
unbeobachtet fiihlt ; ein schwerkr anker Greis wird so lange munterer sein,
wie er Folterer nicht in der N&he glaubt. Er zeigt keine Erregung, wenn
er allein ist : sie zeigt sich seltsamerweise dann erst, wenn sie ihn wieder
aufjagen. Und eigensinnig wird er nicht frQher tot umfallen, als bis man
ihn zur Verhandlung schleppt.
Es kann der Wunsch im geringsten nicht sein : dass ein Eulenburg
besser wegkommt als andere. Son dem: dass andere so gut wegkommen
wie ein Eulenburg. Auf seinem Verhalten steht die Todesstrafe nicht.
Wenn er eidbriichig war, ist er hineingeschreckt, hineingeekelt worden.
Anstindige Geschworene w&rden ihn freisprechen.
Es gab noch unl&ngst eine Zeit, wo wachsender menschlicher Verstand
das Los der Gleichgeschlechtigen altruistisch ansah. Wildenbruch half
mit seiner Unterschrift, Straflosigkeit vom Gesetz fur sie zu fordem.
Der Irrtum des Gesetzes lebt weiter.
Auch dieser Irrtum darf erst nach klugen Wahlen auf Beseitigung
rechnen. Kerr
DER PAN- BA HN- B ANN
Die k. Polizeidirektion von Mfinchen hatte keinen Bescheid auf
ein Telegramm gegeben, welches fragte : ob wirklich in Bayern der
Panbahnbann verhangt ist. Der (freundlich zustimmende) Bescheid
kam, als das Heft gedruckt war. ' Er sagt am Schluss :
Die Verzogerung der Beantwortung der gesch&tzten Anfrage,
welche durch die Abwesenheit des zust&ndigen Referenten entstand,
bitte ich zu entschuldigen." Die Anfrage entstand durch die Abwesenheit
des Referenten ? Nein ; ein Irrtum des Ausdrucks. Gemeint ist, dass die
Verzogerung dadurch entstand. In jedem Fall : dieser Punkt ist von
der k. Polizeidirektion hoflich und angemessen erledigt.
if
Arnold Schonberg - Corinth und Leistikow
In der Sache selbst herrscht ein Irrtum, . . . der zur Aufhebung des
Verbots fiihren muss. Erlassen ist es ,,im Anschluss an die friiher er-
folgten Beanstandungen, insbesondere der Nummern 6—8 vom Januar
sowie an die im Juli d. J. erfolgte, die Nummer 7 betreffende gerichtliche
Verurteilung' 1 .
Nun ist aber die Nummer 8 niemals beanstandet worden ! Zweitens :
die Nummer 6 ist vom Gericht freigegeben worden ! Drittens : die Ver-
urteilung wegen Nummer 7 ist nicht rechtskrSftig — wegen eingelegter
Berufung. Also ?
Femere Teile der Begriindung stiitzen sich wohl auf einen ( unvoll-
kommenen) Zeitungsbericht ; auch hier besteht ein Irrtum ; die Auf-
hebung des Verbots ist selbstverstandlich. Die gesetzlichen Schritte,
sie zu erwirken, sind getan.
Die Frage, ob eine einzige — nicht rechtskr&ftige — Verurteilung
(welche den mangelnden dolus anerkennt und wegen eines Klassikers er-
folgt) zu einem glatten Verbot auf den flir die Offentlichkeit bestinunten
Bahnen hinreicht, braucht somit nicht erortert zu werden.
Wurde das Verbot vom Zentrum gewiinscht : so dQrfte sich unsrer
gerechten Sache der Abgeordnete Am Zehnhoff annehmen. Er hat mit
Herm Hubert von Schorlemer verhandelt und hier gezeigt, dass er auch
einem Mitgliede des Zentrums gegeniiber Distanz wahren kann.
Kerr
ARNOLD SCHONBERG
Der Aufruf im jungsten Panheft, dann einer in Wien, durch
den Schuler Alban Berg vorbereitet, haben rasch gewirkt.
Eine nach mehreren Tausenden rechnende Summe kam zu-
sammen.
Arnold Schonberg ist bereits in Berlin eingetroffen.
CORINTH UND LEISTIKOW
Lovis Corinths Buch ,,Das Leben Walther Leistikows“ *)
beriihrt in der gegenwirtigen Zeit so eigentiimlich, dass man
es nur mit einer gewissen Ruhrung aus der Hand legen kann.
Ein echter Corinth. Wie er mit breiten Pinselstrichen seine
Bilder zusammenbringt, unbekummert um Liebe und Hass, so
setzt er bei seinem Totenmonument Stein auf Stein, und auf
ein bischen mehr oder weniger Rustika kommt es ihm dabei
nicht an.
Diese Art der Kunstschreibung ist nur Erde und greifbares
Fleisch.
*) Verlag Paul Cassirer.
Freisprechung - Heiliger des Oberfltis sigen
Corinth hat nicht lange Zusammenh&nge gezeigt, noch hat
er die beliebten ,,Ausblicke“ gegeben. In lapidaren S&tzen hat
er nichts geboten als Tatsachen.
Er zeigt LeistikowsWerden, K&mpfen und Wirken — und stellt
ihn vor uns hin, wie er war in seiner Liebenswiirdigkeit und edlen
Menschlichkeit, als einen Unersetzlichen.
Die Kunstschreibung sollte enthusiastisch sein, oder sie
sollte nicht sein.
PHILIPP FRANCK
FREISPRECHUNG
Am 2. September war in Berlin abermals eine Verhandlung : wider
Herbert Eulenberg und den Pan. Diese Ausdrticke ! „Verbreitung un-
zfichtiger Schriften." Wer die Dinge nicht kennt und soiche Nachrichten
best, muss denken, dass der PAN ein Schweineblatt ist.
Langsam erf&hrt man hintennach, es handle sich nicht urn einen
joumalistischen Widerling, noch um einen budapester Clauren, sondem
um Flaubert und um den Rheinl&nder Herbert Eulenberg. Nicht wir
machen dem Pan den Ruf eines — u&h ! — schlOpfrigen B lattes, sondern
die Polizei. Von der berliner Polizei war die Klage durch Denunziation
bewirkt worden.
Pan war bei den Griechen ein unanst&ndiger Waldgott ; auf dieser
etwas verschollenen Vokabel lisst sich der Irrtum von Zeitungslesem
draussen geme nieder. Pan heisst aber auch : alles, was hier unten
vorgeht ; Luft ; Gluck ; Offenheit ; Emporklimmen verfeinter Menschen-
seelen. Der Waldgott gehort zwar dazu : doch nur dazu.
Die Richter von Berlin haben den Pan freigesprochen. k.
■■
■
OBER-BARNUM UND KYTHERA
Im vorigen Heft war Herm Hardens neuer Kitzelversuch — Ober-
barnim und Kythera — umrissen worden. Ein Berliner Blatt (es ist
kein unbeschriebenes Blatt'; wenn auch ein ungel esenes) trachtet, sich
einzumischen. Der Herr Verfasser dieser Ausserungen ist ein wegen
seines Wirkens an der „Grossen Glocke* ‘ vorbestrafter j unger Mann,
gegen den ich nur hofliche Worte brauche : ftlr den Fall, das ich seinen
Stsl vor Gericht untersuchen lasse. Vor allem jedoch kein Ablenken
von dem edlen Benefizianten, welcher einen der deutschen Eckarte
wdchentlich darstellt und die U nsittlichkeiten Andre r „rtkgt << .
Kerr
HEILIGER DES t)BERFL(IS SIGEN
Der Kongress ftir vergleichende Rechtswissenschaft, ein Laienschreck,
hatgetagt. Die Zeitungen wurden voll . . . Dabei haben in der politischen
Philosophic die Vorgeschritteneren seit langem erkannt, dass, genau so wie
der „Geschichts“-Rummel seit Savigny, die neue Errungenschaft „Rechts-
Meyrink englisch
35
i
verglei chung “ ein fauler Zauber, gunsti gstenf alls ein Sport ist. Sein-
sollendes ISsst sich aus Seiendem eben nicbt ableiten. (Gustav Radbruch,
h
Professor in Heidelberg und weisser Rabe, hat das als erster unmiss-
verstandlich ge&ussert.)
Ob Arbeiter geschhtzt, Morder gekopft, geschlechtlich Abnorme ein-
gekerkert werden sollen oder nicht, kann niemand in der Art eruieren, dass er
die Rechtssatze emsig zusammenstellt, die uber Arbeiter, Morder, Abnorme,
in Frankreich, Montenegro, Beludschistan, in Wyoming, Costarica und
Neuseeland gelten. Sammeln und Ueberlegen, Wissen und Denken — das
ist nun mal zweierlei, und Sitzfleisch ein unzuldngliches Surrogat fur
Gehimschmalz.
Es ware denkbar, dass bei samtlichen Kohlerschen Urvolkem (die
Polynesier eingeschlossen) , ja sogar in alien Staaten der zi vilisierten Welt
etwas identisch geregelt ware und dennoch das richtige Recht das Um-
gekehrte verlangte. Die Erfahrung (l/tmtpa) kann notwendige
Z w e c k e nie lehren ; hochstens M i 1 1 e 1 , welche nutzlich sind, um
Zwecke (die feststehen) zu erreichen. Der Empirismus ist daher fur die
Kardinalprobleme (Z i e 1 e der Rechtsordnung) ein Missgriff, eine Zeit-
verschwendung ; fur die sekundaren hinwieder nur dann von Bedeutung,
wenn er Statistik mit umfasst ; denn ob ein Gesetzesparagraph als Mittel
taugt, erfahrt man nicht durch seinen Wortlaut, sondem durch seine
Wirkungen.
Aber von Statistik ist bei den iiblichen Vergleichereien selten die Rede.
Ama llerwenigsten in der , , vergleichenden Darstellung des deutschen und aus-
l&ndischen Strafrechts 44 , jenem, sofernmich nicht alles t&uscht, dreizehn-
tausendsiebenhundertachtimdneunzig B&nde starken Werk, welches die
,,Vorarbeit 44 zum neuen Strafgesetzbuch gebildet hat. Je hundert Brillen
haben je hundert Jahre transpiriert, um diesen „vorbereitenden Schritt 44
zustande zu bringen : eine legendare Begebenheit. Wir Deutschen sind
Heiliger des Ueberfliissigen ; wir brauchen ungeheure Umwege, um zu
einem schlechten Gesetzentwurf zu gelangen.
Wenn unsere Ururenkel den neuen Kodex endlich haben, wird
die Wissenschaft um viele Zentner bereichert sein.
K. Hi.
MEYRINK ENGLISCH
Schonherrkarl ist hundertemal gespielt worden ; Meyrinks Bilcher
haben im ganzen, wenn richtig gerechnet ist, zwolf Auflagen. Seine
Bucher sind also von den Fimftausend oder Sechstausend in Deutschland
gekauft worden, die wissen, was sie an diesem Glas- und Eisenfresser
haben. Er ist in unsrer Welt gehort worden ; diese Welt ist etwas klein;
dass sie anderswo grosser ist, scheint unsicher. Glaubt Meyrink, den
wir verehren, bei Englands literarisch besonders tiefstehendem Publikum
bessere Beachtung zu finden ? Hochstens . . . dass die Okkultisten
dber das Buch kommen. Und da sei Gott vor.
Tu.
36
Ein Idealist
EIN IDEALIST
Der Botschafter Hill ist ein solcher. Im Augenblick von Tripolis
gegen Macchiavell und Riimelin I Er spottet : ,,Der Kern dieser Be*
weisfiihrung ist, dass es nicht , Selbstsucht' , sondem .Patriotismus' sei,
wenn Armee und Marine in Bewegung gesetzt werden, um ungerechte
Anspriiche oder noch unerfiillte WQnsche von A. B. und C. zu erzwingen,
und wenn X., Y. und Z. solchem Vorgehn Beifall klatschen und die Rech*
nung bezahlen." (Aber Mann 1) . . . „Verewigung eines Irrtums . . .**
(Zeit, dass er von Berlin wegkam 1) . . . „Esscheint im Gegenteil
die tlberzeugung im Wachsen begriffenzu sein,
dass die S t a a t s p o 1 i t i k in Cbereinstimmung mit
d e m Moralgesetz stehen sollt e.“ (Lassen rich ausstopfen I
Oder nach Herzberge 1 )
Dieser Yankee redet immer weiter, immer weiter, als konne man
eines Tags auch Staaten zu anst&ndigem Verhalten verhalten (Aber
was ist ihm, he, Cuba?) . . . Er redet, dass man von Bfirgem, die gesetzlich
empfinden, „nicht best&ndig verlangen kann, ihre Kraft zur Beraubung
anderer — herzugeben ‘ ' . (Ausstopfen. Und ins Zeughaus.)
Hills Anrichten erklingen jetzt in deutscher Sprache, bei Fleischel .
Sendungen fOr den poHtlsdien und den llterarlsdien Tell rind zu adrarieran
firunewald, 6nelststrasse 9 ;
Leitung des Pan.
Sendungen, weldie die blldenden KQnste betreffen:
Berlin W.10, ViktoriastrasseS.
L _ . _
; POr UnTerlangtes keine Biirgschaft*
Verantwortlich fOr die Redaktion: Wilhelm Herzog, Berlin- Halenaee.
(Alfred Kerr zeichnet verantwortlich filr die Ton ihm verfassten Beitrige.)
Gedruckt bei Imberg A Lefson G. m. b. H. in Berlin SW. 68.
TTTn
-Haleneae.
Wollen Sie Oeld zu rlskleren Ihre Schmarzen
wtc Rheumatism us, Hexenschuss, Kopfschmerzen etc. beseitigen Oder vorbeugen*
dass dieae Schmerzen ^ ^ ^ AMOL htlft ticber
flberhaupt erst auf- BB ^B ^B^B B und soforft
kommen?Ja,sogehen ^V^R ^B B unter voller Oarantle.
Sie In die n&chste Apo- ^^^B B^^^B ^R ^HB Betrag wird zurflck-
theke Oder Drogeiie BBI ^ B ^B^B ^Bngezahlt, falls Sie un-
und fordern Sie: BalB B BBzufrleden sein sollten.
Preis 50 Pfg., grbssere Flaschen Mk. 0.75, Mk. 1.25, sogenannte
Familienflaschen Mk. 3.50. — In Apotheken und Drogerlen crhaltlich.
Metternich und Cyrenaica
Metternich und Cyrenaica
Von ALFRED KERR
►
m
I.
AuBendeutschland, Innendeutschland . Durch Mettemichs Daw
sein, Wandeln, Blfihen sind Einzelheiten dffentlich geworden, —
die sonst in der entschwindenden Gloria des Lebens mit seinen
verstohlenen Wassern verduftet w&ren; inmitten dieses herz-
tausigen Schwarms, wo man einherscharwinzt wie ein Aft*
im Purpurkleid. Wo sie rosinenfarbene Gew&nder tragen. Und
ihr Gewissen beisst sie nicht.
Mein Vater hat gelogen, gelogen, gelogen, — schrie der
Metternich. Ich hasse meine Mutter, ich kann von dem Weib
nicht loskommen, — schrie Dolly, Mannsdolly. Nicht Richter,
nein Scharfrichter, — schrie die Gattin, deren Mitgift (vom Herz-
berger) der Graf kontrolliert. Schutz dem Privatleben vor Ge-
richt, — schrie der Konkurrenzanwalt. Ich kaufte Perlen auf
Teilstrecke, — schrie Elvira; eine Bfisserin, sonst Machta Gustke
genannt . . . Durch des jungen Metternich Bluhen sind Einzel-
heiten dffentlich geworden, die sonst in der schwindenden Gloria
des Lebens fiber den verstohlenen Wassern verduftet wiren — in-
mitten dieses Schwarms, wo man herumscharwanzt wie ein Aff
im Purpurkleid; wo sie rosinenfarbene Gew&nder tragen; und
ihr Gewissen beisst sie nicht.
II.
r
Ich schlag* dich auf den Kopf , dass du eine Gehirnentzfindung
kriegst, rief die Mutter; und Gott liess eine Tanne wachsen ffir
mein Kind, schrie sie auch. Beides geffihlt; bloss in zwei
getrennten Augenblicken. Sind bei andren Menschen die
Stimmungen anders? Oder nur die Ausdrficke? Doch ; auch. die
Stimmungen. Nicht jeder verfolgt Mutterchen, Schwieger-
vaterchen, M&nnchen, Schwiegermutterchen bis an die Pforten
38. Mettecnich und Cyrenaica
der Holle, sogar des Zuchthauses. Steht hier eine koschere
Lucrezia Borgia ? Nein: bloss eine Schriftstellerin ; mit geldsterer
Phantasie; mit ger&umten Hemmnisaen; und mit gescheffeltem
Geld. Der edle Brutus hat euch gesagt, dass sie Toll Strebsucht
war. Sie hat den Stil derdeutschen Heimat mitgemacht. Sie tat, was
die gesamte, zu Geld gekommene Oberschicht unseres Lindchens
tut: bloss pechhafter; bloss ungeduldiger ; bloss offener. Heraus-
gekommen ist es. Empordringende Spiesser, Schwiegerv&ter,
Pretzenkriecher, werft einen Stein aui sie.
Zwei Gehimhautentziindungen hat sie nachher dem Grafen
angewunscht. Drei Gehimhautentziindungen dem Herrn von
Vetter. Eine halbe Gehimhautentziindung dem Schriftsteller
Paul Goldmann. Abersonst? Sitten des Landes mitgemacht.
Sie kamen diesmal zuf&llig heraus.
Und sie war ein Opfer des Berufs; denn sie schrieb zuvor
Gesellschaftsberichte. Leben und Dichtung wurden eins bei ihr.
Sie tat, was sie malte. „Ich sehne mich nach einemBlatt, welches
die Erbftrmlichkeit des gegenwdrtigen Burgertums zerpeitscht ...
ErbSrmlichkeit eines Radikalismus , der nach einer Achtel*
Generation s&mtliches Gliick in einer feudalen Familienverbindung
sieht.“ Ich schrieb diesen Satz im ersten Hefte des Pan. Die
Zeitungen, auch linke, deren Aufhellungsarbeit hoch zu schatzen
und nicht entbehrlich ist, reichen Standesamtliches aus der Adels-
welt; aber mit Takt, ohne gemeine Kritik, und behaglich ange-
weht, falls eine mesopotamische Mitgift an einen Kavallerietrottel
gelangt, — welcher der Eignerin ihren ernst beseelten, fragenden ,
stilleii Popo mit der Reitpeitsche vollhaut. Das fordert solche
Sitten von Kohlenjuden, Borsenjuden, Aeroplanjuden — und von
*
Stahlprotes tauten . Gertrud Wertheim , unsere Fachgenossin, schrieb
fiber diese Gesellschaft (keiner von der Gegenpartei kann ein paar
anstindige Zeilen wie sie zusammenbringen, Gott liess eine Tanne
wachsen!) , sie atmete beim Schreiben die Luft unseres Vaterlands;
Heimat empordringender Maurermeister. Leben und Dichtung
ward eins. Harmonie des Gedankens und der Tat. Sie winkt einem
der Aristoi , — defsich von Frauenzimmern ihre frisch verdiente
Scheide-Miinze pumpt. Auch andren Edelleuten, wie dem Grafen
Vetter, . . . der eidlich sagt, dass er bei Wertheim kaufmdnnischen
39
Mettemlch und Cyrenaica
Unterricht genommen, um seine Bildiing zu erhohen, nur deshalb ;
der sich bei FrauWertheim nicht untitig dieKaldaunen yollhieb,
sondern yon ihr ein vorgestrecktes Taschengeld bekam yon
monatlich tausend Mark. Dieser Gasthat f urMettemichgunstig
J edenfalls bekam Machta Gustke Geld fur das Vermieten
ihres Unterleibs ; den hierftir eingestrichenen Betrag erbettelt
-sich der Graf, um beim Freien der kiinftigen Grafin die Wiirde
seines Standes zu decken. Dann: um an einer Feindin Rache zu
nehmen, rief er, dass er ihre Tochter gekiisst; ,,stundenlang“;
mit dem sorglichen Beiftigen: „sie lag auf einem Diwan“. Die
Frage hiess yon dort ab nicht mehr, ob dieser EdeUng Zeit-
genossen um Geld beschwindelt hat.
Zusammenhalt. Herr yon Pauly, ein alterer Krieger , vergass,
dass er Heiratsvermittler ist, als er den Kunden fur Heirats-
vermittlung herausreissen wollte, — er tat es nicht deshalb, er yer-
schwieg nur seine Beschftftigung. Ein Graf Schulenburg, Amts-
richter, hielt den Angeklagten schriftlich fur einen Gauner, —
•doch als ihm sein Geld yon Metternichs Frau (yom Herzberger) ver-
a
sprochen war, hielt erihneidlich ftir einen frommen Knecht. Dassind
L
unbewusste Stromungen, Stufungen, Begebenheiten, Charakter-
"wallungen, Ziige, welche sonst im Schatten bleiben, — aber doch,
darauf kommt es an, yorhanden sind. Der hinkende Teufel (beim
Lesage), welcher das Hausdach abdeckt und ldchelnd zeigt, was
dort im Dimmer an Haderhaftigem, Ulkigem, Stinkendem und
Blddem geschieht, darf bei uns nur an einem Gerichtstag ab-
decken. Sonst bleiben die Dicher drauf. Aber seid gewiss: der
aufgedeckte Zustand ist keine Ausnahme; nur das Aufdecken ist
i i
eine Ausnahme.
Folgerung. Jeder muss dem Abgeordneten Bassermann recht
geben, der yor kurzem geiussert hat (als Frondierer, vor der
Wahl) : wie boses Blut es machen wird, wenn die Rechte der An-
geklagten in Zukunft gemindert werden. Wenn das Erniessen
<des Richters gestirkt wird. Wenn der Angeklagte nicht mehr das
Recht haben soli, dass alle seine Zeugen gehort werden.
4 *
Metternich und Cyrenaica.
Boses Blut; ja. Nicht nur weniger Gerechtigkeit wird sein.
Es kommt auch weniger Wissen zutage. Die Gerichte werden
(unbewusst, hab’ ich ausdnicklich gesagt) st&ndische Gerechtigkeit
machen. Ein Fall Singer wiirde bestimmt offentlich verhandelt-
Ein Fall Schonebeck bestimmt geheim. Die Fftlle der Rechten
▼orwiegend unter dem Schutz des Familienlebens. Weil oberster
Grundsatz {hr innere Politik ist: sterbende Welten zu stiitzen,.
lebende zu zwacken.
IV.
Als Entgelt miisste dafiir die Zeugenpflicht auch den.
Wohlhabenden auferlegt werden. Sie sind heute frei davon. Wer
Geld hat, braucht nicht zu erscheinen.
Vier nicht unwichtige Zeugen, Frau Wolf Wertheim, Herr
Harden, Herr Landsberger, Dolly Pinkus waren . . . nicht nur
gleichzeitig erkrankt, sondem auch gleichzeitig ins Ausland ge-
gangen.
Herr Harden, welcher zu seiner Erholung verreisen musste,.
bedarf der Ruhe. Er war schon einmal weg und ist abermals
hinfortgeeilt, — um sich beim schlechtesten Wetter hartn&ckig
der Natur zu freuen. Und wfthrend sonst bei jedem, aber bei
jedem Quartalsbeginn durch Morrritz und E-Rina kitzlige
Personenmeldungen (die man aus den Zuschriften gekr&nkter
Amtsleberwiirste nimmt) weitergeklatscht werden: wfihrend-
desssen fiel es diesmal, wenigstens im Beginn des Abonne-
ments, weg.
Nachdem zwanzig Zeitungen Betbmann ersucht hatten, auf-
grund von Tripolis mit Frankreich abzubrechen, machte der edle
Benefiziant: ,,Sssst!“ und rief besorgt (nein, wie besorgt): „Kein
Wort iiber Tripolis ! ‘ ‘ Wihrend des Prozesses kein Wort iiber
Tripolis (sondem bloss eine Seite) — nicht weil er als invalider
Zeuge ausserstande war, vierun dzwanzi g Seiten (mit demselben
geringen Inhalt) vollzumachen; auch nicht, weil er „im Aus*
land“ einer anderen T&tigkeit obliegt: sondem deshalb, weil die
deutsche Menschheit, wenn er mehr sagte, geschadigt wiirde ,
nur deshalb, weisste. „Kein Wort soil die Verantwortlichkeit
Metternich und Cyrenaica
<les Mamies mindern , der sich zur Fiihrung der deutschen
Menschheit berufen glaubt“ (sagte er).
Es konnte scheinen, dass der Keuschheitswart die jiingsten
zwei Pan-Nummern im Anslande nicht gelesen. Dem ist nicht
ao. Er hat sie gelesen . . .
Durch den Zufall einer Hochstapelei werden Hauser abgedeckt.
Bedarf man solcher Zuf&lle, wenn jemand in den Zwischenakten
seiner geheimen Unappetitlichkeit offentliche Gestalten kraft Ober-
barnims und Kytheras mangelnder Sittenfii hrung beschuldigt — ?
V.
Aussendeutschland .... Wir hatten mit Italien einen
Bund wie mit Oesterreich, — und mit den Tiirken eine Freund-
achaft. Jedem der zwei Verbiindeten haben wir etwas ge-
achenkt: und wir bezahlten es mit dem Eigentum dieses dicksten
Freundes. Wir selbst aber haben nichts bekommen. Wir
achenkten dem Einen Bosnien, wir schenkten dem Andren
Cyrenaica. Beides nahmen wir dem Intimus. Nicht in boser
Absicht, sondern in deutscher Treue. (Wahrend das perfide
Albion ein hochst perfides Albion ist.)
Wozu waren wir mit der Tilrkei befreundet ? Hat sie uns
etwas gegeben ? Nein ; wir haben bewirkt oder gelitten, dass sie
Andren was gab. Wir machen uns verhasst — weil Andere
avas kriegen. Hohe diplomatischen Talentmangels. Treulos er-
acheinen; nichts davon haben: das ist deine Politik, das heisst
■eine Politik. Wir sind der gute Onkel — trotzdem der bose
Onkel. Und immer noch nicht der reiche Onkel.
Wusste die deutsche Diplomatic, dass Tripolis an Italien
'▼ersprochen war? Doch. Aber den Augenblick der Einldsung
nicht. Kiderlen ist kein Themistokles, der einen solchen Zwist
JherbeilUhrt. (Herr von Marschall hat ihn zu stoppen gesucht
— und die Verhandlungen uber Marokko sind nicht gekappt,
sondern beendet worden.)
Wenn aber Kiderlen heute betont, dass Italien etwas kriegt;
%
und hieraus Forderungen tiir uns ableitet: so wird man be-
kaupten, dass Italien w e g e n unsrer Forderungen etwas ge-
kriegt hat.
f
Metternich und Cyrenaica
VI.
Turken und Deutsche. Die konservativen Idealisten (die schon
■
fiir die Buren geschwfirmt . . . und nichts fiir sie get&n haben)
betonen jetzt die goldige Redlichkeit der Osmanen, den wackeren.
Wert ihrer neuen Gesittung. Infolgedessen ist es sicher, dass-
man sie im Dreck lassen wird. England und Frankreich strafen
*
die Jungtfirken wegen ihrer Neigung zu Deutschland — Deutsch-
land belohnt sie daffir durch Wegnahme von Tripolis und Bosnien.
Anarchismus . . . Und fiir Deutschland kam nichts heraus.
Bethmann- Holzweg, ein Politiker mit reichen Verfahrungen,.
darf allzu grausam trotzdem nicht beurteilt werden. Viele
Schuld liegt weit zurfick. Was haben er und Kiderlen fiber-
nehmen mfissen, nach zwanzig Jahren konservativer Pleite-
politik.
Was hat die Schar der Vorg&nger schon erduldet von
Bismarcks Zuschnitt unserer Verfassungl Bethmann und
Kiderlen fanden sich gerichtet, als sie noch pr&historisch waren»
I
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1 '
VII.
Aiissendeutschland. ... Das Feld der Politik ist nicht die
Welt, sondem die Weltabgewandtheit. Das Gebiet ist inter-
national, doch der Sehwinkel ein Krihwinkel.
Machthaber strfiuben sich gemeinhin gegen die Anarchisten..
Mit Recht. Schon solche, die nur sinnieren und keine Bomben
wollen, stecken sie hinter Zuchthausmauern. Sie selbst fiben
den allerdfimmsten, massigsten Anarchismus. Als Italien, das
ist schon so lange her, Tripolis nahm, wurde festgestellt: es gibt
nicht mal einen Verbrecherkomment. Es gibt keine Spitzbuben-
ordnung in Europa. Frevles Spiel; Rfiubertum; England und
Frankreich stehen ,,als Aufpasser im Gebiisch“, die gemeinen
Kerle, wahrend der ruchloseste, scheusslichste, brutalste, f rechste r
ein blondes Herz betrfibendste Raub vollzogen wird. In dieser
Art. Phrasen der Emportheit sind jedoch unter Anarchisten
wenig am Platz. Alles nur, weil Giolitti zum Heucheln keine Zeit
nimmt. Weil er die wider lichen Formen abkfirzt. Weil er keine
Depeschen redigiert. Sobald nur der Anarchist Giolitti etwas
Mettemich und Cyrenaica 43
e hr lichen Sinn ohne Umst&nde zeigt, knurren die andren
Anarchisten.
Die Ausdriicke fur dasselbe Ding sind abweichend. In Rom
platzt ein Sozialdemokrat, Defelice, vor Begeisterung. Alle
weinen. Heldentum. Vaterland. In Neapel offentlicher Gottes-
dienst zugunsten der Rechtsbrecher. Die heilige Jungfrau,
ein Muschelaltar unter freiem Himmel, Kerzen, Pfaffen,
Wedel, Sfinge. Der gefangene Direktor des Katholikentums l&sst
fur Anarchisten Gebete sprechen . . . er mag sie wohl fur
solche nicht halten.
Alles ist schon vor zweihundert Jahren prophetisch er-
schaut — von einem, der mit hellen Augen, der mit
hellen Augen die Welt . . . doch nicht ganz als eine so
dumme Kugel verliess, wie er sie betreten hatte. „Le merveilleux
de cette entreprise infemale, c’est que chaque chef des meurtriers
fait bdnir ses drapeaux et invoque Dieu solonnellement avant
d’aller exterminer son prochain/ 4 Ein franzdsisches Blatt,
„Le Monde Illustr£“, sammelte neulich Meinungen fiber den
gegenwartigen Kampfzustand. Ich schrieb die genannten S&tze
1
Voltaires.
Die Aender ungen sind nach zwei J ahr hunderten trotzdem
fuhlbar. Die Fortschritte. Nur, wie David Friedrich Strauss
findet : ,,Ungeheuer grosse Zeitr&ume, — ■ ungeheuer kleine
Fortschritte 4 '.
. . . Nieder mit den Anarchisten!
i
In dem deutschen Vaterland
Bist du, Herr, als Graf erkannt.
Sussholzlutschen,
Wonnekeuchen,
Und sie rutschen
Auf den Bauchen.
Koramst du aus dem Irrenhaus
Und als minderwertig raus,
Bist im Dalles,
Bist ein Schieber, —
Schadet alles
Nichts, mein Lieberl
Still steht Jedem der Verstand
In dem deutschen Vaterland;
Sussholz lutschen ,
Wonnekeuchen ,
Und sie rutschen
Auf den Bauchen.
Das M&rchen Ton Aila
Das Marchen von Aila
Von HERBERT EULENBERG
Der Dichter gedenkt im tiarfiafam
Monat ,,Kathinka die FIiege“ zu
veroffentlichen. In diesem Roman
wird sich das hier erscheinende
M&rchen yon Aila finden.
Die Menschen im MorgenUuid kennen diese Sage. Es war ein-
tnal eine schbne Stadt, Aila geheissen, und sie lag am Roten Meer
und war voll von Pal&sten und Moscheen. Schiffe mit bunten
seidenen Segeln lagen in ihrem Hafen und brachten Gold und
Ebenholz und Bernstein und Weihrauch und Spezereien aus alter
VSlker L&nder dorthin. Und es war ein ewiger Festtag iiber der
Stadt Aila. Und Harfner gingen durch die weissen Strassen
yom Morgenrot an bis in die blaue Nacht und spielten alle Herzen
heiter. Da ergab sich die ganze Stadt unter dem Kalifen Omar
einer noch grosseren sinnlosen Freude. Denn ihre Schiffe hatten
■iiber die feindlichen Nachbarn gesiegt und brachten ein grosses Ldse-
geld heim und das Gold und dasSilber lag wieFeigen auf demMarkte
herum. Und alle ergriff es wie ein Rausch, und sie buhlten unter-
-einander, Bruder und Schwester, und Eltern und Kinder voller
Raserei und schonten selbst der Tiere nicht in ihrer Wollust.
Und die Sonne schien gliihend fiber der Stadt wie fiber ein wildes
Haus der Freude. Da erhob sich der m&chtige Zauberer Mustapha
■yor allem Volk. Und er bedrohte sie und gebot ihrem wfisten
Treiben Halt im Namen Allahs und des Propheten. Aber sie ver-
lachten ihn. Und Morgane, seiner Schwestern eine, die leicht-
fertig und entblbsst sich unter den entarteten Weibem brustete,
zupfte ihn hohnisch am Bart. Und Achmed und Ibrahim, seine
Sdhne, wollten gar mit Bambusstaben nach ihm schlagen und
Ali Banu, sein Bruder, der Vezier bei Hofe war, warf ihn mit
einem Stein in den Rficken.
Als nun Mustapha den Zorn seines Volkes sah und seine Bos<
heit und seine Besessenheit, da wandte er sich seufzend ab. Und
Das M&rchen von Aila
er sammelte ein H&uflein Gerechter und Guter um sich, die nicht
Teil haben wollten an dem wtisten Treiben der Ihrigen. Und
Omar der Kalif briillte vor Lachen auf und liess sie ziehen,
wohin sie wollten. Und sie nahmen ein Schiff und fuhren ge-
meinsam auf das funkelnde Meer. Und Mustapha stand am Bug
I
der Galeere und sah im Abend die T urine und Kuppeln seiner
Vaterstadt sich roten. Und er weinte und verfluchte seine Heimat
. P
um der Sfinde der Seinigen willen.
Und sie fuhren an ein anderes Gestade und griindeten daselbst
*
ein neues bes seres Aila und machten Mustapha zu ihrem Kalifen.
Und blieben dort an die drei Jahre und ihr Wohlstand mehrte sich
langsam. Aber nach dieser Frist geschah es, dass den Mustapha.
eine unbezwingbare Sehnsucht befiel, seine alte Heimat und die
Seinen noch einmal zu sehen. Und er machte sich auf mit einigen
wenigen, die gleich ihm vor seinem Tode das alte Aila wieder-
schauen wollten. Und sie segelten zwei Tage und drei N&chte uber
das zitternde Meer, ehe sie anlangten. Sie waren sehr erstaunt,
dass ihnen kein Mensch entgegen kam, und wunderten sich noch
mehr, wie die Stadtmauern zerbrockelt und zerrissen und etliche
Tfirme abgebrochen und zerfallen, und dass kein Muezzin- von
den Galerien der heiligen Moscheen die Gl&ubigen singend zum
Gebete rief. Stumm warfen sie die Anker aus und refften die
Segel ein und stiegen schaudernd und bewegt ans Land. Sie
schritten immer fiberraschter durch den menschenleeren Hafen.
Der aber war verwahrlost und verschlammt und stand da wie eine
tote Lake. Und die Schiffe und K&hne waren darin verfault und
untergesunken und starrten nur noch mit ihren Kopfen aus dem
schwarzen Wasser oder trieben darauf ziellos wie Leichen umher.
Als nun aber Mustapha und die Seinen scheu die stille Stadt
betraten, sahen sie sich zu ihrem Erstaunen und Entsetzen
plotzlich von einer zahlreichen Schar von Pavianen umringt,
die sie traurig oder zomig anfletschten. Etliche aber unter ihnen
kamen mit ernsten Blicken auf sie zu und schmiegten sich
zartlich an sie und schauten sie bittend und rfihrend an. Da fiel
es von Mustaphas Antlitz wie der Schleier vom Gesicht der Braut
und er erkannte Allahs Strafgericht. Und er sprach die Af fin ,
die sich schwermutvoll an ihn druckte, voller Mitleid an: „Bist
1
Dos M&rchen yon Aila 47
du nicht Morgane, meine Sch wester , meiner Mutter Kind? 1 *
Und sie seufzte traurig, dass es ihre Brust fast zersprengte, und
bedeckte ihr Gesicht mit ihren H&nden und nickte darunter mit
ihrem Hundskopf.
Und Mustapha gewahrte Achmed und Ibrahim, seine beiden
Sdhne, unter der Affenschar. Sie liefen auf vier Beinen gleich
den andern und sprangen kindisch uber einen Bambusstab Oder
kratzten sich gegenseitig voll wehmiitiger Zdrtlichkeit. Mustapha
aber rief unter Tr&nen: „Kommt zu mir, Achmed, und du.
Ibrahim, mein Jungster. Was ist aus euch geworden, meine
geliebten Kinder ?“ Die beiden hiipften mit triiben Mienen auf
ihn zu, und leckten ihm die Hdnde und reichten ihm ihre Pfoten
und schrien schluchzend: ,, Hu-hu! Hu-hu! Hu-hu !“ und be-
jahten so seine Fragen.
*
Ein alter bosartiger Pavian aber mit einem widerlich wilden.
Kopf und einem grossen hfisslichen kahlen Ges&ss war auf ein.
Dach geklettert. Er kaute an einer Zwiebelknolle herum und riss
Steine und Lehm aus dem GemSuer der leeren verddeten Hfiuser
und warf damit tuckisch auf Mustapha. Der aber wehrte ihm
drohend ab und rief: ,,Musst-du mich auch jetzt noch verfolgen.
tmd drgern, Ali Ban us, mein Bruder ? Siehst du nicht an deinem.
zottigen Fell, wohin Allahs Verachtung dich gebracht hat, du
Tier ?“ Da wollte Omar, der erst Kalif gewesen und jetzt der
Leitaffe der wilden Horde war, seine Bestien sammeln wider
Mustapha und seine Leute. Und er zeigte sein greuliches Gebiss
und bellte vor Wut und sein Haarschopf fiel ihm dabei liber die
rohe niedrige Stirne. Und er biickte sich mit verzerrter Fratze
und griff nach Steinen, die liberal 1 yon den yerkommenen H&usern
auf den schmutzigen Strassen lagen. Und seine Bande wollte ein.
gleiches tun. Da mochte Mustapha kein Blutbad anrichten unter
denen, die einstmals seines Stammes und Glaubens gewesen
waren. Und er sammelte die Seinigen, und sie kehrten an den
Strand zu ihrem Schiff zuriick aus der verwesenden toten Stadt
w
Aila, die friiher ihre Heimat geheissen hatte. Und Mustapha
nahm seine beiden Sdhne Achmed und Ibrahim mit sich. Und
sie kletterten traurig auf den Mastbaum der Galeere und schauten
der Abfahrt zu. Als sie aber abgestossen hatten vom schwarzen
Gestade und schon eine Welle liber das leuehtende Meer
schwammen, da hdrten sie plbtzlich ein wehes Hilfegeschrei am
Strand. Und sie gewahrten Morgans, die Schwester Mustaphas ,
die man in der Hast und Eile des Aufbruchs vergessen hatte.
Sie war aber ihrer Herde entronnen und liei nun wimmemd und
Tr&nen vergiessend am Ufer entlang und heulte nach ihrem
Bruder und den Menschen.
Sie ging aber wieder aufrecht auf ihren beiden Hinterbeinen
und bedeckte mit ihren H&nden ihre Blbsse. Als sie aber das
Schiff in der Ferae entdeckte, das ihren Bruder und die flbrige
Menschheit wieder von dannen trug, stiirzte sie sich ohne Besinnen
■
in die unergriindliche Flut. Und sie ertrank in dem rauschenden
Meer vor Erschopf ung, gerade als sie das wieder aui sie zuwendende
Fahrzeug erreicht hatte, in seinem Schatten. Mustapha aber,
der den Jammer seiner armen Schwester unter den bittersten
Vorwiirfen, die er sich machte, mit angehdrt hatte, starb vor
Herzeleid im verstbrten Angesicht seiner Vaterstadt. Achmed
und Ibrahim, seine beiden Sohne, sollen langsam wieder zu
Menschen geworden sein. Aber sie blieben ernst und in sich ge-
kehrt bis an ihr Lebensende.
Stil-Leistung ernes Richters
Von Professor LUDWIG GURLITT
Eulenberg ist, wie die Leser wissen, vor ktirzem
freigesprochen worden. Ueber den StU des Richters,
der zuvor die (rechtsunkrftftige) Beschlagnahme ver-
ordnet hat, sendet ein Schulmann dem Pan die
folgenden Erw&gungen. Er zeigt, wie das Schrift-
stfick als Klassen-Aufsatz vor der PrOfung eines
Lehrers bestehen wflrde.
Als altklassischer Philologe, der gewohnt ist, an Geschriebenem
und Gedrucktem Kritik und Exegese zu ttben, gehe ich an die
Urkunde her an, in der das Konigliche Amtsgericht Berlin- Mi tte,
Abteilung 125, die „G r ii n d e“ mitteilt, mit denen es die Be-
schlagnahme des ,Pan ( mit dem Aufsatz von Herbert
Eulenberg rechtfertigen will: , Brief eines Vaters unserer
Zeit an seinen Sohn‘ (vergl. ,Pan‘ I, No. ix u. 12).
Ich priife diese ,G r ii n d e‘ nach Sinn und Ausdruck.
t
Stil-Leistung ernes Richters
49 -
„Den ,literarischen‘ und etwaigen .kiinstlerischen 4 Wert
dieses Artikels kann jeder Gebildete beurteilen, der die-
Fahigkeit hat, sich in den Gedankengang eines Vaters-
seinem erwachsenen Sohn gegeniiber zu versetzen.“
Was bedeutet „ Gedankengang eines Vaters seinem er-
wachsenen Sohn gegeniiber ?“ Was ist „ein Gedankengang
jemandem gegeniiber ?“ Welchen Inhalt hat dieser Gedanken-
gang ? Ist j e d e r Gedankengang gemeint einem erwachsenen
Sohne gegeniiber? Also auch Entwicklungen iiber Weltan-
schauungsfragen, iiber Vermogensverwaltung , iiber Garderoben-
fragen ? Nein ? Aber welcher Gedankengang denn ? Es bleibt
uns vollig iiberlassen, den Inhalt zu erraten. Wir erraten, da£
es sich um Behandlung sexueller Probleme handelt . . .
Nun kommt aber ein schwereres Bedenken: Ist es denn wahr,
dafi jeder Gebildete, der die F&higkeit hat, sich in die Gedanken-
welt eines Vaters zu versetzen, der mit seinem erwachsenen Sohne
iiber se sue lie Dinge spricht, nun auch dadurch bef&higt sei,
den literarischen und kiinstlerischen Wert des Eulenbergschen
Artikels zutreffend — darum handelt es sich doch offenbar —
zu beurteilen? Eine ganz ungeheuerliche Behauptung! Sehen
wir n&her zu!
Also nicht jeder Gebildete an sich ist urteilsfahig in diesem
Falle, sondern nur der Gebildete, der sich in den Geist eines
solchen Vaters versetzen kann. Welcher Gebildete kann das nicht ?
Muss man dazu iiberhaupt gebildet sein? Geben nicht auch
ungebildete Vater ihren grossen Kindern solche Aufkl&rungen ?
Aber nicht jeder, der solchen Sexual- Belehrungen mit Ver>
stfindnis folgen kann, ist damit auch schon bef&higt, den lite-
rarischen und kiinstlerischen Wert irgendeiner bestimmten Be-
lehrung zu verstehen. Um das leisten zu konnen, muss man
literarisch und kunstlerisch geschult sein. Das sind in Deutschland,
zurzeit die wenigsten sogenannten „ Gebildeten' 1 .
Dieser erste Satz ist also inhaltlich durchaus nichtig
und verkehrt, und sprachlich um nichts besser. Das Gegen-
teil kommt der Wahrheit viel ndher : Wer auch immer befahigt
ist, die Vorhaltungen eines Vaters zu verstehen, durch die er
seinen Sohn vor sexuellen Entgleisungen behuten will, ist damit
noch lange nicht befdhigt, den hohen liter arisch-kunstlerischen
Wert des Eulenbergschen Aufsatzes auch nur entfernt zu erfassen.
Beweis: Herr von Podewils vom Koniglichen Amtsgericht
Berlin-Mitte hat ihn nicht erfasst, und er ist doch einer jener
,Gebildeten, der die Fdhigkeit hat . . .*
Wei ter!
StU-Leistung eines Richters
In einem mir vollig unerfindlichen Gedankenzusammenhang
idhrt nun die Begrtindung fort:
„Es mag danach unter Umstanden zu billigen sein,
wenn ein Vater seinem Sohne, sdbst unter Anwendung
realistischer F arben- Aufzeichnung , die Gefahren des
sexuellen Lebens schildert.“
Wir hatten gehort: jeder Gebildete der niher bezeichneten
Art hat Verst&ndnis. Was wird daraus gefolgert ? Man hdre und
staune ! Es wird gefolgert, dass ,, danach** einem Vater unter
Umstanden die Schilderung sezueller Gefahren zu gestatten sei.
Ich komme wirklich aus dem Staunen nicht heraus, denn
x. Eulenberg hat die Gefahren des sexuellen Lebens gar nicht
-geschildert. H&tte er es getan, so miissten ihm alle
Konsistorien und Sittlichkeitsvereine ihren Beifall spenden.
Der Herr Verfasser kennt offenbar den Sinn und Umfang des
Verbums ,schildem* nicht. Das heisst soviel wie breit darstellen ,
-anschaulich machen, ausmalen. Nichts davon ist in Eulenbergs
Aufsatz zu finden, nur ein einmalig fltich tiger H i n w e i s auf
die Gefahren sexueller Ansteckung.
2. Unter welchen Umstanden das Konigliche Amtsgericht
Berlin-Mitte eine Schilderung sexueller Gefahren einmal billigt,
-ein andermal nicht, bleibt vollig im Dunkel. Wir haben also
Grund, anzunehmen, dass Eulenberg Anrecht gerade auf die
Billigung der hohen Behorde hatte, zumal er a) die sexuellen
Gefahren nicht M schildert“, b) also erst recht nicht mit grellen
Far ben schildert.
3. Setzt mich wieder das Deutsch in Staimen: „ Anwendung
realistischer Farben- Aufzeichnung" ? — Ich kenne Farben-Auf-
tragung. Man sagt: die Far be dick auftragen, d. h. ubertreiben.
Die ,,F arben realistisch aufzeichnen" habe ich
noch nicht gehort. Hier arbeitet die hohe Behorde sprach-
^schopf erisch ; der Ausdruck „unter Anwendung realistischer
Far ben- Aufzeichnung ‘ ‘ bleibt ihr Eigentum.
Also wieder Unklarheit. i a . mehr
als das
TJnhaltbarkeit des Gedankens und Ungeschick, ja,
mehr als das, Verfehlung
kommt noch besser!
des Ausdruckes. Es
„Entschieden geschmacklos ist es aber, wenn solche
Wamungen erfolgen unter Ironisierung eines Einsegnungs-
spruches des Sohnes und unter Eijfiechtung bekannter
Kalauer, wie dies aof Seite 361 geschiebt."
Hier ist a 1 1 e s falsch! 1. Der Gedankenanschluss. Es hiess:
jnanchmal darf ein Vater seinem Sohne jene Gefahren recht
Stil-Leistung eines Richters:
derb. und grell ausmalen. Wir erwarten nun den Nachweis, dass
Eulenberg das aus bestimmten, uns bisher unbekannten Griinden
nicht durfte und warten aul Mitteilung dieser Griinde. Wir warten
'vergebens.
Statt dessen folgen Geschmacksurteile der hohen
Behdrde fiber eine das religidse Gebiet streifende Bemerkung
Eulenbergs und fiber ,,Einflechtung bekannter Kalauer“. Das
4und dsthetische Urteile, fiber die eine Rechtsbehorde nicht
kompetent ist. In Sachen des kfinstlerischen Geschmackes steckt
nach meinem Urteile der eine Eulenberg das ganze Amtsgericht
in die Tasche. Aber wir mfissen weiter lesen, um nicht ungerecht
zvl wer den :
„In dieser Form vorgebracht, wirkt solche Verhaltung
mehr als Anreiz zur Lfistemheit wie als Warming davor,
und muss entschieden bestritten werden, dass ein derartigei
Umgangston in den Kreisen, aus denen .Diplomaten*
stammen, typisch ist, wie der Verfasser nach der Ueber-
schrift seines Artikels andeuten zu wollen scheint.“
Ich fibergehe das Stilistische : Man sagt nicht „mehr — wie‘\
sondem „mehr — als“. So lehrt man in Quarta. Nach dem
Positiv — wie, nach dem Komparativ — als. „So schon wie
-gestern, schoner als heute.“ Da mfissten wir hier aller dings
lesen . . . „als alsWarnung davor !“ Auch nicht schdn, aber
doch sprachrichtig. Weshalb aber nicht . . . „denn als
Warnung ?“ Hftsslich und fast nur noch in Geschaftsbriefen
zu finden, ist die Inversion „und muss“ statt „und es muss".
-Schlimmer ist wieder das Sachliche: ,,solche Vorhaltung?“ Vor-
her hiess es „solche Warnungen“, es sind also die zwei Worte ge-
meint, mit denen Eulenberg ,lues und anderen amone Er-
krankung‘ andeutend benennt. Von ,,solchen“ Vorhaltungen
und Wamungen, die als Anreiz zur Lfistemheit gelten konnen,
finde ich in dem ganzen Artikel nichts. Eulenberg empfiehlt
ritterliche Behandlung des Weibes, jedes Weibes, auch des ge-
iallenen und tut gerade das Gegenteil von dem, was . . . doch,
-darfiber hat ja das Gericht schon zu seinen Gunsten entschieden!
Was den ,, Umgangston" angeht, so handelt es sich hier wieder
um eine Sache des Geschmackes und der Erfahrung. Selbst
wenn Eulenberg die Diplomatensprache nicht kennen wfirde,
was geht es das Gericht an l Auch das entschiedenste Bestreiten
nfitzt der hohen Behdrde nichts: Das Lesepublikum stellt sich
mit seiner Erfahrung auf die andere Seite. Das ware auch
noch lustiger, wenn sich die Dichter erst bei Gericht erkun digen
aollten, wie ein Amtsrichter, ein Graf, ein Kaiser zu zeichnen
^eien. Schuster bleib bei deinem Leisten I —
Stil-Leistung ernes Richters
„Aber auch selbst, wenn man sich iiber diesen Zynismus-
hinwegsetzen wollte, so muss man dennoch in Erwagung;
ziehen, dass dieses Blatt im Strassenverkauf vertrieben wird,
und dadurch in die Hande eines Publikums gerat, welches-
derartige literarische Kost nicht verdaut, sondern daran ent-
weder mit Recht Aergemis nimmt, oder daraus Gift saugt
und sich daran aufregt."
„ Diesen Zynismus ?“ Wo ist dieses Betragen in den , , Griinden' *■
nachgewiesen ? Wir horten ,,die Form der Vorhaltung gegen
die Gefabren des sexuellen Lebens wirkte mehr anreizend, als
(oder vielmehr „wie“) warnend, hdrten zum Schluss, dass das
hohe Gericht den Umgangston der Diplomatenkreise falsch go-
zeicbnet findet. Hat dieser Missgriff in beiden F&llen — ihn
einmal zugegeben: — irgend etwas mit Zynismus zu schaffen ?
Und nun wieder die Unklarheit in der Gedankenfugung.
Unser Stilist wollte sagen: ein Gebildeter konnte sich dar-
iiber hinwegsetzen, aber dieses Heft (nicht , Blatt 1 ) kommt auch
in die HMnde Ungebildeter. Das trifft zwar in Wahrheit nicht^
oder nur selten zu, aber es w&re doch logisch - gedacht und aus>
gedruckt. Nim lese man aber das: „Aber auch selbst^
wenn man sich iiber diesen — so muss man
dennoch in Erw&gung ziehen, dass (< (welch ent~
setzlicher Still), da wird also ,,man“ zu „Publikum <( in Gegensatz
gebracht. ,,Man“ ist gebildet und setzt sich dariiber hinweg, das
Publikum nicht. ,,Man“ verdaut derartige literarische Kost, das
Publikum nicht. Das nimmt Aergernis daran, saugt Gift daraus
— das Bild ist schlecht: Wenn ich eine Kost zu mir genommen.
babe, dann kann ich aus ihr nichts mehr heraussaugen, es sei
denn mit den Magen- und Darmwfinden, was doch nicht gemeint
ist — und man regt sich daran auf.
Ein solches Dokument darf eine Konigliche Behorde aus der
Hand geben?!
Wenn diese Arbeit einer Prixfungskommission der Gymnasial-
abiturienten zur Zensur vorgelegt wiirde, so wdre ihr das Zeugnis
sicher :
„Nach Inhalt und Form ungeniigend. N. N.
hat sich die F&higkeit noch nicht erworben,
klare Gedanken zu bilden und sie in strong-
logischer Entwicklung vorzutragen. Auch
verrit der sprachliche Ausdruck noch eine
bedauerliche Unreife, die sich besonders
darin bekundet, dass die Tragweite der ein-
zelnen Worte nicht richtig erkanntund be-
wertetwird...“
Kommentar zu Robert Walser
ROBERT WALSER
Zeichnung von Karl Walser
Kommentar zu Robert Walser
Von MAX BROD
Die einzig richtige Form, in der Buchkritiken verfasst sein
sollten, ist: der Kommentar. Solange es aber nicht Mode geworden
ist, mitsolcherEhre unserezeitgenossischenDichterauszuzeichnen,
die man nur wohl den lieben romischen und griechischenKlassikern
zuteil werden lasst, — diese Ehre, dass auf jeder Seite, die nur je
ein Weniges des unschatzbaren Textes enthalt, unter dem Strich
jedes wichtigere Wort des Dichters erwogen und belobt, jede
Wendung mit Parallelstellen belegt oder als originell befunden,
jeder angedeutete Gedanken und jede auch nur etwaige An-
spielung in voller Schonheit zu Ende ausgearbeitet wird, — solange
dies alles nicht eingefiihrt ist, bleibt nichts iibrig, als eine kurze,
unvollkommene und deshalb auch schwierigere Kritiker-
Leistung zu versuchen.
Ich werde also nur einen Pseudo- Kommentar geben konnen,
eine Auswahl kommentierender Anmerkungen vielmehr, zu-
5
54 Kommentar zu Robert Walser
sammengehalten durch iibersichtliche, dafiir aber auch nur halb-
richtige Leits&tze, die ich zwischen fiinfmal Oder zwanzigmal
so viel Anmerkungen wahrscheinlich anmu tiger, geahnter und
doch auch exakter yersteckt h&tte.
Gleich im Beginn veranlasst und begeistert mich der Genuss
von etwas so Aussergewohnlichem, wie es Walsers Dichtungen
sind, zu folgender unwahrscheinlicher Behauptung : — Es gibt
Zwei-Schichten-Dichter, z. B. Dickens, der es vortrefflich ver-
steht, wenn er etwas Lustiges darstellt, den darunter liegenden
Ernst, und im Ernsten das Lustige darunter und dahinter ahnen
zu lassen. Oder Hamsun bringt es zustande, dass jemand eine
Situation berichtet, die er selbst missversteht, der Erz&hlende;
aber wir, die Leser, verstehen sie durch seine verirrte Erz&hlung
hindurch. Das Buch Dostojewskis „Ein Werdender" ergl&nzt un-
sterblich in solchen Details . . . Neben solchen Zwei- Schichtem
gibt es die einflachigen Dichter, nat&rlich. Drei-Schichter hat
es aber bisher noch nicht gegeben. Walser ist so ein Drei-
Schichter, da haben wir ihn.
Obenauf, in der ersten Schichte, ist Walser naiv, fast unge-
schickt, schlicht, geradeaus. Wenige lassen sich davon tiuschen,
man spurt schnell die zweite Schicht unter der ersten, die Ironie,
das Raffinement, den Feinfuhligen. Also ist Walser, wie man
so zu sagen pflegt, „gemacht“ und „unecht“. O nein, weit was
Ueberraschenderes ist er. Er hat n&mlich noch unter der tiefen
zweiten Schicht, eine tiefere dritte, einen Grund, und der ist
wirklich naiv, kraftig und schweizerischdeutsch. Und den muss
man gut durchgefiihlt haben, ehe man ihn versteht, in dem
wurzelt manch seltsamer Reiz seiner Sprache, Gesinnung, ja des
Aufbaus seiner Werke.
Zundchst die Sprache. Man hat wohl schon lange nicht in
unserer Zeit, die sich von aller einfachen Prosa-Melodie abzu-
kehren scheint, Satze gehort wie den : „ Joseph sah ihn den Hilgel
durch den abstiirzenden Garten hinuntergehn.“ Welche
blendende, vielmehr stille Reinheit, welche Abgewogenheit in
den Vokalen, der Stellung und Lange der Worte, welche unge-
zwungene Musik. Ich gestehe hiermit, dass es nur wenige Biicher
gibt, die mich durch ihren unsaubern Stil nicht anwiderten. Bei
Walser aber atme ich furchtlos auf, noch mehr : hier erquickt
mich jeder Ton, hier schallt es so angenehm . . . Nun ist es
aber eine Eigentiimlichkeit der Walserschen Diktion, dass er die
Ruhe seiner Satze oft mit einem scheinbar der Zeitungssprache
oder dem Vulgaren entnommenen Wort scheinbar unterbricht.
Hier setzt nun die Drei-Schichten-Theorie ein. Solche Zerrissen-
heit klingt naiv, unbefangen, kunstlos. Der tiefer Zusehende er-
Kommentar zu Robert Walser
kennt wohl romantische Ironie in ihr, denkt etwa an Heine.
Der Verstehende aber sieht unter dieser wirklichen Naivit&t und
wirklichen Ironie (beide sind real vorhanden, nur beide nicht
selbst&ndig, beide auf die dritte Schichte beziehungsvoll) eine
ganz inwendige Seelen-Unbekiimmertheit, eine liber alien Mitteln
stehende und deshalb in den Mitteln mit Fug wahllose Dichter-
Urkraft. Ein Bei spiel (man findet leicht tref fendere) : „Das
Feuer, das wie alle wilden Elemente keine Besinnung
hat, tut ganz verriickt. Warum sind noch die zugelnden
Menschenh&nde nicht in der Ndhe ? Miissen denn gerade
in solcher Schreckensnacht u. s. f.“ Ich habe mir er-
laubt, natiirlich gegen den Text, die deutlichsten Papierworte
hervorzuheben. Wie fliichtig sieht man sie der Feder des Dichters
entgleiten, als Ankl&nge fast an popul&re Schillerzitate, sieht den
Dichter ihr Unangebrachtes erkennen, ironisch belacheln, sieht
ihn sie dann trotzdem stehen lassen, einer inneren Fliichtigkeit,
weil Heiterkeit folgend, die sich zu jener oberfl&chlichen
Fliichtigkeit wie ein lebendiger Mensch zu seiner Momentphoto-
graphie verh< . . . Walser liebt es, wie in dem zitierten Buch
(„Fritz Kochers Aufsatze"), sich als Knaben, als halberkennenden
Reifenden zu verkleiden, um diesen Stil gleichsam zu recht-
fertigen. Doch fiihrt er ihn gliicklicherweise auch ohne besondere
Rechtfertigung durch alle Biicher hindurch und ebenso durch
seine schonen eilfertigen kleinen Stiicke in unsern Zeit-
schriften.
Was fiir Sdtze, was fiir Satz-Neubildungen und unbewusstes
Gluck ! „Ich wohne sehr nett in einem, es kommt mir vor, hoch-
gelegenen Turmzimmer. 1 * Oder : „Er wolle, fand es Tobler fiir
passend zu sagen, nicht hoffen, dass es soweit komme." Ohne Arg
und doch mit grosser Schlauheit und doch im Herzen ohne
Arg wird mit der deutschen Syntax hiibsch gewirtschaftet.
Gehdufte Verba geben einen halb-komischen, ganz-entziickenden
Effekt : „ . . . dass ich jederzeit dasjenige zu leisten imstande
sein werde, was Sie glauben werden, von mir verlangen zu
diirfen.“ Oder alte Phrasen werden mit einem neuen oder recht
abgebrauchten Adjektiv kuriert : „Die Berge am Ufer waren in
dem Dunst, den der vollendet schdne Tag iiber den See
verbreitete u. s. f.“ ,,Zeitungen solchen Schwunges und
Charakters schossen ... an die erstaunte und er-
freute Oeffentlichkeit." Analog zu „Ins Reine Schreiben"
wird neugeschaffen : ,,Ins Mehrfache Schreiben.' 1 — 1st es
moglich einer tausendjahrigen Sprache so neue gezwungen-
ungezwungene Tone abzulisten, die von nun an nicht mehr
verstummen werden ?1 Wer in solchen neuen Stilerfindungen nicht
S*
5<S
Kommentar zu Robert W&lser
das grosste literarische Tun unserer Zeit sieht, von dem kann man
getrost sagen, dass er von dem Wesen der Literatur noch nie
eine Ahnung in der Seele verspiirt hat.
Ueber die Schweizer Provinzialismen bei Walser und ihre
Schonheit denke man sich nnen selbstverstandlichen Absatz hier
eingeschoben.
Ebenso liber seinen scheinbar sorglosen, dennoch sehr be-
dachten und doch im Tiefsten bliunenhafte frische Sorglosigkeit
aushauchenden Szenenaufbau.
Seine Gesinnung erklfire ich mir gleichfalls dreischichtig.
Eine leicht erkennbare Aristokratie im Wesen (,,Warum ist
Armut eine solche Schande ? Ich weiss es nicht. Meine Eltem
sind wohlhabend. Papa hat Wagen und Pferde“); man wiirde
aber irren, wollte man die durch solche leichtfert'ge, absichtlich
leichtfertige Reden als deren Widerlegung deutlich durch-
schimmemde soziale Mitleidsgesinnung als die wahre auifassen.
Noch tiefer vielmehr stosst man wieder auf etwas sehr Nobles,
Feinorganisiertes, Sich-Abschliessendes — und wundervoll ist es,
wenn Walser manchmal durch einen einzigen Satz den Leser
zwingt, alle drei Standpunkte mit ihm zu durchlaufen. „Es
wurde nach und nach bei den Frauen Mode, und zwar bei den
sogenannten bessern, n&mlich bei solchen, die nicht gar so streng
zu arbeiten brauchten, den Tag fiber, und das gerade sind ja die
Besseren . . Man suche sich das Richtige aus!
Es ist in dem labend komplizierten Wesen dieses Dichters
gelegen, dass er vielartige Figuren von solcher Vollst&ndigkeit
ihres Gehabens und Wirkens gestalten kann imd nicht im Relief,
nein rund, komplett. Er braucht nur seines eigenen Wesens Ziige
zu isolieren, aus sich herauszustellen ... Da erscheint in
mehrfachenVarianten die schdne,stattlicheFrau aus pratrizischem
Bfirgerhaus, der der Hochmut so gut steht, der man gem dient.
Immer tr> sie Federn auf dem Hut . . . Da erscheint der
junge Mann, bald Schuler, bald Kommis, bald Gehilfe, der es in
keinem Beruf lange aush<. Das Heroische und die Kunst leben
in ihm, hfibsch verwickelt mit kleineren Begierden wie z. B. einer
kraftigen Esslust. Die Liebe zum Bruder, der als Ideal vorschwebt,
wird oft gezeigt. ,,Geschwister Tanner" gar ist die Geschichte
einer in sich zusammenhaltenden, ganz bunten und doch durch
einen edlen Familienzug angeglichenen Kette von Geschwistern.
In ihrem Familienstolz zeigt sich wieder der Aristokrat. Nur das
Feine, Ebenburtige gef&llt ihnen. Am liebsten wfirden sie in einer
m&rchenhaften Welt von Schonheit leben, wie sie Karl Walser
zierlich aufzuzeichnen weiss ; und ebenso wird im Buche „Der
Gehilfe" gern getr&umt, in der guten Art Gottfried Kellers etwa,
Kommentar zu Robert Walser
57
(
ausfuhrlich im Schlaf, oder wachend vom , ,Ritterfr&ulein in Samt-
fock und ledemen Handschuhen.“ Doch — und das ist das Drei-
schichtige, Vielschichtige, Ungez&hltschichtige meinetwegen —
in demselben Buche spielt auch die kleine ,,verschuggte“ Silvi
ihre wichtige Rolle und allnachtlich „pisst sie ins Bett.“ Was ich
damit sagen will : Die Feinheit Walsers hat durchaus nichts
Aesthetelndes, mir so verhasst Wienerisches 1 Fritz Kocher,
dessen Aufsatzheft mit den Worten „Der Mensch ist ein fein-
fiihliges Wesen“ beginnt, sagt so schon, wie er den „Lehrer in der
Schulstube" beschreibt : „Hin und wieder kratzt er sich wolliistig
in den Haaren. Ich weiss, welche Wollust es ist, sich in den
Haaren zu kratzen. Dadurch reizt man das Denken unendlich.
Es sieht allerdings nicht besonders schon aus, aber item, e s
kann nicht alles schSn aussehe n.**
Das ist nun Walsers lieblichster Frohsinn ; er steht, obwohl
poetischeren Zeiten entsprossen, fest in unserer unpoetischen
Gegenwart. Er liebt sie, er macht sie poetisch. Er halt einfach
ihre Ekelhaftigkeiten aus — der gesunde schone Korper ,,fahig,
Anstrengungen und Entbehrungen zu ertragen,** das ist die
gute Basis, die er alien seinen Helden gibt. Ihr Lachen ist ein
ins Akustische umgewandelter solcher Gesundkorper. Allen
Madchen miissen sie wohlgefallen, und das freut diese jungen
Herren selbstverstdndlich ... In ihrer guten Laune geffillt
ihnen selbst alles. Sie finden sich zum Erstaunen miihelos in
der Welt zurecht. Der liebe verschwenderische, scheinbar
so gar nicht ins 20. Jahrhundert passende Herr Tobler, Erfinder
der genial unpraktischen Reklameuhr und desSchiitzenautomaten,
wird sich schliesslich — so eroffnet uns die abschliessende Voraus-
sicht des Romans — , wenn er den Glaubigera seine ,,brillante“
Villa am Seeufer riumen muss, auch in der engen Stadt „in
einem billigen Quartier** recht wohl fuhlen. „Man gewohnt sich
an alles . . .“ Von einer versinkenden Weltanschauung, von
fiberlebten Stimmungen ist in der obersten Schichte dieser
Bucher viel die Rede („Man bedauerte das Zeitalter, das sich ge-
zwungen sah, mit Menschen von des Melkers Veranlagung derart
kleinlich und missverstdndlich verfahren“, so heisst es von dem
derben Naturburschen im Polizeigef&ngnis, der noch das Blut
der „stolzen und unb&ndigen Ahnen des Landes** hat und dafiir,
d. h. fur Raufh&ndel, bestraft wird), aber im Innersten der Bucher
lebt schon eine tiichtige Anpassung an die Neuzeit, an Industrie
und alles, was man will. Der Gesunde wendet sich eben von nichts
ab. ,,Ich liebe und verehre Tatsachen.** Oberste Schichte mag
bei Walser Romantik oder Ironie der Romantik sein, zuunterst
liegt tapferster freundlich-ausgesponnenster Positivismus : , , Nichts
58 Kommentar zu Robert Walser
i
kann mich so tief aufregen wie der Anblick und der Ge-
ruch des Guten und Rechtschaffenen. Etwas Gemeines und
Boses ist bald ausempf unden, aber aus etwas Bravem und
Edlem klug zu we r den, das ist so schwer und doch zugleich
so reizvoll. Nein, die Laster interessieren mich viel, viel
weniger wie die Tugenden.**
. . . Ueber Witzigkeit findet Walser so hfibsch das Rechte :
„Witz darf in Aufs&tzen vorkommen, aber nur als leichte,
feine Zierde. Ein von Natur Witziger muss sich besonders
in acht nehmen. Die Witze, die hubsch klingen, wenn sie aus
dem Munde kommen, nehmen sich nur selten auch auf dem
Papiere gut aus. Ueberdies ist es unvornehm, von einer Gabe,
mit der man iiberreich ausgestattet ist, einen nicht ftusserst
wfihlerischen Gebrauch zu mac hen. “
Doch zurfick zu Besserem 1 . . . Was {fir Einffille, diese
Musterschule „Benjamenta“ mit ihrem so intelligenten, so un-
ermfidlich vom Dichter belobten und doch unterirdisch von lhm
missachteten Vorzugsschfiler, dieser Brief, der mit „Geachtete
Frau“ beginnt, oder der betrunkene Wirsich, dieses Mitleidige,
Mitleidslose, Mitleidsindifferente u. s. f. u. s. f. . . . Es ist un-
moglich , diesen Dichter nach Gebfihr zu loben. Ich kann meine
verliebte Freude fiber seine Existenz in Kurzem nicht mehr
anders ausdrucken als indem ich die Namen seiner Bficher mit
meiner schonsten Schrift ins Manuskript kalligraphiere : ,,G e -
dichte“ — „Fritz Rochers Aufsatze" — „Ge-
schwister Tanner" — ,,D er Gehilfe" — „Jakob
von Gunte n“.
i
4
Terror der Syndikate 59
Terror der Syndikate
In der Literatur fiber die Geschichte der Kartelle und Syndi-
kate kann man erbaulich lesen, wie nach langer und kost-
spieliger Konkurrenz die Unternehmer zu der Erkenntnis kamen,
dass der gegenseitige Kampf nur alien Beteiligten Schaden bringe
und eine gemeinsame Organisation geschaffen werden miisse,
um den Umfang der Produktion, die Festsetzung der Preise und
die Begrenzung der Absatzgebiete zu regeln. Da die publizierten
Kartellgriindungs- Geschichten zumeist auf Informationen auf-
gebaut sind, die aus den Syndikatsbureaus stammen, so ist nur.
zu erkl&rlich , dass ihre Darstellung den Wiinschen der Syndikats-
interessenten entsprechen, aber mit den Tatsachen schwer in
Einklang zu bringen sind.
Wire die Voraussetzung fiir das Zustandekommen von Kar-
tellen oder Syndikaten immer die einmutigeZustimmungder Inter-
essenten ge wesen , so existierten wahrscheinlich nur ver-
schwindend wenige jener jetzt so zahlreichen Organisationen.
Bei einer etwas eingehenderen Betrachtung ergibt sich denn auch,
dass der Terror der G e b u r t s h e 1 f e r vieler,
man dari wohl sagen, fast aller Kartelle
war und die Kartellmacht gleichfalls durcb
’ ‘j * _
die Anwendung von w i r t s c h a f 1 1 i c h e m Ter-
rorismus behauptet wird. Schliessen sich mehrere
Betriebe zur gemeinsamen Regelung der Verkaufsbedingungen zu-
sammen, so werden die Unterhandlungen mit den noch aussen-
stehenden Werken zunachst in friedlicher Form gefiihrt, bleiben
indes die Ueberredungskfinste erfolglos, dann beginnt die An-
drohung und Durchfiihrung von Repressalien in Form von
systematischen Preisunterbietungen, Entziehung von Rob-
mater ialien, femer werden die Banken veranlasst, das Vorgehen
durch Kiindigung von Krediten zu unterstiitzen.
* *
*
Zur Kenntnis der Oeffentlichkeit kommen nur die wenigsten
Falle des Kartellterrors, aber selbst dieses Material ist ausreichend,
um seinen Umfang und seine Wirkungen erkennen zu lassen. Am
scharfsten aussert er sich dort, wo ein straffer Zusammenscbluss
bereits besteht und eine gewisse monopolartige Stellung von den
vereinigten Werken erlangt ist. Aus der Praxis des Stahl-
werksverbandes, dessen Vertrag vor der Erneuerung
steht, liegen dokumentarische Beweise liber die Anwendung des
Terrors vor. Der vor wenigen Tagen erschienene Bericht der
Terror der Syndikate
Westf alischen Stahlwerke Akt. - Ges. in
Bochum uber das GeschAftsjahr 1920/1 z enth< die Mit-
teilung, es habe sich auch im abgelaufenen Gesch&ftsjahr wieder
gezeigt, dass die Zugehorigkeit zum Stahlwerksverbande fiir die
Gesellschaft von erheblichem Nachteil war. Nicht zum erstenmal
tritt die Verwaltung mit dieser Feststellung hervor, bei den ver-
schiedensten Gelegenheiten wurde sie von ihr mit aller Sch&rfe
betont. Unwillkurlich muss man sich fragen, warum dann in aller
Welt die Gesellschaft sich zur Zugehorigkeit zum Stahlwerks-
verband entschlossen hat, wenn sie das Bewusstsein von der
Sch&dlichkeit des Anschlusses von vornherein hatte . . . Fiir
die anscheinend unverstandliche Haltung der Gesellschaft gibt es
jedoch eine ausreichende Erkl&rung: die Westf Alischen Stahl-
werke wurden wider Willen ihrer Leitung zum Eintritt in den
Stahlwerksverband gezwungen.
Ende November vergangenen Jahres erkl&rte in der General-
versammlung der Gesellschaft der Vorsitzende, Justizrat E 1 1 z -
b a c h e r , das Verh<nis des Unternehmens zum Stahlwerks-
verband sei, wie schon fruher hervorgehoben, kein gunstiges, die
Herren vom Stahlwerksverbande hatten seinerzeit selbst erkl&rt,
sie s&hen ja ein, dass die Westfalischen Stahlwerke, wenn sie
unter den ihnen gestellten Bedingungen dem Stahlwerksverband
beitr&ten, nicht sonderlich prosperieren wiirden. Die Gesellschaft
miisse das Opfer aber im Interesse der Allgemeinheit br ingen;
sonst werde man eine Generalversammlung
einberufen lassen, die die Verwaltung, wie
dies auch einst beim ,,P h 6 n i x“ geschehen
sei, zwinge, dem Verbande beizutreten.
Nirgendwo haben diese Ausfuhrungen liber das Verh<nis des
Werkes zum Stahlwerksverbande Aufsehen hervorgerufen, was
deutlich dafiir spricht, dass derlei Vorg&nge nicht zu den Selten-
heiten gehoren. * m
*
Um Mittel, ihre Drohungen auszufiihren, brauchten die Stahl-
werksverbandsherren wirklich nicht in Verlegenheif zu geraten,
wenn die Westf Alischen Stahlwerke sich nicht ihrer Botm&ssigkeit
unterworfen hatten. Ein Wunsch der grossen Montanbetriebe
des Stahlwerksverbandes h&tte geniigt, um die Banken zu ver-
anlassen, mit der aus den Aktien ihrer Kunden gebildeten
Majorit&t in der Generalversammlung der Westfalischen Stahl-
werke zu erscheinen und den Beschluss zur Beteiligung an dem
Stahlwerksverband zu erzwingen. Leistete die alte Verwaltung
dann noch irgend welchen Widerstand, so war es den Banken
ebenso leicht, die Herren ihrer Aemter zu entheben.
Terror der Syndikate
I
Wie wenig die Grossmachte der Industrie sich bei Betreibung
ihrer Kartellplane geniert fiihlen, bewies auch die T a k t i k
des Walzdrahtverbandes, dessen Mitglieder an dem
Zustandekommen eines Drahtstiftsyndikats stark interessiert
waren. Dem W alzdr ahtverband gehoren 29 Werke an, 5 Werke
gelangten nach seiner Grundung im Jahre 1907 ganz oder teil-
weise zur Stillegung, die dazu erforderlichen Vergutungen wurden
▼on den Verbandsmitgliedern durch Umlagen aufgebracht. Auf
diese Weise hatte der Verband sich eine marktbeherrschende
Stellung verschafft, die er jenen Drahtstiftfabriken, die dem be-
absichtigten Syndikat nicht beitreten wollten, auch sehr energisch
ins Gedachtnis rief. Um die Verhandlungen zur Griindung des
Drahtstiftsyndikats zu beschleunigen, erging an die Drahtstift-
fabriken die Aufforderung zum Anschluss mit der Benachrichti-
gung, dass den Widerstrebenden von dem W a 1 z -
drahtverband kein Rohmaterial mehr ge-
liefert werden wiirde. Eine Verweigerung der Lieferung
▼on Rohmaterialien durch die machtige Vereinigung war unter
Umstinden mit der Unmbglichkeit identisch, Rohmaterial iiber-
haupt zu erlangen. Dass diese Drohung sp liter nicht ausgefiihrt
wurde, war nicht etwa auf nachtraglich entstandene Bedenken
gegen die Brutalitdt dieser Absichten zuriickzuf iih r en , sondern
lediglich darauf, dass im letzten Augenblick eine neue Walz-
drahtkonkurrenz entstand . . . Von einem der beteiligten Werke
. ist dieser Zusammenhang in dem gedruckt ▼orliegenden Ge-
sch&ftsbericht zugegeben worden.
h
* *
*
Der Nichteingeweihte sieht in den Mitteilungen liber Einigung
▼on Konkurrenzunternehmungen wohl immer das Ergebnis
friedlich-schiedlicher Verhandlungen, wdhrend in Wirklichkeit
den . vollzogenen Einigungen die erbitterste Verfolgung des
schwScheren Gegners ▼orausging. Charakteristisch dafiir ist die
Geschichte des Abkommens zwischen der
Ozeanlinie H. Schuldt in Flensburg und den
grossen deutschen Scbiffahrtsgesellschaf-
t e n unter Fuhrung der Hamburg- Amerika-Linie und des Nord-
deutschen Lloyd, wonach die Ozeanlinie ihre Fahrt vom 1. April
19x1 ab auf den Dienst von Antwerpen nach Kuba beschr&nkt.
Von der Flensburger Reederei- Gesellschaft Schuldt war im
Jahre Z908 eine feste Schiffahrtslinie Hamburg- Antwerpen-
Kuba-Mexiko eingerichtet worden, durch die sich die grossen
Reedereien in ihrer Schiffahrtsdiktatur gestort sahen. Zunftchst
Terror der Syndikate
wurde die Flensburger Schiffsbaugesellschaft, bei der Herr Schuldt
damals Aufsichtsratsmitglied war , boykottiert, worauf
Schuldt seinen Austritt aus dem Aufsichtsrat erklirte. Natiirlich
erfolgten auch die iibliche Frachtratenermassigungen gegen die
Reederei Schuldt. Als diese Vorstosse noch nicht die erwiinschte
Wirkung ausiibten, entschloss sich das kartellierte Schiffahrts-
kapital zu scharferen Massnahmen. In deutschen Blattern er-
schien Anfang des Jahres 1910 ein Bericht, der die Kampfesweise
der Grossreedereien anschaulich darstellte. „Als der Dampfer
, Hermann* der Schuldtlinie mit einer Teilladung nach Kap
Haitien befrachtet wurde, gab dieHamburg-Amerikar
Linie ihrem Agenten in Kap Haitien, der
auch deutscher Konsul ist, den Auftrag,
dem , Hermann* das Loschen der G titer d a -
durch u n mb glich zu machen, dass er die
einzigen Leichter gesellschaftea am Platze
durch Barzahlungen dahin brachte , dem
Konkurrenzdampfer die notwendigen Lei ch-
ter nicht zu geben. Der Herr Konsul wurde aber an der
Ausftihrung dadurch verhindert, dass ihm vom Vertreter der
neuen Linie mit der Meldung an die vorgesetzte Behbrde gedroht
wurde. Die Leichterung ging dann glatt vonstatten.**
Auch die agrarische Spirituszentrale weiss
sich mit Meisterschaft des wirtschaftlichen Terrors
zu bedienen ; sie hat aussenstehende Brennereien und Sprit-
fabriken durch Mittel kirre gemacht, die das Kammergericht
als Verstbsse gegen die guten Sitten charakterisierte ; den
Handlern zwang sie Vertrage mit Strafbestimmungen auf, die
an Rticksichtslosigkeit die Lieferungskontrakte des Rheinisch-
Westfalischen Kohlensyndikats und des Mitteldeutschen Braun-
kohlensyndikats zum mindesten erreichen, eher noch tibertreffen.
Wo immer Syndikate entstanden, tiben sie Gewaltt&tigkeiten
aus, um eine wirtschaftliche Alleinherrschaft zu erlangen. Daraus
leiten sie dann das moralische Recht her, eine Einschrankung
Oder gar die Aufhebung des Koalitionsrechtes der Arbeiterschaft
zu fordern.
Von den Kartellkreisen, deren Reprasentanten sicher alle
hinter Schloss und Riegel sassen, wenn sie sich der Recht-
sprechung zu erfreuen hatten, mit der Streiker und ihre
Organisations vertreter st&ndig zu rechnen haben, wird ein er-
hbhter Schutz fiir Streikbrechergarden und ein Verbot des Streik-
postenstehens gefordert, im Namen der Freiheit. Wer aber
schiitzt die Freiheit nichtsyndizierter Unternehmer gegen den
Terror der Kartelle? KRITES
Graudenz
►
*
Graudenz
Von OSKAR LOERKE
Ihr seht sie hoch am Strome thronen.
Eine Orgel spielt geheim.
Da wachst um D&cher, Turm und Bastionen
Wie Nordlicht weit ein Heiligenschein.
Die Glocken in den Glockenstiihlen ,
Sie tragen Spriiche in Latein,
Hun heben die an mit wunden Gefuhlen
Zu sprechen im alten, heiligen Schein.
In roten verwitterten Toren sitzen
Kanonenkugeln aus Stein.
Draus fahren Tod und Not und Blitzen
Und kriegszerschmettert Gebein.
Ich klimme zu den hochsten Turmesstufen:
Da schweigen die Spriiche aus Erz,
Und weithin griinen die Erdenhufen,
Und mein Strom rollt himmelher himmeiw&rts.
Der Fahrende
Der Fahrende
Von RICHARD WOLFGANG WORTON
(Ulm)
Schlafen sind die Menschen gangen .
Fern erldschen letzte Lichter.
Kinder an zu trftumen fangen.
Nacht kiihlt beisse H&rmgesichter .
Mochte nun mein Herz begraben,
dass ich endlich Frieden h&tte.
Unruh mir die Menschen gaben,
doch zum Sterben keine St&tte.
Meine Brust den Winden often
sink ich nun im Walde nieder.
Sterbend will ich noch erhoffen
eine Zeit fur meine Lieder.
Vive la bagatelle I
Swif
EDISON
Sobald einer Kritik an Deutschland fibt, hort er auf, das Mikrophon
erf unden zu haben.
Dass englische Gesch&ftsmoral vorlfiufig fiber der deutschen steht,
wird stimmen. Sicherheit des Geschfifts muss in einem satten Handels-
staat grosser sein als in einem kraftroll werdenden. Deutschland selber
weiss es. Der Engl&nder, der Waren nach dem Reich schickt, fordert
oftmals Geld, solange sie noch auf englischem Boden ist. Sonst kein
Zentigramm. Noch gehen unsere Geschfifte nicht so glatt, dass eine so
schiere Moral moglich wfire. Englands Geschfifte schon. Moral ist eine
mythologische Bezeichnung ffir gute Geschfifte.
Harrods, ein Londoner Wertheim, verkauft einen mittleren Bade-
schwamm zu sz Mark (welcher ein Millennium hfilt). Dergleichen ist
schon fad als Geschfiftsmoral. Wfihrend bei uns das Ethos der Geschfifte
noch kfinstlerisch, noch pittoresk, noch unsicher ist.
Edison hat nachher manches verleugnet — aber nicht den Satz,
er nach dem Aufenthalt in Deutschland ,,das Standbild der Freiheits-
gottin zu kfissen Lust hatte“. Wem sagt er das. Er ffigte bei: „Der Hass
gegen Kriegsplfine und Kriegssteuem erffillt alle Herzen und schliesst
eine nfitzlichere Betfitigung aus. Grosse Armeen und grosse Rfistungen
drficken die Volker und lassen sie verarmen. ‘ * Edison erfuhr bei der An-
kunft Ehrenpforten, nach der Abfahrt weiche Aepfel. Denn Kritik hat
er gefibt. Er ist aus einem herrlich selbschaffenen Zauberer flugs ein
r&udiger Blodian geworden.
Dennoch bin ich daffir, dass wir die Wahrheit vertragen und er das
GlQhlicht erf unden haben darf. Kerr
THE REINHARDT STAGE
In England beginnt man fiber die Reklame zu lficheln, die Reinhardts
Betulichkeit umgibt (nicht mit seinem Willen, na, nur fiber seinen wider-
strebenden Kopf hinweg). Grein, der bekannte Kritiker, ulkt in der Sonn-
tagsausgabe der Times fiber die in London verbreitete Ankfindigung
folgenden lieben Inhalts: ,, Professor Max Reinhardts wortloses Spiel
Sumunm, welches eine Revolution sowohl in der dramatischen Kunst
des Kontinents wie in der Englands schafft . .“
Grein fiussert schlicht, er schreibe ffir Menschen, weiche die Kunst
lieben. Er stellt ruhig zur Erwfigung, ob das Vorgeffihrte mehr als
ein langweiliges und anspruchssvolles Schaustfick sei („langweilig and
pretentious"). Man scheint Sumurun dort ffir eine H5he deutscher
Kunst auszugeben; denn Grein, welcher die englischen Tingeltangel
kennt, ffigt zu: „Soll dies das Neue sein, was Berlin lehrt — so konnen
wir das zweifellos bei uns besser.“
66 Victor Hadwiger *f*
. . . Andere Notiz in London. Professor Reinhardt plant ,,a Berlin
production". Im Olympiatheater. Riesen-WeihnachtsstOck. (Zweitausend
Statisten. ) Bei den Proben „the call boys will be mounted on bicycles,
and Professor Reinhardt will have a motor-car". Also bei den Proben
dieser Ausstattung werden die Inspizienten Oder Laufburschen auf Zwei-
r&dem hinundherfahren ; Professor Reinhardt selbst im Automobil.
Seit sechs Jahren prophezeit: The new Berlin stage. K.
VICTOR HADWIGER f
Mit zweiunddreissig Jahren 1 Aberein etwas ungewdhnlicherer ,
vielleicht verzQckterer, seligerer Herzschlag, und . . .
Er war eine viel zu zarte Haut Hochgewachsen, den blassen, rot-
blondbartigen Kopf wie lauemd etwas vorgestreckt — der auffallendste
Protest gegen den Typ des rasierten Literaten von heute — ging er
eigentlich nur immer in einer hoheren Luft als die meisten, und witterte,
witterte. . . Sicher auch viele, zu viele Gefahren und Feinde; aber h&ufiger
nur die verborgenste Seele alter Dinge, der toten wie der lebenden, be-
tastete den Schlummer der Wesen, horchte auf Atemzfige, die schon
ins Nichts zerrannen, tiberraschte die Erinnerung des Erstarrten, beschwor
das Bild unter blindgehauchtem Spiegel, und grub und spQrte endlich
unter Schutt und Geroll den Urquell einer Liebe auf, die freilich in irdischen
Lfiften schwer zu bannen als seligste Gemeinsehaft des Kosmischen
sein Dasein zu innerst erhellte — und seinem Schaffen die Schdnheit
gab. . .
Victor Hadwiger hatte grade einem Roman, der schon vier Jahre
darauf wartete, die Tugenden des Verlegers entdeckt. Vorher war er
unter die Meute gefallen, die sich um seine lustigeren, bissigeren Sachen
zankte. Er las noch den neuen Prospekt. Dann starb er.
Oft erinnerte er mich an Stimer. Sein erster pathetischer Sang hub
mit „Ich" an. In seinem jetzt erscheinenden Roman „Abraham Abt"
gibt es ein Intermezzo, eine Allegorie grossen Stils (in der ,Aktion*
veroff entlicht) : Der Sarg des Riesen. Den Riesen, das hohe
lichte Prinzip, totet ein Insekt, die Schmeissfliege, das bose Prinzip. Ich
habe ihn nie befragt, ob er an Stimer dachte. Den auch eine Fliege
schonungslos so um Eigenheit wie Einzigkeit gebracht hatte.
Die Fliege —
Schliesslich hat er sie ganz furchtbar und erbarmungslos gehasst.
Die Fliege, das ekle Gezucht, — die kleinen spuckenden Menschen, die
krabbelnden Kobolde, wie er sie nannte. Er schrieb alles irdische Leid
und boses, schmerzendes Missgeschick daher, von ihrem heimlichen,
niemals gewalttfitigen, nur Ieisen und lichtscheuen Minieren und Wurzel-
nagen. Und nie ging einer durch Welt und Menschen, dem das Odi
profanum volgus schon so an der Stim geschrieben stand . . die Leute
wichen ihm wirklich aus. . . ; aber dann warfen sie doch a us der Ferae
kleine widerhakige Blicke und Pfeile.
<57
Was man nennt das grosse Ochsen - Constable
Und das Allerfurchtbarste zuletzt: dass er ein Recht hatte, so zu ha.««»n
und gebasst zu werden. . Weil er so fiber alle Mas sen liebte, ja fiber
alles Erfassen Welt und Menschen inbrfinstiglich umarmte, ja Alle,
Alles an sein Herz ziehen wollte. . !
Ob sein Leben ein Fragment geblieben: es ist ein solches doch — mit
ihm selbst zu sprechen — „das man lieben muss I “ An. Ru.
Was man nennt das grosse Ochsen.
Die Philologen, fromm und stark, haben jetzt ihren ,,Tag“ gehabt.
Zu Posen posierten sie Philosophiefreundlichkeit. Man forderte : nach
osterreichischem Muster an hoheren Schulen Philosophic als Unterricbts-
gegenstand.
Hat man beachtet, womit ein Redner die Notwendigkeit dieses Unter-
richts begrfindete? „Man soil unsere Primaner Schopenhauer und
Nietzsche nicht mehr kritiklos lesen lassen.“
Was steht bevor? Dass sie den Knaben jetzt neben den Dichtern
auch noch die Denker verekeln.
Dem jugendlichen Gemttt, welches, Toll erhabener Desperationen zu
den Grossten seines Zeitalters flfichtet, soil diese Mdglichkeit, geistige
Qual in geisugen Rausch zu verwandeln, genommen werden. . . . Schopen-
hauer und Nietzsche nicht mehr kritiklos lesen lassen? Man will in
Wahrheit, urn das junge Volk zu ducken, sie fiberhaupt nicht mehr
lesen lassen! Diese Wirkung tritt ein, sobald Philosophie gepaukt wird.
0 Parerga; o Zarathustra: wdret ihr uns erblfiht, so wir ffir den
n&chsten Schulmorgen Kategorientafeln zu ochsen gehabt h&tten? . . .
Wonach weinen des Epheben Zweifel? Nach dem Substanzbegriff bei
Beneke ?
Der J fingling fleht um heilige Formeln. Ich ho re Tfine — grasslich . .
kongresslich. K. Hi.
C ONSTABLE
Noch ein paar Worte des Landschafters fiber Landschaften:
„Die Landschaft Gainsboroughs ist einschmeichelnd, zart und lieblich.
Die Stille des Mittags, die Schatten der D&mmerung wie der perlende
Tau der Morgenfrfihe finden sich auf den Bildem dieses ungemein wohl-
wollenden und gutherzigen Menschen. Vor einer Leinwand von ihm
treten uns Trftnen ins Auge, ohne dass wir sagen konnten weshalb. Die
zwischen Sujets und Kunst nicht zu unterscheiden vermogen, haben ihn
wohl mit Murillo verglichen. Nun, er malte gleich Murillo die Bauem
und das landliche Leben seines Landes — doch damit hort die Aehnlichkeit
auf. Sein Geschmack war in jeder Hinsicht weit verfeinerter als der des
Spaniers. ‘ '
„Der Gipfel der Abgeschmacktheit jedoch, zu dem die Kunst gelangen
kann, wenn die Mode sie von der Natur ablenkt, lfisst sich am besten aus
den Werken Bouchers erkennen. Seine Landschaften stellen Schfifer-
szenen dar, aber Sch&ferszenen der Bfihne. Er selbst sagte cinmal zu
Sir Joshua Reynolds, er habe menials nach dem Leben gemalt, denn die
Natur bringe ihn a us dem Konzept . .
Beide Stellen sind aus einem (bei Paul Cassirer ers chein enden)
Buch, „ Selbstbiographisches aus Brief en, Tagebuchbl&ttera, Aphorismen
und Vortr&gen Constables' ‘ , deutsch herausgegeben von E. MUller-Roeder
und Arthur Rossler. Die kleinen Freuden des Alltags werden sichtbar,
ein bischen Sonne, KQmmemis, Abseitigkeit, das Arbeiten — und der
jihe, trttbe Schluss dieses anderen Mfkllersohns in der Malerei.
Sendungen fOr den polltisdien und den ilterarisdien TeN sind zu adressleren
Gninewald, Gneiststrasse 9;
Leitung des Pan.
Sendungen, weldie die bildende Kunst und den Handelsteil
Beilin W.io, VlktorlastrasseS.
FOr Unverlangtes keine BQrgschaft.
Verantwortiich fflr die Redaktion: Albert Damm, Berlin-Wilmersdorf.
(Alfred Kerr zeichnet reran twortlich fOr die von ihm verfassten Beitrige.)
Gedruckt bei Imberg & Lefson G. m. b. H. In Berlin SW. 68.
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Was ist zu tun?
Was ist zu tun?
Von ALFRED KERR
I.
Der W&hler stand in der D&mmerang und fragte, was zu tun
sei. Ich sah zwischen den Waldb&umen durch. Schattenhaft
war sein Gesicht wie sein Leib. Er trug eine Sonntagskluft,
bald schien es ein Gewand von zeitlosem Schnitt. Alle Gloria
der Kiefem roch durch die Welt
fiber diesen fleissigen un-
.begabten Boden hin, wo eine dilnngrilne Schicht auf Sand und
alten Klamotten ruht. Die Zfige des Wesens waren simpel und
fremd, nein, verwohnt und nah. Wie waren sie ? entgleitend und
wandelvoll. Im Grunde schlief einStfick Aufwfirtsstirnmung;
die Anwartschaft eines Menschen ; sie drang durch alles Brodero-
haltige, durch alle Schwerffilligkeit. Sah er ganz dumm aus, so
erschien er mir noch klfiger als Achilleus und Kaiser Barbarossa.
II.
J - v *
Was ist zu tun ? ... Sie sind, rief ich, immerhin auf einer ge-
wissen Hohe der Zucht. Und Sie werden besser, wenn man Sie
besser behandelt. (Wie die Hunde keinem in Smyrna trotz ihrer
Menge was tun, weil ihnen wurdevoll begegnet wird.) Die jetzige
Regierung, sprach ich, hat in einem einzigen Punkte recht : sie
will keinen Krieg. (Ihn fordert Mancher, der zu Hause bleibt.)
Der Unter-Waechter Bethmann Holzwegs hat in der letzten
Woche durch die Kolnische Zeitung erkl&rt, was mit Agadir
beabsichtigt war. Eine Mahnung zum Beschleunigen: weil der
Bescheid fiber das Fremdenrecht der Deutschen in Marokko ver-
schleppt wurde. Nur um den Schlendrian in der Erledigung ab*
zustellen . . . Von hdchster Talentlosigkeit, wie alles, was die konser-
Yative Weltwirtschaft seit zwanzig Jahren, in einer fortgesetzten
U
Was 1st zu tufa ?
bummssigen Pleite, getan. Eln Bicker bringt um einen geringen
Schuldbetrag fast eine Keilerei des ganzen Dories zuwege — und
lange werden iiberhaupt keine Brotchen mehr bestellt. Trotzdem . . .
Trotzdem ist es falsch, auf die zwei unpopulirsten Obminner
Deutschlands zu schimpfen. Jeder im Lande weiss, dass sie kaum
selbstandig sein koniieh. Warum wolften denn die Nationalliberalen
den Reichstag jetzt mitwirken lassen ? Weil es d&mmert, dass
Bismarck, der treue Diener seiner Horen, von deren einem er
l ,
an die Luft gesetzt worden, einen etwas dynastischen Zuschnitt
jgerriacht hat. Brhat zwar den Eifaigungsgedanken der Hundert-
tatisende, die man nicht herianliess (sondem durch Zuchthaus-
inittel Vom Orte der Handlung fortschob), voUstreckt. Er hat
abef ( sptach ich) die letzte Notwendigkeit eines heutigen Kontroll-
SyStema, in gewordenen, nicht mehr in werdenden Staaten, bloft
unkurelchend gewittert, vie er den Sozialismus nicht verstand.
Nicht Bethmann leidet Schlappen. Nicht Wilhelm frevelt in
Ubergriffen. Sondem . . . enthiillt sich Bismarck nicht ails ein
Aiigenblfcksgenie ? Er ,>hob 4< Deutschland „in den Sattel“ —
ohne die Rontrakte des Stallpersonals hinreichend zu w&geh.
Darum fallen wir mit Unrecht flber Stallmeister und StaU-
jungen her. Bewiri nicht, beschimpfe nicht, Mann, dies*
Armen,-*- sondem trachte nacfa einer Anderung der Reitvor schrif ten .
Nicht dass Unffihige unf&hig handeln ; sondem dass es mdglich
ist, die beinah Unf&higsten auf einen ernsten Platz zu holen:
das ist der Punkt. Nicht dass die Gekiirten nichts konnen; sondem
dass es mdglich ist, Nichtskonner zu kiiren: das ist dier Punkt.
Hiemach miisst du die Wahl treffen.
Wer Deutschland
nach ausseri hehen will, sollinnen anfangen, am zzten Januar
' i *
* t
f t
*
III.
Ffirdie Ursacheh der Novemberrevolution war nicht Wilhelm
voantwortlich; er tat immer nur, was er durite.
Sondem
Bismarck: ersetztefest,
einer dtirien konnte.
Bernhard Btilbws bester, vaterlandisch anst&ndigster Zug
sein ersies Entlassungsgesuch ,
ohne welches, das bischen
Zivil&uf rUhr nicht erf olgt w&re. Was jetzt vor sich geht, ist etwas
I
I
Was ist zu tun?
Verwandtes: die, sozusagen, nationalliberale Revolution. In einem
■ *
geruhigen Volk, wie die Deutschen, werden Revolutionen dann
wirksam, wenn sie von einem Kanzler oder einer staatserhaltenden
Schar eingeleitet sind. Unternehmer, Stiitzen, Leutnants-
schwiegerv&ter wollen erbittert und fast schreiend Unheil
i
durch das Parlament hindern . . Und zweitens sind es Schutz-
zollner, die aufmucken, — obzwar die Parole der schaltenden
Pechvogel bei der Wahl heissen soil: „Schutzzoll! (nicht Frei-
handel!)“. Die Nationalliberalen sind j a Schutzzollner, trotzdem
■ .
riicken sie von Bismarcks spatem Opferhiihnchen ab. Schon diese
-i- 4 *
Tatsache wirkt aufreizend. (Ihre Griinde sind klar: die Industrie,
welche nationalliberal ist, will Marokko mit Erzen, die sonst
vielleicht eine gallische Familie Schneider, mit dem Zusatz Creusot,
schnappt, lieber haben als Kongoland mit franzosischen Monopolen
v
drauf.) In jedem Fall: hier ist ein Misstrauen dffentlich geworden.
Ein Vorgang, mit weniger Larm als die Revolution von X909,
doch wuchtender auf der Wage. Die Novemberadresse der
Konservativen war gemacht, jeder emsteren Auflehnung das
J
Wasser abzugraben. Rotten sich aber die geldverdienenden
nationalen blonden Hochbriiste des deutschen Westens gegen die
* j *
regierenden zwei Opfer: so weisst du, Mann, dass fur Stimmung
und Abstimmung dein Spargel wfichst. Packe zu. Carpe diem.
Indem du ein Deutscher bist, sollst du dich fragen, wie du
ztun deutschen Kriege stehst. Ob du die Torheit tun willst, ihn
^rom Zaun zu brechen — und fur Moglichkeiten Sicheres zu
vemichten. Stosse den Schwindel mit dem Fuss von dir. Vor
eintger Zeit schien der Kampf mit dem englischen Bund gewiss.
i
Er ist es heute nicht mehr. Die Liberalen sitzen dort in der
Macht, wahrscheinlich auf Jahrzehnte. Trotz dem erzwungenen
t
Sekundantenruf Lloyd Georges klagen schon genug franzosiscfae
4
■ T
Stuiuncii* l^ics li&t von kr flftvollcn Scliii tlcn
f 1
wider Deutschland eher ferngehalten als dazu gespomt" . . Ein
Land wie das englische, mit so vielen Einsichten in Finanz-
p ^
.zusammenhSnge, kennt in diesen Tagen das Gleichnis von dem
6 *
72 Was ist zu tun?
Mann der great illusion, dessen Arm erfolgreich wider sein Bein
gek&mpft hat. So liegen die Dinge. Der simple Satz von , , Blut
und Eisen“, in wirtschaftlich schlichteren Zeiten wahr, ist ja
falsch geworden — und der Hauptirrtum (vom gerissenen und
gelassenen Instinkt eines Kr&mervolks nicht mehr geteilt) liegt
im Glauben an die Konstanz eines friiher wahren Satzes.
i
Nur wer von der griinen Wirklichkeit nichts kennt, wird
die blddsinnige Behauptung vor bringen , die Franzosen, dies
entwickelte Volk von Rentnern, Skeptikem, Ungehorsamen wolle
Deutschland anfallen. Halt mi nua. Die Kuh ist fiber das Dach.
geflogen und hat den Schwanz gebrochen. Ich entsinne mich,
wie Zola (der neben allem, was er sonst auf der Welt zu tun hatte,
Frankreich sehr geliebt hat) mir nachsinnend ins Ohr sprach, dass
dieses „peuple g6n6reux < ‘ keinen Angriffskrieg in Europa mehr
beginnen wird. Heut ist ihm das Flugzeug eine Gelegenheit fiir
S&tze, fiir Trostungen, . . . nicht fiir Wikingertaten. Kein arg-
loserer Trick ist denkbar als vom Flugzeug eine Grundwandlung
in einem verfeinten, durch Kritik zersplitterten Volk wohlhaben-
der Einzelmenschen herzuliigen. Die Franzosen sind nicht schafs-
dumm, sie wissen zu gut, dass zwar ihre Eindecker freiwillig in
die Luft gehn, ihre Schiffe jedoch unfreiwillig. Jena und Liberty
sind nicht vergessen. Es ist in Frankreich nicht unbekannt, dass
fiir Pulver zehnjahrige Best&nde verarbeitet sind, von Augias-
fabriken wird geredet, bald brennt es auf dem Diderot, bald
auf der Justice, die Griinde sind keine weggeworfenen Streich-
holzer. Die werden Krieg anfangen ? Halt mi nua. Eins kommt
hinzu: heut ist Indochina gef&hrdet.
Ein Esel sieht es nicht. Im Augenblicke des Kampfes patinierter
Sudchinesen wider nordbarbarisch verottete Mandschus — im
*
Augenblick femostlicher Unruhen muss Frankreich um vier-
undzwanzig Millionen Menschen . . mehr besorgt sein, als
die Turken um Tripolis gewesen sind. Sonst ist es aus. Dazu
die Arbeit in Marokko. Falle, Mann, auf einen Schwindel so
bidder Art nicht hinein. Frankreich iiberf&Ut uns im Traum ■ —
aber nur im Traum.
“Was 1st zu tun ?
73
Jeder den Krieg fordemde Schreibling in Deutschland
Jwelcher zu Hause bleibt) benimmt sich, als ob unser Platzmangel,
ttnsre Zusamxnendrangung, unsre Produktenot verzweifelt wSren.
<Sie sind aber, das entgeht seinem Him, so arg nicht, dass
wir den Unsinn eines Dreifronten- Krieges herauszuf ordem notig
hi-tten.) £r ladet sich die Unklarheiten der Knalldeutschen auf, zu-
gleich der freiwilligen Flottenforderer, haarstrtubende Unklar-
heiten. Ein Punkt zeigt es. Wenn sie eine grdssere Flotte fordem,
sagtdas: wir sind noch nicht soweit. Ja odernein? Aber zugleich
einen Krieg fordem? das sagt: wir gewinnen ihn, wir sind so
weit. Gute Leute mdgen drunter sein, doch ihre Verschworiunen-
heit ist lebensgefahrlich.
Deine Aufgabe, Mann, bleibt es, jene rechnende Einsicht nicht
wirkungslos werden zu lassen, die bei dem grossen Sieg zugleich
die unkriegerischen Verluste voraussieht. Wir wissen seit Agadir,
was allein der Gestus, noch lange nicht der Krieg (und noch
l&ngst nicht die Niederlage ) Deutschland an Geld gekostet. Deine
Sendung bleibt, mit kaltem Blut zu wahlen, nicht mit Hochrufen.
Heute wirst du fiir manches stimmen, was jeder Fatzke fiir un-
moglich erkltrt, fiir papier en, politikfremd, nie erprobt, unreal,
sogar humanitar, theoretisch, feig, trustgiaubig. Weil etliche
von diesen Dingen allmahlich die aussichtsvollsten und hoffnungs-
vollsten und realen geworden sind.
Die Laufte sind nicht gleich. Die alte Schule meckert von
der Stetheit geschichtlicher Gesetze, — wdhrend der Blick
wachsamerer Menschen mit immer schdrferer Klarheit einen auf
wirtschaftlichen Verschiebungen und Verbundenheiten ruhenden •
Wandel beobachtet. Ehemals konnten bei gliicklichem Krieg
Verbilligungen eintreten, Griindungen bliihen : seit den letzten
Handels jahrzehnten ist jeder erfolgreiche Krieg (innerhalb Europas)
fiir den Sieger eine Pleite. Und fiir den Andren ? . . . Jeder
Treffschuss, den du abgibst, Mann, geht in dein Gebein.
SchmShe die zwei Zufallsopfer nicht, dass sie keinen
Krieg wollen. Doch ersetze sie durch dich und deinesgleichen .
IDurch alles, was an tausendfacher Kraft in anderen Liiften lebt,
Was ist zu tun ?
I
gewaltsam ferngehalten vom Startplatz durch enge Hiiter, die
nicht euer grosses Heil, sondern ihre Stellung mit minnlicher
Gebarde und tiefer Unf&higkeit vor den treuen Augen haben.
Wahle, Mann, gegen die Verschwommenen ; gegen die beharr-
same Welt abwirtschaftender plumper Kraftmichel, die uns
nichts eingebracht haben als Lacherlichkeiten und Ruckziige.
Hilf den Nachschub auf die Beine stellen. Du willst, dass
dein Land gross nach aussen sei: du kannst nur im Innem den
Grand dazu bauen. Wirke den Zuzug neuer Seelen. Erb&rm-
licher, als das junge Reich mit den alten gefahren ist, kann es
nicht wieder fahren. Du bist belehrt.
... Das Wesen vor mir schwoU, wagrecht, immer durch den
Wald hin, in der Dammerung, ohne Grenze.
Die B&ume knirschten, heiter und frisch, aber etwas blod-
sinnig, unbelebt, tierhaft. Driiben aber, seitwSrts, an dem fiir
Automobile geebneten Weg, begann eine Elektrolampe zu summen.
4
Flauberts J ugendregungen
■ ' >
*
*
' J
M
■ i
Flauberts Jugendregungen
Von THEODOR REIK
\
Der Wiener philosophischen Fakult&t ist handschri ftlich
fiber die M Psychogenese von Flauberts Tentation die Saint-
Antoine" von diesem jungen fisterrei chischen Foracher tine
den folgenden Abschnitt umfassende Arbeit vorgelegt worden.
Nach des Verfassers Wunsch sucht sie alle inneren Quellen,
* ■ ■ * * *
▼om Schaffen Flauberts aus seiner psychophysiologischen Be-
schaffenheit und den erlebten, namentlich seauellen^ Traumen
aufzudecken. Sie zeigt auch den „grossen Einfluss infantiler
Erlebnisse auf die kfinftige Einstellung Flauberts zur Welt, die.
Wirkung der Pubert&tsjahre." Sie ruht Vor allem auf den
Ergrfindungen Freuds. ;
;■ Nur Bruchstucke der Untersuchung, welphe dps fahl ver-
zweigte Labyrinth eines Menschen ableuchtet, erscheinen auf
den folgenden Blattem. Was Reik hier erf asst, geht fiber die
Grenzen des Flaubert hinaus, der in Deutschland gekannt wird.
An den Beginn hat er ein Wort Nietzsches gesetzt : „Grad
und Art der Geschlechtli chkeit eines Menschen reichen bis zum
hochsten Gipfel seines Geistes hinauf."
H ;
* * ' t
Welcher Art waren die Kindheitserlebnissp ? Es sind die
typiscben infantilen Neigungen. und Abneigungen.
i \
Flaubert
war. ein stilles Kind, von einer ganz ungewdhnlichen , Naivitat.,
Seine Nichte erz&hlt: „Meine Grossmutter hat pair berichtet,
dass er lange Stunden regungslos blieb, einen Finger im Munde,,
ganz vertieft, mit fast dummem Gesichtsa,usdruck.‘ ‘ Aufmerk-
same Psychologen werden vielleicht schon hier die, Vorstufe
w *
jener sp&teren Absencen erblicken. Womit besch&ftigte , sich
das Kind in jenen Zeiten der intensivsten Zuruckgezogenheit ?
Womit alle Kinder sich besch&ftigen : mit alien jenen grossen.
und kleinen R&tseln der Umwelt. Im Mittelpunkt; steht die
grpsse Frage der Geburt des Menschen. . Sie, : bilden infantile
Sexualtheorien. In einem kleinen Roman, dessen. autobiographi-.
scher Qehalt von alien Flaubertkennem erfasst wurde, findet,
sich , eine verbliiffende Aufkldrung. Ein M&dchen . erz&hlt , dort
ihrje Jugendgeschichte. Wir diirfen ohne weiteres pnnehmen,
dass viele Elemente aus der eigenen Kinderzeit .des Dichters
76 Flauberts Jugendregungen
heriibergenommen sind. In der „Bovary“ sind es die eigenen
Versuchungen , welche der Dichter schildert. Diese Verschiebung
*
*
auf das andere Geschlecht war iiberhaupt Flaubert durch seine
stark betonte Bisexualit&t leicht gemacht.
Das M&dchen erz&hlt dort aus ihrer Kindheit: „Wenn ein
Marm mit tnir sprach, priifte ich sein Auge und den Blick, der
davon ausging . . . Durch seine Kleider hindurch bemOhte ich
mich das Geheimnis seines Geschlechtes wahrzunehmen, und ich
befragte dardber meine jungen Freundinnen, ich ersp&hte die
Kdsse meines Vaters und meiner Mutter, und in der Nacht
horchte ich auf das Ger&usch ihres Ehebettes. 44 Es ist die infantile
Sexualneugierde , die hier ihren klassischen Ausdruck findet.
Vor allem ist es das R&tsel der Verschiedenheit des Geschlechtes,
das den Knaben festhllt. Der Held der Novelle, der Flaubert
selbst ist, erz&hlt fast dasselbe von sich. „Gewisse Worte ver-
wirrten midi, namentlich: Frau, Gcliebte ; ich suchte ihre Er-
klirung zuerst in den Biichern, in den Stahlstichen, in den Ge-
m&lden, von denen ich am liebsten die Gewfinder abgerissen h&tte,
vm etwas zu entdecken. Der Tag endlich, an dem ich alles erriet,
setzte mich durch den Genuss in Betftubung, wie eine letzte
Harmonie; aber bald wurde icb ruhig und lebte fortan mit mehr
Freude, ich empfand ein stolzes Gefiihl, indem ich mir sagte,
dass ich ein Mann bin, ein Wesen, bef&higt, eines Tages eine
Fran fur mich zu haben. Das Wort des Lebens war mir bekannt,
das bedeutete fast schon darin einzutreten und davon etwas zu
geniessen, meine Sehnsucht ging nicht weiter, und ich blieb
zufrieden damit, zu wissen, was ich wusste.“ Es ist dies, glaube
■
ich, die stibrkste Bestfttigung der Ansichten Freuds liber die
infantile Sezualitftt, die wir bis jetzt in der Literatur gefunden
haben. Das Kind erh< die Best&tigung, dass Mann und Frau
zwei verschiedene Geschlechter seien . . . Und es fiihlt sich jetzt
fast erlfist: es wird auch einmal eine Frau sich* 4 , wie es so
charakteristisch heisst, haben, wie der Vater. Diese Frau wird
die Mutter sein, der die erste Neigung gilt. Das Belauschen des
Geschlechtsverkehrs wurde fiir das emste Kind zum Trauma.
Es kam ihm fiir seine Mutter, sein Ideal, entwhrdigend vor.
w
Er verglich sp&ter die Mutter mit der Dime, und so blieb die auf
Flauberts Jugendregungen
77
die Mutter fixierte Neigung Vorbild fiir die sp&teren Neigungen
des Kindes.
Das erste Objekt der Liebe des Kindes war die Mutter, das
erste Objekt seines Hasses war der Vater. Wir wollen einmal alles
andere beiseite lassen und uns nur darauf beschranken, den Ein-
fluss dieser machtigen Erregungen im ferneren Leben des Dichters
zu betrachten. An die Scbwester schreibt er (16. November 1842)
liber sein schlechtes Logement, das als Hundehiitte dienen
konnte: ,,Da ist das Bett, das ich fiir die Eltern bestimme, wenn
sie kommen werden. Ich bemerke, dass das, was ich gesagt
habe, eine Unanst&ndigkeit ist — und doch wollte ich nur etwas
Geistreiches sagen und den Angenehmen spielen.“ Wir werden
annehmen, dass er unbewusst etwas Unanst&ndiges iiber die
Eltern gedacht hat. In einer Novellette, die vor das Jahr 1835
fSllt „Le moine des chartreux" (Oeuvres de jeunesse Bd. I,
S. 27) quilt einen Monch fortwihrend ein Gedanke. Er mochte
den Ring des begrabenen Priors haben, an den sich Erinneruhgen
der Liebe und der Jugend kniipfen. Er mdchte ihn haben, nm
in seinem Gefingnis vom Leben und von Gliick zu tr&umen.
Er sieht, wie die anderen das Leben und das Gliick geniessen.
„War es also nicht natiirlich, dass dieser arme Mensch, der keine
Wirklichkeit zu geniessen hatte, sich Illusionen wiinschte, um
zu trftumen ?“ Er steigt also in das Grab des Vaters und holt
■
sich in der Nacht den Ring. Doch seine Laterne erlischt, er fillt.
Einige Jahre spiter wird sein Skelett gefunden. Es ist ganz
erstaunlich, welche Fulle von inneren Erlebnissen sich an diese
Novelle des i3jihrigen Knaben knilpfen . . . Der verbrecherische
Wunsch, der zugleich den Todeswunsch fiir den Vater ein-
schliesst, wird durch den Tod gesiihnt. In den „M 4 moires d’un
fou“ 1838 (Oeuvres de jeunesse Bd. I, S. 532) sind diese inneren
Kimpfe schon zu abstrakten Betrachtungen gefiihrt. „Man wird
dir sagen, dass man seinen Vater lieben und im Alter pflegen
soli . . . Du wirst beides tun, und du h attest es nicht no tig, d ass
man es dich lehre, nicht wahr ? Das ist eine angeborene Tugend
wie das Bediirfnis zu essen — w&hrend man hinter den Bergen,
wo du geboren bist, deinen Vater gelehrt hat, seinen Vater zu
tdten, wenn er alt ist, und er wird ihn toten, das ist — denkt er —
78
Flauberts J ugendregungen
naturlich, und man brauchte es ihn nicht zu lehren. Man wird
dich auf ziehen, indem man dir sagt, dass man sich httten muss,
deine Schwester oder deine Mutter mit einer fleischlichen Liebe
1 zu lieben, w&hrend du wie alle Menschen von einem Inzest
Ef *
abstammst, denn der erste Mann und die erste Frau, sie und ihre
j Kinder waren Bruder und Schwester n — wfthrend sich die Sonne
bei andern Volkern lagert, welche den Inzest als eine Tugend
betrachten und den Brudermord als Pflicht. Bist du schon frei
von Prinzipien, nach denen du deine Lebensftihrung einrichtest ?
Hast du deine Erziehung geleitet ? Hast du mit einer gliicklichen
oder traurigen, schwindsiichtigen oder robusten, sanften oder
bosen Natur geboren werden wollen? Aber vor allem: warum
*
bist du geboren, hast du es gewollt? Hat man dich darttber
gefragt? Du bist also ungliicklicherweise geboren, weil dein
Vater einst von einer Orgie heimgekehrt ist, erhitzt durch Wein
und Schlemmerei, und deine Mutter wird da von den Nutzen ziehen,
sie wird alle Listen der Frau in Szene setzen, die durch sinnlichen
und tierischen Instinkt gedrangt wird, sie wird allm&hlich den
Mann erregen
U
In dieser stark affektbetonten Ausfuhrung
s
t
4
f&llt vor allem die friihe Erkenntnis von der Relativit&t der
moralischen Werte auf. Fast ebenso auff&llig ist der Ton, in dem
der J tingling von Vater und Mutter spricht. Wir haben also mit
einigem Recht von einem unbewussten Willen bei der Briefstelle
an seine Schwester gesprochen. Zwei Motive treten in diesem
Zusammenhang besonders hervor: der Inzestwunsch und der
Trieb zum Vatermord.
Die Libido des Kindes und des Knaben war auf die Mutter
eingestellt. Wir folgen dieser Spur. Alle spateren Neigungen des
Mannes gehen unbewusst diesem Vorbild nach. Der Liebestypus
Flauberts war die verheiratete Frau, die Kinder hatte. Die Be-
dingung war, dass sie einem anderen gehorte. Zeit seines Lebens
hat er eine (wenn auch nur platonische) Liebe zur Prostitution
gehabt. Wie sind diese anscheinenden Widerspriiche zu erkl&ren ?
Freud hat, wie ich glaube, eine Erkl&rung gegeben. Das Kind, das
zuerst das Geheimnis des elterlichen Verkehrs entdeckt, sieht
in der Mutter eine Art Dirne. Das Tertium comparationis liegt
wohl in der rii ckhaltlosen Hingabe der Frau. Und so fixiert sich
Flauberts J ugendr egungen 79
die Neigung des Kindes jetzt auf diesen Typus. Was der Erwach-
sene bewusst nie und nimmer vereinigen kann : Mutter und Dime,
vermag das Kind zu verbinden. Freud hat versucht, die charakte-
ristischen Merkmale dieser Objektwahl zusanunenzufassen: die
wichtigsten sind etwa: der Trieb zur Rettung der Geliebten
(vgl. Flauberts Geburtstraum) , ferner der betrogene Dritte, der
an Stelle des Vaters steht, und die Neigung zum Prostituiertentyp.
Alle diese Momente finden sich im Liebesleben Flauberts. Schon
frtih findet sich in den Arbeiten des Jiinglings die Beschaftigung
mit Stoffen aus der Welt der Prostitution. In der kleinen Novelle
„Un parfum A sentir"*), 1836 entstanden, steht der armen alter n-
den Mutter Marguerite die Dime Isabella mit ihrem ganzen ver-
fuhrerischen Zauber gegeniiber. Der Vater wendet seine Liebe
der schonen Siinderin zu. Noch in der ,, Madame Bovary' * bricht
mehr oder minder verhiillt der Dirnencharakter hervor. In ,,No-
vembre", welches fur die Jugendjahre des Dichters eine unent-
behrliche Quelle darstellt, schreibt der Held**) : ,,Das Geheimnis
der Frau ausserhalb der Ehe, deshalb gerade noch mehr Frau,
reizte und versuchte mich ..."
Wir haben unzweideutigere Beweise. ,,In dieser Epoche,.
da ich noch keusch war, betrachtete ich mit Vergnugen die
Prostituierten, ich ging in die Gassen, die sie bewohnten, ich.
besuchte die Orte, wo sie spazierten, manchmal sprach ich mit
ihnen, um mich selbst zu versuchen, ich folgte ihren Schritten,
ich beriihrte sie, ich trat in die Atmosphere, die sie verbreiteten . .
ich fiihlte mein Herz leer, aber diese Leere war ein Abgrund."
Die Novelle endigt mit der Schilderung eines melancholischen
Verhaltnisses mit einer Dime. —
Dass diese Erlebnisse mit denen des Dichters identisch sind,
geht aus seinen Briefen hervor. Ich denke da besonders an
einen, den er an Luise Colet schreibt. Er spricht von einem ihnen
bekannten jungen Mann: „Noch eines ist mir bei dem gleichen
Individuum leicht biirgerlich erschienen: ,Ich habe nie eine
Kokotte aufsuchen konnen.' Ich erkl&re, diese Theorie erstickt
t- ■ *
*) Vgl. Freud, ttber einen Typus der Objektwahl. ( J ahrbuch ftir
psycho analytische Forschungen. Bd. II.
**) Oeuvres de jeunesse. S. 97.
80 Flauberts Jugendregungen
mich ... Es ist vielleicht ein perverser Geschmack, aber ich
liebe die Prostitution und zwar um ihrer selbst willen, unabh&ngig
] yon dem, was darunter tiegt. Ich habe niemals eine von diesen
i
4ekolletierten Frauen unterm Regen an einer Gaslateme vorbei-
1 gehen gesehen, ohne dass mir das Herz pochte, ebenso wie mir
<lie Monchsgew&nder mit ihren Knotenstricken, ich weiss nicht
* in welchen asketischen Und tiefen Winkeln der Seele kitzeln . . .
Und wire es nur das schamlose Kostiim, die Versuchung der
Chim&ra, der Charakter des Verfluchten, die alte Poesie der
~V erder btheit und Kiuflichkeit. In den ersten Jahren, die ich
in Paris war, setzte ich mich im Sommer an den heissen Abenden
yor Tortoni hin, und wihrend ich die Sonne untergehen sah,
sah ich die Midchen voruberziehen . Ich yerzehrte mich da vor
biblischer Poesie. Ich dachte an Jesaias, an die Hurerei der
Gotzenalt&re und ich stieg die rue La Harpe hinauf, indem ich
mir diesen Vers-Schluss wiederholte: ,Und ihre Kehle ist weicher
denn 0l.‘ Der Teufel soil mich holen, wenn ich jemals keuscher
gewesen bin.“ Flaubert bringt seine Neigung zur Prostitution
•mit der Askese in Verbindung. Psychologisch wohl erkl&rbar:
die verbotene Regung (wir erinnem uns, dass ein Inzestwunsch
I -dahintersteckt) wird durch Einsamkeit und Selbstquftlerei
' gesiihnt. Sollte yon hier aus keine Balm zum Heiligen Antonius
fiihren ?
Eigentiimlich ist das Gefiihl, das der Anblick der Dimen
in dem Dichter lost. In der Strasse der Prostituierten in
Keneh beobachtet er das melancholische Bild . . . „Wenn ich
nachgegeben hatte, wire ein anderes Bild daruber gekommen
und hdtte den Glanz davon abgeschw&cht.“
Wir wissen jetzt aus Tagebuchbl&ttem, deren Verdffent-
lichung der Herr Polizeipr&sident yon Berlin aus sittlichen Griin-
■den verboten hat, dass in Flaubert nicht immer die kiinstlerisch
betonte Verdr&ngung gesiegt hat. In Esneh gab er der
'Courtisane Ruschak Hanem nach. Auch in der minder ani-
malischen Liebe zog er immer die Frau yor, die einem andera
gehorte. Es ist die yon Freud aufgestellte Liebesbedingung des
betrogenen Dritten, die wir erfiillt sehen werden. „Es gab,“
schreibt er, „fur mich ein Wort, das schon unter alien anderen
Flauberts Jugendregungen
8 1
menschlichen Wortem schien : Ehebruch“. Der Mann „£augt sich
mit Lust daran Toll, er findet darin die hochste Poesie, vermischt
mit Fluch und Wollust.“ Wir konunen jetzt in unserer psych o-
analytischen Betrachtung zum st&rksten Erlebnis des Dichters.
Im Jahre 1838 — sechzehneinhalb Jahre alt — sah er
in den B&dern von Trouville, wo er die Ferien verlebte, eine
schone verheiratete Frau. Er erlebte alle tiefsten Empfindungen
der unglucklichen schweigenden Liebe. In den „M6moires d’un
fou“ hat er diese Leidenschaft geschildert. Er sieht Maria zuerst,
wie sie ihrem Kinde zu trinken gibt; also in der — sit venia
verbo • — miitterlichsten Situation. „ 0 , die einzigartige Ent-
ziickung, worin mich der Anblick dieses Busens versenkte . .
(Es folgen Einzelheiten, die leider hier wegfallen mussen.)
Man kdnnte diese Liebe wohl am besten bezeichnen, wenn man
sie in Erotik verwandelte Kindheitserinnerungen nennt. Nach.
einem Ausfluge fiihrt er Maria nach Hause und bleibt lange vor
ihren Fenstern stehen.
„Und dann schoss mir ein Gedanke durch den Kopi, ein
Gedanke der Wut, und der Eifersucht. O nein, sie schl&ft nicht,
und ich hatte in der Seele alle Martern eines Verdanunten. Ich
dachte an ihren Mann, an diesen gewohnlichen und lustigen
Menschen, und die hdsslichsten Bilder traten an mich her an . .
Er muss lachen, denn die Eifersucht flosst ihm obszone und
groteske Bilder ein. Ich suche, wie ich glaube, nicht ohne Grand
das Vorbild aller dieser Gefiihlskomplexe im kindlichen Verhalten
gegen Vater und Mutter, in dem verborgenen Sexualneid. Auch
das Objekt seiner Liebe vertritt die Mutter; es ist an einen anderen
gebunden und hat ein Kind, tlber diese tiefe Neigung, die das
ganze Leben hindurch Flaubert erfullte, hat der Schweigsame
strengstes Geheimnis gewahrt. Er sah die Geliebte spftter in Paris,
und seine Gedanken sind noch spdt im Alter bei ihr. Einmal
nur hat Flaubert- fiber seine Leidenschaft gesagt „Ich bin daran
zugrande gegangen**.
★ ★
¥
Wir haben vermutet, dass diese Liebe in den Bahnen der
friihesten Kindemeigung ging. Wir erinnern uns an Flauberts
Flauberts Jugendregungen
unehrerbietigen Gedanken im Briefe an die Schwester uber die
Eltern und vergleichen die Phantasie in den , ,Memoires d’un
fou“. Wir erinnern uns ferner an , , No vembr e “ , wo von der
Belauschung des elterlichen Aktes die Rede war. Die Mutter
war mit dem Kinde ausserordentlich z&rtlich , ihre grttsste Sorge
gait ihm bis ins Alter. Sie litt unter einer best&ndigen Angst um
ihn. Flaubert wollte die Abldsung der infantilen Libido von der
Mutter nicht gelingen.
Der erste Hass, die erste Eifersucht des Kindes war aui deii
Vater gerichtet. Es mochte auch stark und gross und wissend
sein wie der Vater; es mdchte die Liebe der Mutter allein besitzen .
Es entwickelt sich nach der Latenzzeit dieser Regungen — ge-
legentliche Proben haben wir kennen gelernt — im Pubert&ts-
alter eine Sucht, alle Autoritaten herabzusetzen, zu verhohnen.
Besonders aber ihren verborgenen Zusammenhang mit dem
tierisch-animalischen Zuge nach unten hinter ihrer ftusserlichen
Erhabenheit aufzudecken.
... In der ,, Education sen timen tale* * ist die Spaltung
zwischen dem hohen, reinen Weib (Mme. Arnoux) und dem
Dirnentypus (Rosanette), die wir in alien Werken des Dichters
beobachten konnen und die ein Merkmal seiner Objektwahl sind,
in die vollendetste Gestalt gebracht. Dort findet sich eine Szene,
welche die sadistische Tendenz aufs st&rkste zeigt. Frdderic
Moreau ist in der Wachstube neben seinem schlafenden Neben-
buhler Arnoux. Das Gewehr des Arnoux ist in der N&he. Wenn
man es ein wenig stosst, geht der Schuss los. ,, Frederic spann
diese Idee aus wie ein Dichter, der Entwtirfe macht. Plbtzlich
schien ihm, dass sie nicht weit davon war, sich in die Tat umzu>
setzen, und dass er zu dem, was er wiinsche, beitrage; dann
ergriff ihn eine grosse Furcht. Inmitten dieser Angst empfand
er Vergniigen und tauchte mehr und mehr darin unter, indem er
mit Entsetzen seine Skrupel schwinden fiihlte. In der Raserei
seiner Phantasie erlosch das tJbrige der Welt, und er hatte kein
Bewusstsein von sich als durch ein unertraglich driickendes
Gefiihl auf der Brust. Und seine Triumerei wurde so tief, dass
er eine Art von Halluzination hatte.** Er sieht sich als Vater des
Kindes der Madame Arnoux. Das Vorbild dieser kriminellen
Flauberts Jugendregungen
83
und sexuellen Phantasien hatte Flaubert in sich: seine hysteri-
schen AnfSlle, die von Tagtr&umen ausgingen. Im Nebel l&sst
sich eine Klarheit sehen. £s zeigen sich Pfade, die hier vom
Erleben des Dichters zu seinem Werk (besonders zur , , Versuchung
des Heiligen Antonius“) fiihren . . .
Wir kehren zu dem Knaben zuriick, dem eben die Geheim- 1
nisse des Geschlechtslebens offenbart wurden. Wir gedenken seiner
heimlicken Neigung fiir Frau Schlesinger. Er hing sein
ganzes Leben lang an dieser Frau. Wie tief die Leidenschaft zu ihr
war, kann man nur erraten. Ihr ging eine lange Reihe Knaben-
tr&umereien voraus und bereiteten sie vor.
Die Pubert&t des Herzens ging der des Korpers voraus,
„denn ich hatte nbtiger zu lieben, als geliebt zu werden, mehr
Sehnsucht nach Liebe als nach Wollust . . Er sieht sich noch
sp&t ,,auf den B&nken der Klasse sitzend, versunken in meine
Zukunftstr&umereien , an das denkend, was die Einbildungskraft
eines Knaben an Hdchstem ertr&umen kann, w&hrend der
P&dagog meine lateinischen Verse verspottete“. Fern von den
klassischen Studien sah er sich in den ungeheuren Wolliisten
und blutigen Illuminationen Roms.
Hier, in diesen Jiinglingsjahren ist der Grand zu seiner
sp&teren Hysterie gelegt worden. Keusch, uberliefert er sich in
seinen Traumen des Tages und der Kacht den ziigellosesten Aus-
schweifungen, den wildesten Wolliisten. Die Unklarheit in bezug
auf ein Objekt bleibt, aber der sinnliche Charakter der Traume-
reien tritt starker und stftrker hervor . Oft legte er sich am
Strand auf den Sand und liess seiner Sehnsucht mehr die Ziigel
schiessen. Die Wolken scheinen sich auf ihn zu senken „wie
eine Brast auf eine andere Brust, ich fuhlte das Bediirfnis nach
Lust . . .“
Solange wir eine wissenschaftliche Beschreibung der seelischen
Vorgange der Pubert&t nicht haben, werden die Aufzeichnungen
a
Flauberts zu den kostbarsten Zeugnissen fiir diese Zeit gehoren.
Er verlangte „nicht diese, nicht jene, nicht die eine und die
andere, sondern alle, sondern jede in der unbeschrfinkten Mannig-
faltigkeit ihrer Formen und der Sehnsucht, die sich damit
verband“.
Flauberts Jugendregungen.
»4
Wir sehen meisterhaft den seelischen Zustand, den die sexuelle
U nbefriedigung mit sich bringt, geschildert. Der sexuelle Komplex
hat die Oberherrschaft fiber alle anderen an sich gerissen; seine
Ausstrahlungen gleichen Zwangsgedanken. Welch sonder barer
Widerspruch: er flieht die Frauen und empiindet doch vor ihnen
eine kostliqhe Lust. ,,Ihre Lippen luden mich schon zu anderen
Kfissen als die der Mutter, ich verwickelte mich im Gedanken
in ihre Haare . . .“ ■ .1
. Anf&lle von leichterem Bewusstseinsverlust fehlen nichtt
,,Manchmal verzehrt von grenzenlosen Leidenschaften voll
4
glfihender Lava, die von meinem Herzen floss, mit einer rasenden
Liebe namenlose Dinge liebend, mich tiach pr&chtigen Trfiumen
sehnend, durch alle Lfiste des Gedankens versucht, ftir mich alle
Poesien, alle Harmonien wfinschend, vemichtet unter der Last
meines Herzens und meiner Leidenschaft, fiel ich zerschmettert
in einen Abgrund von Schmerzen, das Blut schlug mir ins Gesicht,
. . . ich bildete mir ein, gross zu sein, ich bildete mir ein, eine letzte
Inkarnation zu enthalten, deren Offenbarung die Welt ver-
wundert h&tte .. . . es war das Leben Gottes selbst, das ich im
Innern trug.“ — Die Verbindung dieser Triumereien mit sadisti--
schen Phantasien kommt hftufig vor. Auch sie ist eine Emanation
der unbefriedigten Libido, wie wir in der „Versuchung des
Heiligen Antonius" sehen.
Die Schattenseiten dieser Phantasiebefriedigungen blieben
nicht aus. Jede einsame Lust muss gebfisst werden: so stark
dr&ngt die menschliche Natur zu sozialen Tendenzen. In dieser
Zeit lernte er Madame Schlesinger kennen.
Arnold. Schbnberg
Arnold Schonberg
' h '
Von GEORG GRAMER
■ * 1
Berlin ist die Habptst&dt der Musik. - Ein wimmelnder’
1
Sammelpunkt des Guten und Bosen der modemen Musikkultur.
+
Das Grosse, Schone und Gewaltige l&uft durcheinander mit dem
MittelmSssigen , mit dem Schlechten und Unertrfiglichen. Das
Neue flfichtet sich hierher voll kiihner Hoffnung auf die Zukunft;
das Alte spreizt sich ihm entgegen mitschdnen Reden auf die
Vergangenheit. Es sind hier zu Haus heisse Begeisterung
und kalte Routine; die schillemde Kiinstlerphantasie und der
geri8sene Gesch&ftssinn; die feinen Nerven, Geschmack und
Barbaxismus. Ein wimmelnder Sammelpunkt; ein lautes Kampf-
feld kunstlerischer und materieller Interessen. Und fiber allem,
als Schlachtenlenker : GottZufall.
Man ist froh, wenn dieser riesige Magnet Berlin etwas Gutes
herangezogen hat. Man freut sich dartiber, wie fiber die Er-
scheinung eines Gerechten unter neunundneunzig Sfindern. Man
rerkfindet es gem: unser jfingster musikalischer Mitbfirger ist
Arnold Schdnberg, dessen Werke in Wien bespfittelt, belacht
und bewundert wurden. Aber wir nun wollen weder das eine tun
■
noch das andere. Sondem wir wollen sehen, was er uns bringt
an guten Dingen
» *
* *
*
k
Arnold Schonberg gehort zu den wenigen lebenden Kom-
ponisten, die fiber das Zeitgem&sse, fiber die zerstfickelnde
impressionistische Schaffensart, hinausgewachsen sind und die
Macht haben, etwas Ganzes in einem Zuge zu vollffihren. Welcher
Art ist dieses Ganze, diese Form Schonbergs ? Welcher Art?
Welches Stils ? Welches seelischen Inhalts ?
3K Er hat Lieder, Klavier stii eke , Kammerwerke fiir vier- und
sechsfache Streicherbesetzung geschrieben und Orchesterwerke.
In keiner von diesen Kompositionen handelt es sich um einen
fiusserlich-formalen Aufbau nach offiziellen Gesetzen. Sie sind
7
*
Arnold. Schfinberg
▼erworfen um eines anderen Gesetzes willen, das die deutsehe
Hohenmusik beherrscht. Schonberg ist ein inbriinstig Empfin-
dender und beseelt von einem schlechthin fanatischen Ver-
langen: ,,wahr“ zu sein. Und hier ist die Stelle, wo er sich der
hochsten Tradition deutscher Musik eingliedert. Denn das Gesetz
der Wahrheit liegt den Schopf ungen der Meister zugrunde.
Weil aber die Zeiten sich &ndem, fordert das Gesetz der Wahrheit
immer neue Ausdrucksformen: eben die, welche jederzeit ihr
Wahres geben. Die impressionistische Musik, d. i. die modische
Pr ogramm-M usik , gehorcht dem Wahrheitsgesetz zwar auch,
allein nur in dusserlicher, spielerisch-artistischer Weise. Der
Wahrheitsdrang, jedemechten Kiinstlerzu eigen, bringt allein keine
echte ,,Kunst“ hervor. Denn n&irlich darauf komrrt es an: das
▼on aussen Empfangene und das, was von innen heraus nach Aus-.
druck ringt, auch. darin wahrhaftig wiederzugeben, dass man es
in einer der St&rke und Eigentiimlichkeit jeder Kunstgattung
h
entsprechenden Art darstellt. Dass man vom Stoff alles abstreift,
was der Kunstgattung fremd ist; dass man ihn lautert und knetet
und zusammendrangt, bis sein Gehalt sich unmittelbar kundgibt.
Das ist die eigentliche kiinstlerische Tat, als welche also zugleich
auch immer eine sittliche Tat (einen L&uterungsakt) vorstellt.
(Weshalb man von einer Unsittlichkeit der modischen Musik
nicht ohne Grund reden kbnnte.) So erscheint es als etwas durch-
aus Vielbedeutendes, wenn man hervorhebt, dass Schonberg ein
musikalischer Gestalter par excellence ist. Wie gesagt : um
schematische oder akademische Formen handelt es sich bei ihm
nicht. Die gewaltige seelische Unrast, die ungeheure Fiille der
Erscheinungen des modemen Lebens, kurz: unsere Zeit, die
hat er als Geburtstagsgeschenk empfangen. Diesen unerschopf-
lichen, in der Seele brennenden und bohrenden Stoff musikalisch
wahrhaftig wiederzugeben, musikalisch-organisch zu gestalten
— welcher brennenden Tone, welcher bohrenden Modulationen
und Steigerungen der Musik bedarf es da! Das ginge in kein
fertiges Schema hinein.
Arnold Schdnberg
87
„Brennende“ Tone — in der Tat. Die Akkorde und die
-Stunmen der Akkorde sind zu Individuen erwacht, die Wild an
T
den alten Grenzen von Harmonie und Kontrapunkt riitteln;
die schwlrmen, hassen, weinen und jubeln wie Menschen in der
Ekstase. Eine bis zum iussersten dringende Energie und
Triebkraft lebt in diesen Tonindividuen. Nicht daher ist ihre
Rolle die der blossen Farbenkleckse, die zusammen ein malerisches
sinneunterhaltendes Chaos bilden. Sie werden von jeder voruber-
gehenden Stinunung, von jeder Leidenschaft gepackt und ge-
1
schiittelt — und dennoch bestimmt und gelenkt von etwas
Grosserem. In dieser verwirrend zusammenrauschenden Menge
von Tonwesen herrscht etwas Einiges, ein, sozusagen, gemein-
samer Glaube an die Harmonie. So scheinbar willkurlich es im
Einzelnen hergeht, man sieht zuletzt, dass es notwendig so ge-
schieht, notwendig um einer starken Idee willen : um der Schdpfung
eines in sich geschlossenen Kunstwerks willen. Denn die tausend
verwickelten Einzelheiten einer Schonbergschen Komposition
bringen letzten Endes — ganz offenbar doch : weil sie so sind, wie
sie sind — einen immer geschlossenen, einfachen, sinne- und
seelebezwingenden Gesamteindruck hervor. Nur wer das zwin-
gende Ganze nicht gehort hat, wird sich stossen an den wunder-
voll riicksichtslosen Einzelheiten des Schonbergschen Stils. Diese
das Detail umklammemde Ganzheit aber, und das Gehaltstarke,
und das unmittelbar aus dem Innern Quellende, ist zu spiiren
in jedem Werk Schonbergs, sei es nun im Umfang gross oder
klein.
In jedem Werk Und jedes Werk anders. Kein aus-
gefiilltes Universalschema, sondem immer von neuem erlitten
und erstritten. Jedes Werk die voile, individuelle Materialisation
einer Seele; der funkelnde Ausdruck einer von den Tiefen des
Lebens ergriffenen Personlichkeit. Dichterwerk.
* *
*
■r
Betrachtet man Schonbergs Werk (im ganzen) aus der Feme,
so scheint es, als wire alles, was im Hexensabbat der modischen
Musik tont und gl&nzt, auch in ihm vorhanden. Tritt man niher,
glaubt man zu erkennen, dass die regellose, willkurliche Einzel-
7 *
existenz der kiinstlerischen Elemente (wie sie in dem Hexen-
sabbath herrscht) in ihm aufgehdrt hat, von einem starken Willen
i * ■ +
zur Harmonie in festgefiigte Formen gezwungen worden ist,
! *
Vom wirren Musikleben Berlins gingen wir aus (die impression
nistische Musik erscheint wie ein Abglanz dieses Lebens), Bin
m&chtiger Organisator beispielsweise, der diesem st&dtischen
Musikwirrwarr einen Sinn, einen Zweck gibe, ihn nach einer
1
umfassenden Idee regelte — wiirde genau das voilbringen, was
« i
Schonberg im Gebiet der produktiven musikalischen Kunst
i . si
h
vollbracht hat. So glaubt man - — bei n&herem Hinschauen.
Kommt man jedoch seinem Werk ganz nahe, sieht man endlich,
dass auch dies das Wesentliche nicht ist. Man sieht vielmehr:
m
h r
unsere Welt, unser Leben (die uns so verwickelt, widerspruchsvoll ,
ziel- und nutzlos vorkommen) gestaltet, zukunftsreich, und wie
f - - ,
verkl&rt im Schein dieser starken, aulrichtigen Musik. Man sieht,
hier etwas intensiv Sub jektives durch die Gewalt der Form
zu einer allgemein giiltigen Menschheitsolfenbarung der Gegen-
i *
wart erhoht worden ist. Mit dieser Musik lernen wir das modeme
■ • . ■ •
Leben begreifen und lieben Das ist das Guta, waauns Schon-
P
berg gebracht hat.
s , *
* *
* .
L
Kraftvolle Konzentration alter neugewonnenen Ausdrucks-
: ^ . +
mittel; eine von ergreifenden Visionen umstromte Phantasies
' ^
ein schwergoldener Gehalt; die im Wert vollige Gleichheitdes
Gehalts mit dem reichen, komplizierten Aussem ; kompakte,
risslose, von ixuen heraus erarbeitete Formen — das in der
Hauptsache wire an musikalischen Eindritcken und Einsichten
aus Schonbergs Jugendwerk (etwa op. x — xo) zu schopfen.
Aus diesem Jugendwerk, das ihm (zumindest) einen Platz in
der vordersten Reihe des zeitgendssischen Komponistenheeres
sichert. Ein Mann indessen, der schon in jungen Jahren mit der
Musik der Gegenwart fertig geworden ist, sie iiberwunden hat,
wird von dieser seiner Kraft weitergedringt. Und Schonberg
ist weitergegangen — bis fiber alle bekannte Musik weit. Von
Anfang an trieb ihn die wuhlende Tiefe seiner Gefiihle und Ge-
danken zu grossen, sehr eigenartig anmutenden musikalischen
Arnold Schdnberg
w^_ -W uU-B
%
Arnold SchSnborg
4
Ausserungen. Aber von Anfang an ist er auch bestdndig und
in gerader : Linie gewachsen. Immer tiefer gruben sich seine
Wurzeln ins Seelenleben, immer hoher hob sich sein Gipiel in
. L *
die blauen Weiten der Kunst. Was ffir gesunde, feine und reiche
■« J
S&fte wirken in diesem Baum.
' Wir greifen begierig nach seiner letzten Frucht; wir be-
j
schauen staunend ihre Form: wir schmecken entzfickt und
* t
zweiflerisch ihr Fleisch. Se etwas haben wir noch nicht genossen.
In planer Prosa: fiber die drei Klavierstficke (op. zi) kommt
j
man nicht so leicht ins Reine. Wohl erf asst das Ohr die fas-
zinierende kfihne Ausnutzung der Klangmdglichkeiten des Klaviers.
Wohl ahnt das Geffihl wundersame Stimmungen und hinaus-
* * 1
geschrieile Herzensndte in diesen seltsamsten alter seltsamen
-Tonverbindunegn. Wohl erkennt man die klingende Harmonie,
x |
die aus tauter harmoniefremden Tonen entstanden ist. Da-
zwischen aber steht einiges lUtselhafte; einiges, was aus dem
Papier nicht herausspringt in uns hinein; einiges (so scheint es) von
der Reflexion experimentell Hingesetzte, das den inneren Zu-
■
Sammenhang verschleiert, den warmen , vollen Gesang kfihl
unterbricht. Ich glaube, diese Stiicke sind erst Obergang, Brficke
zu etwas unerhort Neuem, etwas Nochnieverwirklichtem. Dieser
psychologische Fanatiker scheint darauf aus, mit seinen
Tfinen seelische Gebiete zu erschliessen , die uns noch fremd
sind. In jenen Klavierstiicken zittert es vom Schauer der Geburts-
wehen ; von der Angst, der Schwer mut und der Verzfickung,
die das Neue verursacht, das ins Dasein will. Was wird uns
Arnold Schonberg noch alles bringen? —
1 ,
Vier Gedichte
Strophen eines Vierundzwanzig^
j&hrigen, der aus dem Rheinland
kommt
*
i
Vier Gedichte
■ ■
H
Von AUGUST VETTER
n ""
ES DUNKELTE
Es dunkelte. Gespenster tauchten
schwarz schwankend aus dem Wolkenmeer.
Die tiefen feuchten TSler fauchten
den Nebel her.
4
In seinem Sterbezimmer brannte
die Lampe noch und schien aufs Feld.
Ich war allein. So einsam kannte
nur Gott die Welt.
*
Meine Seele traumt, sie sahe
durch die Nacht dich hergefiihrt;
und sie wartet, es geschahe,
dass sie deines Atems Nahe
spurt.
Mein Gesicht ruht in der Kiihle,
Die sich durch das Fenster dringt
bis ich sie wie Atem fiihle,
der sich sanft in meine Schwule
senkt.
Nun bin ich in deinen H&nden
und so ftihlbar eins mit dir,
dass es rings in roten BrSnden
strahlt von meinen dunklen W&nden:
Wir —
*
r
SZENE
Du littest ruhig meinen Arm,
Der priifend sich um Deine Rippen
+ 1
langsam wie eine Tatze krallte,
und wehrst auch nicht, wenn ich die Lippen
nun frech in deine Lippen falte . . .
■
.
Doch stdrten Schritte jetzt den Kies,
P
6 ja, du wurdest zu mir flehen,
H
ich weiss es, dass ich mich entfeme —
Ich wiirde, mich vemeigend, gehen,
und hohnen: Geme ...
i ^ j
SPANNUNG
• ■
i
Winde sauseln ihren Psalter.
leise losen sich die Falter
■-
aus der letzten Hulle los . . .
*
last durch deines Kleides Zierden
lauem wachsende Begierden
wartend im verhiillten Schoss.
Hefe
h .
% -
Was man gegen die agrarische Wirtschaftspolitik auch eln-
Wenden mag, — d i e Anerkennung muss man ihr zollen, sie ist
, bis zur Tollheit konsequent. Kaum ein Gesetz der letzten Jahre,
yon Verwaltungsmassnahmen gar nicht zu reden, kann genahnt
werden, das nicht often oder versteckt dem Grossgrundbesitz
und seinen Helfershelfern Sondervorteile zuschanzte. In alien
^ *
w
i nur erdenklichen Formen tiitt diese gesetzge ber ische Gesch&fts-
macherei auf, immer breiter macht sich die legalisierte
Korruption.
Blossgelegt sind allerhand Finessen agrarischer Gesetz*
gebungskunst wieder in dem Kampf, der sich seit der Ver-
abschiedung der Reichsfin&nzreform in der Hefe* Indu-
strie abspielt. Zu den Perlen der Finanzreform gehfirt das
Spiritusgesetz, dessen Neubestimmungen : die Einnabmen aus
der Spiritussteuer f(ir die Reichskasse erhdhen sollten, aber yon
.ihren Urhebern zu verst&rkten Gewinnquellen fiir die alien
Grossbrennereien ausgebaut wurden. Die Urheber des
Gesetzes sind die Leiter der Spirituszen-
t r a 1 e , des Ringes der Brennereien und Spritfabriken, deren
politischer Einfluss nicht weniger weit reicht als ihre wirtschaft-
. liche Herrschaft.
Zum Wohle des befestigten Brennereibesitzes ist Brenne-
reien, die yor dem x. Oktober X907 betriebsf&hig hergerichtet
Waren, nur die Her stel lung yon so yiel Alkohol erlaubt, als sie im
Durchschnitt der Jahre 1902/03 bis 1906/07 nach Abzug yon
10 Prozent produzierten. Bei tlberschreitung der festgelegten
Erzeugungsmengen ist eine besondere Abgabe zu bezahlen, als
Ausgleich dafur erhalten neue Fabriken fiber-
h a u pt kein Produktionsrecht, sondern unter-
liegen mit ihrer gesamten Produktion neben den anderen Steuem
der Abgabepflicht yon 24 M. pro xoo Liter. Aber damit waren
die Ansprfiche der Spirituszentrale noch nicht befriedigt, . sie
brachte in das Gesetz den Verg&llungszwang hinein,
den Zwang, einen erheblichen Teil der Spiritusproduktion durch
Denaturierungsmittel fur den Trinkkonsum und chemische
M
Zwecke unbrauchbar zu machen, also zu entwerten. Aus-
genommen von dem Verdreckungszwang wurde dabei yon vorn-
herein der Spiritus innerhalb der Kontin-
gente der alten Brennereien.
Dem so gearteten Spiritusgesetz unterstehen auch dieHefe -
fabriken, weil sie Spiritus als Nebenprodukt erzeugen.
Kaum war die Reichsfinanzreform unter Dach und Fach, da
traten jene Fabriken, die sick gegen neue Konkurrenz vollig ge»
schiitzt glaubten, zu einem Syndikat zusammen . . . Schnell aber
iolgten peinliche Oberraschungen. Eszeigte sich xl&mlich cine
Xu eke im Gesetz, die nun ganz plotzlich von den Herren der
Spirituszentrale entdeckt wurde. Fiir 3 Melassebrennereien
bestand ein steuerliches AusnahmeyerhSltnis, sie konnten in
Hefebrennereien umgewandelt werden, ohneihfe steuerliche
Vorzugstellung dadurcb nennenswert zu verschlechtem. Z w e i
dieser Melassebrennereien befanden sich
1 m Be sitz eines Herrn Untucht, der zu dem
Direktorium der Spirituszentrale gehort.
Herr Untucht forderte yon dem Hefesyndikat die Zahlung yon
z Million Mark, als Gegenleistung versprach er, auf die yon
ihm geplante Umwandlung seiner zwei Melassebrennereien in
Hefebrennereien zu yerzichten. Zwar wurden diese Wiinsche
. nicht in ihrem ganzen Umfange erflillt, aber das Syndikat gestand
Herrn Untucht die Zahlung yon jihrlich 50 000 M. zu, indent es
dim ein Produktionsrecht auf seine Melassebrennereien in Hdhe
yon 10 000 Zentnern fur das Jahr zubitligte, das weiterhin vom
Syndikat der grossten Presshefefabrik ubertragen wurde, zu
deren Aufsichtsratsmitgliedem iibrigens Herr Untucht gleichfalls
gehort. Geschlossen wurde dieser Vertrag auf die Dauer yon
.10 Jahren, so dass Herr Untucht sich immerhin
eine Hefepension yon 500060 M. zu sichern
wusste.
Zugleich mit diesen privaten Gesch&ften ihres Direktors hatte
die Spirituszentrale yon den syndizierten Hefefabriken, die der
Spirituszentrale in ihrer Eigenschaft als Spiritusproduzenten
noch nicht angehorten, den sofortigen Anschluss yerlangt. Auch
diese Forderung erfullte sich grosstenteils, die Verbindung wurde
ixhmer intimer, und seitdem erfreut sich das Hefesyndikat der
. Hu d des Spiritusringes, es wurde zu einem der bekannten Giiter
der Nation, die gegen alle Angriffe geschiitzt werden mussen.
Was eine so hohe Protektion bedeutet, hat das Hefesyndikat
. gar bald gemerkt, als d i e Revolution in der Hefe>
Industrie ihr Haupt erhob. Die Rolle der Revolutionftre
Spielte wieder einmal dieTechnik, der ein neues Hefebereitungs-
yerfahren gelang. Wdhrend die gut eingerichteten Hefefabriken
bisher eine Ausbeute yon 32 Prozent Hefe und 9 Prozent Spiritus
erzielen, werden durch das neue Verfahren bis 50 Prozent Press-
hefe und ca. 6 Prozent Spiritus gewonnen. Infolge dieser
grossen Hefeausbeute kann bei dem neuen
Verfshren auf die Verwertung des Spiritus
y e r z i c h t e t w e r d e n , so dass die damit arbeitenden Fa-
briken ausserhalb des Spiritusgesetzes stehen und von den hoheh
Belas tungen, denen insbesondere n e u e Fabriken unterworfen
sind, befreit bleiben . . . Schon wankte das Hefesyndikat in seineh
Crundpfeilern, die inneren Differenzen nahmen st&ndig zu,
Kampfpreise wurden fiir verschiedene Gegenden beschlossen,
denn in Hamm war ein Unternehmen gegriindet worden, das
das neue Hefebereitungsverfahren erworben hatte und anwendete.
In dieser Zeit der hochsten Not winkte dem Hefesyndikat Rettung
dutch ein unerwartetes Gluck: die neue Hefefabrik,
die sich trotz Verzichtleistung auf die Verwertung yon Spiritus
ausserordentlich konkurrenzf&hig zeigte , wurde polizei-
lich geschlossen. Aus sanitatspolizeilichen Grunden
erfolgte die Betriebsstillegung, Anwohner batten Beschwerden
iiber gesundheitsgefahrliche Einwirkungen des abfliessenden
Spiritus erhoben, den Beschwerden wurde stattgegeben.
Bei allem Gluck verloren die Herren des Hefesyndikats und
der Spirituszentrale die ruhige Besonnenheit nicht. Sie sagteri
sich, dass es schliesslich keine unlosbare Aufgabe sein kann,
ein paar Orte in Deutschland ausfindig zu machen, in denen
Hefefabriken, die mit dem neuen Verfahren arbeiten, geduldet
wurden, wenn durch Beachtung aller VorsichtsmaBregeln auch
die letzten sanitatspolizeilichen Bedenken fortfielen. Um diesen
Gefahren zu begegnen, kam man auf die einfache Idee, von den
Regienmgen auch die Besteuerung jenes Spiritus zu verlangen>
der von Hefefabriken gar nicht verwertet, sondern weggegossen
wird. Damit waren alle Schwierigkeiten des Hefesyndikats geldst,
die neuen Hefefabriken miissten fur ihren gesamten Spiritus die
Sonderabgabe von 24 M. pro 100 Liter bezahlen und werden in
ihrem Wettbewerb trotz hoherer Leistungsfahigkeit unterbunden,
— denn die alten Hefefabriken sind fur die ihnen gesetzlich zu*
stehenden Produktionsmengen von der Sonderabgabe fren
Nach offiziosen Meldungen ist der Bundesrat geneigt, diese
Forderungen zu erfiillen, die nur das eine Ziel und den einzigen
Zweck haben, den unter dem Protektorat der Spirituszentrale
stehenden Hefefabriken jede neue Konkurrenz vom Halse zu
halten. Ein technischer Fortschritt ermog-
licht eine Verbilligung der Hefefabrika*
tion, aber er darf nicht zur Anwendung
kommen, weil eine Storung der Geschafts-
interessen einer begnadeten Clique ver^
hindert werden soil. Die Hefepolitik ist keine Aus-
nahmeerscheinung, sie ist gemeinhin die preussisch-deutsche
Politik, die man in der Sprache des Philosophen der gottgewollten
Abhangigkeiten — Schutz der nationalen Arbeit nennt.
KRITES
Vive la bagatelle
Swift
I
KRITIKER?
*k
Die Secession versendet folgenden Protest:
„In der Nummer des ,Tag* vom 14. Oktober finden sich in
einem Artikel des Herm Hans Rosenhagen folgende Satze: ,Es kann
dem Kaiser nicht verdacht werden, dass er sich ablehnend gegen die
Mitglieder einer Kiinstlergruppe (das ist : der Secession) verhalt,
aus deren Lager ihm bestfindig Schm ah ungen entgegenschallen und
deren Existenz gegenwartig eigentlich nur noch durch ihre Oppo-
sitionsstellung kiinstlich aufrecht erhalten wird.‘
Allen denen gegeniiber, die mit kiinstlerischen Dingen auch
nur oberflachlich vertraut sind, bedarf es wohl keiner Richtig-
stellung dieser unerhorten Verdachtigungen ; der breiten Oeffent-
fa
lichkeit aber gegeniiber mlissen wir zum Schutze der Kfinstlerver-
einigung, deren Interessen wir zu wahren berufen sind 9 feststellen,
dass die Berliner Secession jederzeit nur kfinstlerische Ziele verfolgt
hat und solche auch jetzt noch allein verfolgt. Herr Rorsenhagen
aber hat die oben wiedergegebenen niedrigen Unterstellungen wider
besseres Wissen erhoben, da er durch jahrelange Beziehungen zu
unserer Vereinigung fiber deren Verhaltrusse genau unterrichtet ist.
Herr Rosenhagen, der fur sich den Rang eines Kunstkritikers in
Anspruch nimmt, hat bei seinem Vorgehen ganz ausser acht ge-
lassen, dass ein Kritiker ein objektiver Richter, aber nicht ein Ver*
leumder sein soil. 44
Das Berliner Tageblatt vom x6. Oktober druckt diesen Protest ab
(unter Weglassung des Wortes „niedrigen‘ 4 vor U nt erst ell ungen) und
kommentiert es unter anderem mit folgendem Satz :
,,Es ist ganz un verstandli ch , was Herr Rosenhagen mit seinem Satz,
der bedenklich nach Denunziation schmeckt, eigentlich hat sagen wollen. 14
Hans Rosenhagen hat weder auf den Protest noch auf die Bemerkung
des Berliner Tageblattes bisher mit einem Wort erwidert.
Hans Rosenhagen war lange Jahre hindurch der eifrigste Verteidiger
der Secession und der secessionistischen Kunstler* Er war mit vielen
der Fiihrenden personlich befreundet — ihm waren die Gedanken und
die Meinungen der Secessionisten nicht verborgen. Er hat niemals ge-
sagt, dass ihn die temperamentvollen Aeusserungen fiber die Ungerechtig-
keit der Regienmg, die jahrelang einen Boykott gegen die Kfinstler der
Secession ausgefibt hat, irgendwie verletzt oder unangenehm beruhrt
h&tten. Im Gegenteil, er hat immer wieder dazu geraten, gegen diesen
Boykott anzukampfen. (Uebrigens waren merkwurdigerweise von diesem
Boykott stets die Bildhauer ausgenommen) .
Vor einigen Jahren lockerte sich das Verh<nis zwischen der Secession
und Rosenhagen. Es ist durchaus nicht merkwfirdig, dass ein Kritiker
Kritiker?
t
seine Meinungen wandelt. Es ist nicht verdichtig, wenn er das, was er
einst schon gef unden hat, haute verurteilt — wogegen er einst k&mpfte,
jetzt beffirwortet. Die Aenderung des Geschmackes ist in der menschlichen
Natur begrtindet Bei Rosenhagen ging aller dings die Wandlung etwas
rasch vor sich. Wenige Wochen genQgten damals, urn alle seine Meinungen
zu ver&ndem. Aber auch dieses ist moglich.
Und wenn schliesslich ein Kritiker den Kampf aufgibt und -damn
denkt, {fir sich selbst zu sorgen, die unsichere Zukunft eines oppositfoneUen
Kritikers mit der sicheren Stellung eines Sekret&rs der Akademie ver-
tauschen will, so ist das wohl nicht geeignet, dem Idealismus eines jugend-
lichen Kunstenthusiasten zu genQgen. Aber wer das Leben kennt und
weiss, wie materiell unsicher und wie domenvoll und schwierig das Amt
eines Kritikers ist, der wird sich zwar nicht freuen, wenn der Verdacht
an ihn herantritt, ein alter Kamerad sei abgef alien, er wird aber doch
faarte Worte fflr den Ruhesuchenden vermeiden.
Rosen hagens plotzlicher Umschwung, sein unmfissiges Lob Arthur
Kampfs und Professor Justis, das Ger&cht, dass er die Sekretirstellung
an der Akademie auf diese Weise zu erreichen hoffe, das alles hat bei
den Secessionisten keinen Hass erregt ; soweit man die Absicht glaubte,
wurde sie mit einem mitleidigen und verstindnisvollen Lftcheln auf-
gftoommtn.
Gegen Professor Justi wurden Angriffe gerichtet, dass er auf seinem
Posten bliebe, obgleich er gezwungen wire, sein Amt als ungerechter
Richter zu verwalten. Er darf nicht prhfen, ob Liebermann, Corinth,
Slevogt, Hdbner und die anderen gute oder schlechte Bilder malen, die
wttrdig sind, in die National galerie einzuziehen; er muss sich dem Verbot
ffigen, diese Bilder ohne Pr&fung abzuweisen. Vergleicht man das Amt
eines Galeriedirektors mit dem eines Richters, hilt man Gerechtigkeit
fiir die Haupttugend eines Galeriedirektors, so muss man natiirlich denen
beistimmen, die die Angriffe gegen Justi richten. Aber es ist so leicbt,
Professor Justi zu verteidigen. Ein Galeriedirektor ist kein Richter. Der
Ankauf eines Bildes ist nicht dasselbe wie ein Gerichtsverfahren. Ein
Khnstler ist noch lange nicht verurteilt, wenn seine Werfce auch nicht in
der Nationalgalerie hingen.
Statt dieser einfachen Verteidigung greift Rosenhagen in seinem
Uebereifer zu dem tdrichten und verderblichen Mittel, die U nmoglichkeit
des Ankaufes der secession! stischen Bilder zu beweisen. Er hat damft
Professor Justi einen schlechten Dienst erwiesen, fiir den er keinen Dank
erwarten kann. Sich selbst aber hat er urn das Recht gebracht, un-
verd&chtigt durchs Leben zu gehen. Vor kurzem ein Anreger zum Wider-
stand gegen die Regierung — heute der Denunziant bei der Regierungl
Wann hat Rosenhagen seine Anschauungen gewandelt? Er muss sich
dardber iussern; er muss sagen, wann es geschehen ist; sonst mfissen
die, die seine energischen Reden gegen die Regierung gehort haben,
glauben, er habe nicht seine wahre Meinung ausgespr ochen ,
sondern er habe die Secessionisten zu unklugen Schritten aufreizen
wollen.
Ein neuer Typ wire geschaffen: Der Kritiker als agent provocateur.
P. C.
1
I
Kythera, Pflicht und Mancke - Anwftlte
97
1 - ^ ■ 1 i 1
KYTHERA, PFLICHT UND MANCKE
* « . ’ + *
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Merkwfirdig, dass Harden fiber Mancke nichts geschriehen hat. Wie
mag Ihm bei Georg Bernhardts wacker ausgefochtenem Prozess ums
Hexz gewesen sein ? In der von Mehring so getauften „Zukunft“ h&tte von
rechtswegen ein Artikel fiber Formen der Beteiligung stehen mfissen.
Die schlichteste Form sind hundertffinfzig Mark {fir Lust und Liebe
pro Sitzung. Das wurde Mancke’n zugebilligt. Wie verschieden davon ist
es, ein bevorzugter Savonarola mit Kortingaktien zu sein. Sonderlich,
wenn bereits edlere Einnahme quellen durch die wochentliche Versicherung:
„Ich bin fi Patriot'* und eiskalte Tone falscher Ergriffenheit bestehn.
M«n soil niemandem ohne Zwang in seinen ffinfzigstenGeburtstag spucken.
Herr M. Harden ist durch etliche der Orte, wo man ihn ieierte. bestraft
genug. Und mag nun die regelm&ssige Behauptung, schreddiche
Gefahr drohe, wenn er sie nicht abwende, mfindelsi cher sein oder nicht,
so liegt hier jedenfalls ein Grund zur Andacht {fir manche weltfremde
deutsche Haut. Der Jubilar z&hlt zu der mit dem Wort , , Hurramausche' *
bezeichneten Gattung (welcher in Frankreich unter anderen Gaston
PpUonais, genannt le juif pollonais, beizurechnen ist.)
Der edle Pflichtwichter, welcher (nach Eulenburg) Oberbamim und
Kythera zu „rfigen“ von seinem Gewissen gedrfingt wird, ist vergesslich. Er
vergisst immer die Frage zu beantworten, ob er um dieselbe Zeit unappetit-
liche Handlungen perverser Schwiche betrieben hat' oder nicht. Flora
Gass war immerhin bloss ein Exemplar — und alles ging mit rechten
Dingen zu. Verh< er sich {ortgesetzt stumm: so will ich nicht etwa
glauben, dass Herr Harden ein Feigling mit den Allfir en eines Angreifers
ist, hi. ? . . sondem, dass ihn ein vaterlindisches Gehehnnis zwingt, in
ernster Pflichtleistung den Schlfissd treu zu bewahren. « err
*
*
anwAl te
Ein Metternichverteidiger hatte den Detektiv gemacht. Die Anwalts*
kammer gestattet zwar ihren Mitgliedern den Besuch eines Tanzraums*
Der Anwalt kam aber nicht hin, um zu tanzen; sondem seiner Partei zu
hfitzen* Das gestattet sie nicht* Er sieht irgendwo ein Frauen*
zimmer, das Auskunft geben kann, ob eine Ankl&gerin seines Kimden
geschwindelt. Soil er nicht ah ihren Tisch gehen durfen? Soli er sich
Dritte mieten, mit Umst&nden, Schwerf&Uigkeiten ? Wer btirgt thin ,
dass diese M&del fibermorgen noch aufzutreiben sind ? Hingehn, zu*
greifenl Soil auch der Rechtsanwalt vom Nimbus erhabener Femen
h
umwittert sein? Ob solche Besprechungen beim Schiebe-step er*
{olgen, geht die Standeskammer gar nichts an. Der Verteidiger ist ein
a J
selbstandiger Privatmensch mit, vor allem, dem Bend, seinem Schutz-
befohlenen zu helfen. Wieso durch Notiren im Ballsaal die fibrigen
Anw<e herabgesetzt werden, leuchtet nicht ein. Festlich geschmfickte
Halftem sind {fir einen Beruf der au{spfirenden Tfichtigkeit undenkbar.
Wettbewerb enth< oft Taktlosigkeiten. Aber der Wettbewerb ist
es, der sie ihm vorwirft.
1
POIRET IN BERLIN
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Vorstandsdamen des n Vereins gegen Wort und Bild“
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Der Trappsst
DER TRAPPIST
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Ich traf den Schriftsteller James Gothisch mittags In der Tauentzien-
strasse. Wir kannten uns noch von einer Zeit her, als ich Leichname
zerschnitt, w&hrend er einem Publizisten den Brockhaus wSlzte. . Nun
promenierten wir miteinander. Unter dem blendenden Himmel gab es
Getese, Gcstrudel, lebende Fregatten. J. Gothisch war ganz in khakeliges
Grau gehullt; und damit man ihn verkenne, trug er zu Haupten eine steife
Melone* Er schimpfte auf den tauten Betrieb, auch auf meinen bunten
Shlips. Vor einem Schaufenster blieb ich stehen; er musste mit; aus
Sftgesp&nen lockten, apf el gross und mit angepuderter Madchenhaut, viele
Pfirsichkugeln: schon, fest, samten. Ich bemerkte: „Sehn Sie nur diese
prachtvollen Frfichte, dieses Gebettetsein, den Teint ; welch kernige Siisse
mussen sie enthaltenl 44 J. Gothisch, iiberlegen, als wfire ich ein Materialist,
schwieg. Ich erwiderte: „Empfinden Sie denn dabei nichts ? reizt denn
sowas nicht Ihre Nerven? ich glaube, Sie sehen das gar nicht / 4 Er zog
das Fleisch unter den unteren Augenrfindem in Faltchen und dusserte:
, f O wohl; aber ich sag* es nicht; dies ist der Unterschied zwischen uns
zweien." — „Inwiefem so feindlich ? 44 antwortete ich; „Erlebnisse, auch
die anspruchsl ose r en , zu Wortgebilden zu machen, die Seele formulatim
zu * . prostituieren, ist des Literators Sendung schliesslich; meinethalben
sein Fluch, aber doch sein wildes Gltick; warum sind Sie stolz auf Schweig-
samkeit ?“ J. Gothisch liess die Mundwinkel fallen. Ich erg&nzte mich:
,,Mit welcher Begriindung kann einer, der vorhat, Kunst zu schaffen,
Verhaltung propagieren; Nonnigkeit, Askese, Dyspepsie ? 14 Seine Mund-
winkel f ielen rapider; die F<chen unter den Augen wurden giftig, drohten,
bissen, beizten ; er sprach : „Literaten sind schlaff und zuchtlos; des
Reichtums Merkmal ist Kargheit; ein Mann von Haltung kehrt seine
Individualist nicht hervor ; man zeigt nicht dem Pobel — lasen Sie
Bahrs ,Agariste 4 ? — dass man etwas Besonderes konne; Distanz muss
man wahren; es kommt darauf an, nie deutlich zu sein; das Leben ist
ein Schattenspiel auf einer spirituellen Bfihne; wir sind die Reflexe von
Marionetten; Geb&rde ist alles . . . Er lobte unvermutet Wilhelm
Raabe, dann N oval is, dann den Jan Nicolai Everaerts. Ich war fur die
Grossstadt und lateinische Klarheit, er fiir Landleben und Mystik.
Pries ich das Hiesige, pries er das Marquisige. Als ich Ibsen heranzog,
geriet er, nicht ohne zuvor sich entschieden gegen Temperament aus-
gesprochen zu haben, in Wut fiber jenen Indiskreten. „Nur Kunst, die
uns nichts angeht, ist fiberzeitlichen Wertes“, schrie er; „und je weniger
eine Dichtung redet, desto tiefer ist sie ▼erwurzelt. << Als er mir erzdhlte,
er arbeite gerad an einer Romanze fiber ein Marienbild Cranachs des
Aelteren, sagte ich Adieu.
Abends im Cafd wandte sich Gladys an mich. die Allwissende, der Nabel
der Literatur: „ Haben Sie schon gehort, wo der Gothisch, der James
Gothisch, hingehen will, wenn er mit seinem Buch fertig ist ?‘ : — ,,Den
,Abriss einer Philosophic der Pantomime 4 meinen Sie ?“ „Ja.“ —
, ,Wohin ?“ — „Zu den Trappisten 44 , zirpte sie. Kurt Hiller
100
Die Verwandtschaft
DIE VERWANDTSCHAFT
Aus dem Metternich-Prozess klingen die Inserate der Verwandtschaft
nach. Noch mitten dr in, in fettesten Buchstaben, Abdruck einer Notiz:
,,Wer sich uber das An und Auf des Metternich-Prozesses genau unter-
richten will, dem seien Landsbergers Bucher herzlichst empfohlen. Berlin
W. wie es von innen aussieht . . Offenbar geschah dies nur vom
Verlag und gegen das heftige Strauben A. O. Webers.
Zweite Notiz der Verwandtschaft. Von der andren Seite. ,, Claire
Vallentin, die in dem schwebenden Prozess vielgenaimte Frau des Grafen
Gisbert Wolff-Mettemich, wird mit einem eigenen Ensemble im Apollo-
theater in Wien gastieren." Seh’ einer an. Beigefiigt, dass es in „einem
von ihr selbst verfassten Einakter geschehen wird.“ Nun dal
Sendungen fdr den polltischen und den llterarisdien Tell sind zu adressleren
Grunewald, Gneiststrasse 9;
Leltung des Pan.
Sendungen, weldie die bildende Kunst und den Handelsteil betrefien:
Berlin W.10, VlktoriastrasseS.
Fflr Unverlangtes keine Bilrgschaft.
Verantwortlich fur die Redaktion: Albert Damm, Berlin- Wilmersdosf.
(Alfred Kerr zeichnet verantwortlich fur die von ihm verfassten Beitr&ge.)
Gedruckt bei Imberg & Lefson G. m. b. H. in Berlin SW. 68.
Der liebende Flaubert
ioz
Der liebende Flaubert
Von THEODOR REIK
Em Schlusskapitel aus der osterreichischen Handschrift.
Ein MenschenbelegstQck.
Mancher, der es liest, wird sagen: „Angenehmer Beruf .
Angenehme Leute . .
Muss der Boden von dieser Art sein, auf dem tiefere
-# *
Dichtungen wachsen ?
Ich glaube, die Frage bleibt anders zu stellen.
Der Boden ist so sehr anders nicht bei btkrgerlicheren
Gestalten. Nur gibt es dort keme Feststell ungen. Hier
gibt es welche. K.
Er lernte Mme. Schlesinger kennen. Wir wissen schon,
welche Rolle diese Frau in seinem Leben spielt. Noch acht Jahre
sp&ter schreibt er dariiber an seine Geliebte: ,,Der junge modeme
Mensch besitzt eine Seele, die sich mit 16 Jahren fur eine unge-
heure Liebe offnet, die ihn den Luxus, den Ruhm, alien Glanz
des Lebens begehren lasst, diese schmelzende und traurige Poesie
des Knabenherzen — hier ist eine Seite, die noch nietnand be-
riihrt hat. O teure Freundin, ich will Dir ein hartes Wort sagen,
und dennoch entspringt es der ungeheuersten Sympathie, der ver-
trautesten Freundschaft. Wenn Dich jemals ein armer Knabe
lieben wird, der Dich schon findet, ein Knabe wie ich es war, so
schuchtem, furchtsam, zittefnd, der Angst vor Dir hat und der
Dich sucht, der Dich meidet und Dich verfolgt, sei gut mit ihm,
stoss ihn nicht zuriick, gib ihm nur Deine Hand zum Kuss, er
wird sterben vor Glficksrausch. Verliere Dein Taschentuch, er
► i
wird es nehmen und damit schlafen, er wird sich darauf unter
TrUnen herumwfilzen. Das Schauspiel von neulich*) hat das
Grab gedffnet, wo meine Jugend mumienhaft schlief. Ich habe
p —
ihre welken Dufte wieder gespiirt, es ist mir etwas davon in die
Seele gedrungen gleich jenen vergessenen Melodien, welche man
*) Besichtigung eines Gymnasiums.
102
Der liebende Flaubert
wiederfindet im Nebel wahrend dieser langen Stunden, da das
Ged&chtnis wie ein Gespenst in den Ruinen in unseren Er-
innerungen spaziert." Oft qu&lqn ihn Erinnerungen. „ Liebe des
jungen Mannes, Ironien des reifen Alters, o ihr kommt oft mit
euren dunklen, triiben Farben wie die Schatten, fliehend, ge-
stossen, die einen durch die andern, wie die Schatten, die in den
Winternachten an den Mauern voriiberhuschen Bei der Aus-
sprache eines Namens kommen alle Personen wieder mit ihrem
Kostum und ihrer Sprache und spielen ihre Rolle, wie sie sie in
seinem Leben gespielt. , , Namentlich die erste Liebe, die niemals
heftig noch leidenschaftlich war, ausgeloscht seither durch andere
Wiinsche, aber die doch im Grund meines Herzens bleibt wie eine
antike Romerstrasse, die man durch einen gemeinen Eisenbahn-
wagen durch quert hat . . .
Wir haben schon gesagt, dass diese Leidenschaft eine Ersatz-
liebe fur die Mutter war. Nur so ist der tiefe Eindruck zu erklaren ,
den die Situation, in der er die Frau zum erstenmal sah, auf den
Knaben machte. So ist es auch zu erklaren, mit welcher Ausdauer
noch der reife Mann insgeheim an dieser ersten tiefen Liebe hing.
Er scheidet strenge zwischen platonischer und sinnlicher Liebe 4 ) .
„Was die Menschen gewohnlich am tiefsten beriihrt, ist fur mich
sekund&r — wirklich habe ich die physische Liebe immer von der
anderen getrennt . . . Ich habe eine Frau von 14 Jahren
(1838?) bis 20 Jahren geliebt ohne es ihr zu sagen, ohne sie zu
beriihren, und ich habe fast drei Jahre gelebt, ohne mein Ge-
schlecht zu spuren. Ich habe einen Augenblick geglaubt, dass
ich so sterben werde und habe dem Himmel gedankt.“ Doch
es kam anders*) **). Die Vorstellungen der Wollust, die ihn mit
15 Jahren uberfallen hatten, kehrten mit 18 wieder. „Wenn ihr
etwas von dem Vorhergegangenen verstanden habt, miisst ihr
euch erinnern, dass ich bis zu diesem Alter keuscb lebte und noch
nicht geliebt hatte: was die Schonheit der Leidenschaften und
ihren klingenden Lfirm betraf, lieferten mir die Dichter die Stoffe
fiir meine Tr&umereien; vom Vergniigen der Sinne, von den
korperlichen Freuden, die die J iinglinge begehren, erhielt ich in
*) Carr. I. 197. 1846. an L. Colet.
**) N ovembre. Oeuvres de jeunesse. II. S. 192.
Der liebende Flaubert 103
meinem Herzen die unablassige Sehnsucht . . Aber die
Eitelkeit dr&ngt ihn zur Liebe, „nein, zur Wollust, nicbt einmal
dazu, nur zur Sinnlichkeit. Man verspottete mich wegen meiner
Keuschheit , ich errdtete daruber, sie machte mich beschamt; sie
driickte mich wie wenn sie die Verdorbenheit wire. Eine Frau
kam mir gelegen , ich nahm sie. Und ich ging aus ihren Armen
▼oil Ekel und Bitterkeit . .
Dennoch, trotz aller Vorwurfe dr&ngt ihn die Sinnenlust
zu anderen Versuchungen. Seine Seele aber blieb der einen
treu. Er hat an seine Geliebte die wahren Worte geschrieben*) :
,,Die Frauen verstehen nicht, dass man in verschiedenen Stufen
lieben kann; sie sprechen viel von der Seele, aber der Korper h<
ihr Herz fest, denn sie sehen die ganze Liebe in den kbrperlichen
Akt verlegt. Man kann eine Frau anbeten und doch jeden Abend
zu Freudenm&dchen gehen.“ Wir wollen einen Augenblick
halten und Flauberts Liebesleben, so weit wir es kennen gelernt, be-
trachten. Schon im Pubert&tsalter scheidet er zwischen dem reinen
unnahbaren Weib und dem dimenhaften Weib (Mme. Arnoux
und Rosanette in der ,, Education"), im Leben und in der Dich-
tung. Der Geliebten halt er sein Leben lang die Neigung in ihrer
ganzen Stftrke. Doch geht er nebenbei Liebesverh<nisse ein,
die nichts mit der grossen Liebe zu tun haben. Er fixiert seme
Liebe nur auf Frauen, die nicht frei sind. Er will seine Geliebte
stets retten.
Dieser lebendige und intensiv (nach innen) lebende Mensch
ist der starkste Beweis fiir die Richtigkeit der Theorie Freuds
iiber einen Typus der Objektwahl. (Die Theorie ist indessen
ebenfalls ein Niederschlag empirischer Erkenntnisse.) Die Lmien
der aufgezeichneten Eigentumlichkeiten des Liebeslebens ziehen
sich durch das ganze Dasein des Dichters.
Wie stellt sich nun Flaubert in seinem Verhalten zu diesen
j
Neigungen ? Wir haben konstatiert, dass der Dichter Inzest-
wiinsche in ungeheurer Intensit&t gehabt hat. Sadistische
Tendenzen traten hinzu. Allen diesen Regungen, die tief im
h
Infantilen wurzelten, konnte keine Erfiillung winken. Durch
*) Corr. I. 23s. 4. Sept. 1846.
8 *
104
Der liebende Flaubert
einen ungefaeuren Energieaufwand wurden sie vom Bewusstsein
ausgeschaltet, sie wurden verdr&ngt.
In Paris lebt er einsam, ganz seinen Traumen hingegeben.
Die Vergnligungen seiner Kameraden erscheinen ihm dumm.
Er schloss sich ein, legte sich aufs Bett und tr&umte viel. Inner lich
wurde er imrner verbitterter. Den klarsten Ausdruck fanden
diese Stimmungen in der ^Education sentimentale“ . Schon
1841 schreibt er an Ernest Chevalier: „Du sagst mir, Du hast
keine Frauen, das ist wahrlich sehr weise. Ich betrachtete diese
Art Wesen als ziemlich dumm; die Frau ist ein gewdhnliches
Geschopf, wovon der Mann sich ein zu schdnes Ideal gemacht
hat.“ Er zieht in Paris Vergleiche zwischen dem Leben der
jeunesse dore6 und seinem freudlosen Dasein. Seine Stimmung
ist die triibste. Wir verstehen nun folgende Auslassung:
,,Ich bin so vertiert, dass es als Weisheit, ja selbst als Tugend
gelten kann. Oft habe ich Lust, dem Tisch Faustschl&ge zu geben,
und alles in Stiicke zu schlagen, wenn dann der Anfall ver-
gangen ist, sehe ich an meiner Uhr, dass ich eine halbe Stunde in
Jeremiaden verloren habe.** Er schildert in der „Education‘*
wovon Frederic und ein Freund traumen. Spiter hat er in einem
Buche von Balzac sich in jener Zeit wiedergefunden. Es hat sich
mit tausend Haken an ihn geklammert. „Erinnerst Du Dich,**
schreibt er an Luise Colet, „dass ich Dir von einem meta-
physischen Roman erzdhlt habe (im Plan) , wo ein Mensch durch
Denken dahin gelangt, dass er Halluzinationen hat, an deren
Schluss das Phantom eines Freundes erscheint, um den ideellen
Schluss aus den (weltlich fassbaren) Prdmissen zu ziehen . . .'*
W
Flaubert meint wahrscheinlich den Plan des Romans ,,La
spirale**. Eine ahnliche Situation hat uns aber auch in der ,,Ver-
suchung des heiligen Antonius** beschaftigt. Hilarion zieht den
Schluss: es bleiben nur Wollust und Tod. Dieselbe S telle wirft
also ein helles Licht auf die Zeit, in welcher die ersten Ansatze
der „Versuchung“ fallen. Auch Flaubert hatte Halluzinationen,
auch er litt an denselben inner en Kdmpfen. „ . . . schliesslich
will sich der Held in einer Art mystischen Wahnsinns kastrieren ;
ich habe mitten in meinen Pariser Wirren mit 19 Jahren das
gleiebe Verlangen gehabt (ich werde Dir. in der Rue Vivienne den
Der liebende Flaubert
Laden zeigen , vor dem ich eines Abends mit unabweislicher In-
tensity von diesem Gedanken erfasst stehen geblieben bin, da-
mals als ich zwei ganze Jahre verlebt habe, ohne eine Frau zu
sehen.) Letztes Jahr, als ich Dir von dem Gedanken sprach in
ein Kloster zu gehen, da war es die alte Hefe, die in mir aufstieg.
Es kommt ein Moment, wo man das Bedurfnis fiihlt, sich Leiden
anzutun, sein Fleisch zu h&ssen, sich Kot ins Gesicht zu werfen,
so scheusslich erscheint es einem. Ohne die Liebe zur Form w&re
ich vielleicht ein grosser Mystiker geworden; nimm meine Nerven-
anf&lle hinzu, die nichts sind als unfreiwillige Ebenen von Ideen
und Bildern, das psychische Element springt dann uber mich
hinaus und die Bewusstheit verschwindet mit dem Geftihl des
Lebens.“
Dieser Brief kommt fUr die Psychogenese des Antonius sehr
in Betracht.
Der Dichter schreibt um diese Zeit: „Es ist eine merkwilrdige
Sache, wie ich vom Weibe abgekommen bin. Ich bin satt wie
Solche sein mussen, die man zuviel geliebt hat. Ich bin impotent
geworden, weil ich diese grossartigen Strdmungen zu sehr
strdmen gefiihlt habe, um sie jemals sich ergiessen zu sehen.“
Wir sehen wie weit die Sezualverdrftngung bereits vorgeschritten
ist. Wunderbar ist es, wie dieser scharfsinnige und tiefbohrende
Psych ologe Das ins Bewusstsein emporreisst, was andere vor sich
selbst verhiillen und verleugnen. , , Ich mm — ich fiihle weder die
Verztickungen der Jugend mehr noch diese grossen Bitternisse
von ehemals. Sie sind vermischt und das gibt eine Gesamtfarbe,
wo sich alles vermischt und verwischt findet . . . Krank,
zornig, tausendmal im Tag als Beute von Momenten einer
fur ch ter lichen Angst, vollende ich meine Werke langsam, wie
der gute Arbeiter, der mit aufgestreiften Armeln und mit schweiss-
bedecktem Haar auf den Amboss schldgt, ohne sich zu be-
unruhigen, ob es regnet oder stiirmt, hagelt oder donnert. Ich
war frfiher nicht so. Dieser Wechsel ist natiirlich eingetreten.
Mein Wille war auch dabei zu etwas gut. Er wird, hoffe ich,
mich noch weiter fuhren. Alles, was ich ftirchte, ist, dass er
schwach werde; denn es gibt Tage, von einer Schw&che, die mir
Furcht macht. Schliesslich glaube ich etwas verstanden zu haben,
ein grosses Ding; namlich, dass das Gluck flir Leute unseres
Schlages in einem anderen Paradies liegt.“ Angstanf&lle von
grosser Intensitat sind, wie wir sehen, die Folge dieser starken
Sexualablehnung eines so temperamentvollen Menschen. Die
Arbeit, die Kunst ist an die Stelle der libido getreten; die
Sublimierung ist vorl&ufig gegliickt.
. . . Er fallt beim'Examendur ch undwill nichtmehr Jusstudieren.
Auf der Heimfahrt mit seinem ftlteren Bruder Achille bekommt er
seinen ersten Nervenanfall. Wieso kam das? Das Leben, das
er in Paris gefiihrt hatte, konnte nicht ohne Einfluss auf sein
Nervensystem bleiben. Er berichtet selbst von Ermiidung, An-
f&llen von Angst, von Halluzinationen und schw&cheren Tob-
suchtstendenzen. Da er heimkehrt, bricht sich der zuriickgehaltene
Affekt Bahn. Die Furcht vor dem strengen Vater (und der in-
fantile Hass gegen ihn) , die Erwartung, die geliebte Mutter wieder
zu sehen, die Entt&uschung wirken zusammen. Als auslosendes
Moment wirkt wohl die Eisenbahnfahrt. Das mechanische Er-
schiittern des Kdrpers lost oft im Kinde sexuelle Erregung aus*) .
Der Erwachsene wiederholt diesen Affekt. Und die unbefriedigte
Libido fliichtet in die Absence, wo sie die Erfttllung ihrer Wiinsche
erwartet. Man hat die Krankheit des Dichters friiher als eine
epileptische betrachtet. Wir werden sie eine pseudoepileptische
Hysterie nennen. Die Anfalle treten bei Tage auf; der erste im
fdihen Alter. Der ethische Besitzstand des Patienten ist durchaus
nicht gestort**) . Flaubert selbst beschreibt diese AnfSJle folgender-
massen: „Meine Nervenkrankheit war ein Abschaum dieser
intellektuellen Possen. Jeder Anfall war wie eine Art Erguss der
Phantasie, es waren Verluste der malerischen Fahigkeit des
Schadels, hunderttausend Bilder, auf einmal wie ein Feuerwerk
aufspringend. Es war eine Verknotung der Seele und des Kdrpers
(ich habe die Uberzeugung, dass ich mehrere Male gestorben
bin), aber was die Personlichkeit ausittacht, das Bewusstsein,
ging bis ans Ende, ohne das wire das Leiden null gewesen, denn
ich war rein passiv, ich war bei Bewusstsein, selbst wenn ich nicht
*
1
* ri *
*) Freud, Drei Abhandl ungen zur Sexualtheorie.
**) Die psychische Behandlung der Epilepsie von Dr. Wilhelm Stekel
im Zentralblatt ftir Psychoanaljrde. Heft 5/6. Jahrgang 1911.
sprechen konnte. Dann war die Seele ganz auf sich zuriickgezogen
wie ein Igel, der sich mit den eigenen Spitzen weh tut.“
Der Ausdruck , , Verlust' ‘ ist vielleicht kein zuf&lliger, die
Attacke ersetzt oft den Geschlechtsakt. Cber die Art der
Attacken verweise ich noch auf den wichtigen Brief an Luise
Colet, den ich vorhin zitiert habe und auf die Anf&lle des Heiiigen
Antonius. Dort finden sich namlich die besten Schilderungen.
Diese so wie einige andere Stellen, z. B. die Halluzination Frederics
neben dem schlafenden Arnoux, lassen uns auch in den Inhalt
der Absencen sehen. Die Anfalle haben stets einen sexuellen und
kriminellen Sinn. Der Dichter sagt: ,,Was ich habe, da weiss ich
nicht, und man weis es nicht, da das Wort Neurose eine Gesamtheit
von verschiedenen Ph&nomenen ausdriickt und zugleich die Un-
wissenheit der Herren Arzte.“ An George Sand bench tet er ( Mirz
2874): „Dr. Hardy nennt mich eine hysterische Frau; ein Wort,
das ich tief finde.“ Auch wir finden es tief: Die Hysteric ist eine
Krankheit, deren Atiologie vornehmlich in der intensiven
Sexualablehnung und der Abspaltung unlustbetonter Vorstellungen
vom Bewusstsein liegt. Das Wort ist tief, denn es zeigt, dass
der Arzt die stark weibliche Anlage Flauberts erkannt hat.
Es folgten in l&ngeren oder kiirzeren Zeitabschnitten mehrere
Anf&lle. Im Alter nahmen sie ab. Die Nichte Flauberts sagt
dariiber : * ) „ Diese Nervenkrankheit legte sich wie ein Schleier
auf sein ganzes Leben; es war eine Furcht, welche die schonsten
Tage verdunkelte." Der Vater Flauberts machte ihm drei Ader-
l&sse. Bei der geringsten Empfindung zittern ihm alle Nerven,
die Knie, die Schultern. 1846 hat ihm Pradier angeraten,
ein festes Verh<nis zu beginnen. Aber, so fragt Flaubert, wo
sollte er Halt machen? „Eine normale, regelm&ssige, kr&ftige
und feste Liebe wiirde mich zu sehr aus mir herausreissen, wiirde
midi beunruhigen, ich wiirde ins aktive Leben zuriicktreten,
in die physische Wahrheit, kurz in den Menschenverstand, und
gerade das -ist mir jedesmal sch&dlich gewesen, wenn ich es habe
▼ersuchen wollen." Er ist dennoch dem .Rate gefolgt. Am
3. August 2846 war Luise Colet seine Geliebte geworden. Dieses
*
*) Souvenirs intimes par Caroline Commanville. S. XII.
t
*
Der liebende Flaubert
Verh<nis ist sehr eigentumlich. Flaubert qu< die Geliebte,
sie verfolgt ihn mit Eifersucht. Luise Colet war eine mittel-
m&ssige Schriftstellerin, sp&ter durch maimigfache Intrigen imd
Liebesgeschichten bekannt. Flauberts Nervosit&t bleibt nicht nur
in diesem Verh<nis, sondern steigert sich noch. Sie wiinscht,
dass er oft zu ihr komme, doch er besucht sie nur alle Monate auf
ein paar Tage und bleibt die ubrige Zeit in Croisset bei der Mutter.
Wir miissen nun zur Betrachtung dieses Liebesverhiltnisses
einen Blick in die Correspondance der beiden werfen. Dieser
Briefwechsel gehort ‘zu den psychologisch interessantesten, die
wir besitzen. Gleich ein charakteristisches Beispiel. 1853
schreibt Flaubert: „Du bist Heidin und sudlich, Du liebst das
Dasein, Du achtest die Leidenschaften, Du strebst nach Gltick.
Ah! Das war schon, als man noch den Purpur auf dem Riicken
trug, als man noch unter einem blauen Himmel lebte . . .
Aber ich, ich hasse das Leben, ich bin Katholik, ich habe etwas
▼on der griinen Sinterung normannischer Dome im Herzen,
meine Z&rtlichkeit des Geistes gilt den Inaktiven, den Tr&umer n ;
ich bin es mude, mich an- und auszuziehen, zu essen usw. Wenn
ich keine Angst vor dem Haschisch h&tte, wiirde ich mich statt
des Brotes damit s&ttigen, und wenn ich noch dreissig J ahre zu
leben h&tte, wiirde ich sie auf dem Riicken liegend ▼erbringen,
unt&tig und im Zustand eines Klotzes." Luise liebt ihn, aber sie
will von ihm Tatsachen, Beweise seiner Liebe. Er antwortet auf
ihre Klagen: „Weisst Du nicht, dass ich kein Jiing ling mehr bin,
und dass ich es um meinet- und Deinetwillen bedauert habe;
wie willst Du, dass ein Mann, der von der Kunst abgestumpft ist,
wie ich es bin, best&ndig verhungert nach einem Ideal, das er
nicht erreicht, dessen Sensibilit&t sch&rfer ist als eine Rasier-
klinge und der sein Leben damit verbringt, den Feuerstahl darauf
zu schlagen, um Funken herauszulocken . . . Wie willst Du,
dass der mit zwanzigj&hrigem Herzen liebt . . . Leute wie wir,
sollten eine andere Sprache gebrauchen, um von sich zu reden ,
wir dtirfen keine schonen und h&sslichen Tage haben. Heraklit
hat sich die Augen ausgestochen, um diese Sonne, von der ich
rede, besser sehen zu konnen.“ Einmal klagt er: „Ich bin Dein
UngKick, ich kann nicht geniessen, Hingebung ist Schmerz fiir
Der liebende Flaubert
z 09
mich.“ Der nackte Trieb durch die lockende Frau reprdsentiert
und die Sublimierung, welche in der Kunst besteht, ringen fort-
wlbrend in ihm. Unter diesen Qualen ruft er ihr zu: ,,Ich wollte,
Du liebtest mich nicht und Du h&ttest mich nie gekannt und
damit glaube ich einen Wunsch auszusprechen, der Dein Gliick
angeht. So wie ich wollte, meine Mutter liebte mich nicht, ich
liebte weder sie noch irgend jemand in der Welt; ich wollte, nichts
ginge aus meinem Herzen heraus, um zu anderen zu gehen, und
nichts k&me aus den Herzen der anderen zu meinem. Je mehr man
lebt, um so mehr leidet man . . . Jeder kann nur nach seinem
Masse tun. Nicht einen Mann, der wie ich in alien Exzessen der
Einsamkeit gealtert ist, nervos zum ohnm&cbtig we r den, von
unterdriickten Leidenschaften gequ<, voller Z wei f el nach innen
und aussen, nicht den musste man wShlen. 44 (1851.) Der befremd-
liche Wunsch, nichts zu fiihlen und von niemandem geliebt zu
werden, erkl&rt sich leicht. Seine erste Liebe war ungliicklich:
als erste nennt er die Mutter, die er lieber nicht geliebt hatte,
gleich daraui spricht er von unterdriickten Leidenschaften.
, ,Weisst Du, wohin mich die Melancholie von all dem gefiihrt und
wozu sie mir Lust gemacht hat? Die Literatur fiir immer hin-
zuwerfen, iiberhaupt nichts mehr zu tun und bei Dir zu leben.“
Trotz aller Sehnsucht bleibt er bei der Arbeit. „Mir ist, als seien
es zehn Jahre her, dass ich Dich nicht gesehen habe. Ich mochte
Dich in meinen Ohnmachten an mich pressen, aber nachher?
Nein, nein, ich weiss, auf die Festtage folgen zu traurige Tage.
Die Melancholie selber ist nur eine Erimierung, die sich nicht
kennt!“ Der letzte Satz zeigt eine tiefe psychoanalytische
Einsicht.
Verzweifelt schreibt er einmal: „Ich wollte, wir behielten
unsere beiden Leiber und wftren nur ein Geist!“
„Du bist keine Frau und wenn ich Dich mehr und vor allem
tiefer geliebt habe als jede andere, so liegt das daran, dass Du mir
weniger Frau zu sein schienst als jede andere, all unsere Zwiste
sind immer nur von der weiblichen Seite hergekommen. 44
Dieselbe Ansicht zeigt sich in einem anderen Brief. „Ich
habe mich immer bemtiht, aus Dir einen erhabenen Herm-
aphroditen zu machen. 44 Es zeigt sich, dass hinter diesemWunsche
t
IZO
Der liebende Flaubert
die Rettungsphantasie und ein homosezueller Einschlag des
Dichters steckt. Wir werden an Flaubert selbst denken, wenn
in der Salambo der Priester der Tanit (ein Kastrierter) geschildert
wird. Es sind genau die Linien des Verhiltnisses zwischen
Flaubert und Luise Colet, in das Karthago Hamilkars verlegt.
„In der Leere seines Lebens bliihte Salambo wie eine Blume in
der Spalte eines Grabes und doch war er hart gegen sie und er-
sparte ihr weder Busse noch bittere Worte; sein Zustand be-
griindete gewissermassen Gleichheit des Geschlechtes zwischen
ihnen . .
Er grollt dem Madchen weniger weil er sie nicht besitzen
kann, als weil er sie schon und begehrlich findet. „Oft sah er,
wie sie sich abmiihte, seinen Gedanken zu folgen, dann kehrte
er tieftraurig in den Tempel zuriick und fiihlte sich verlassener,
einsamer als je.“
Der Gedanke an einen Zusammenhang wird greifbarer,
wenn wir daran denken, dass Flaubert den Dichter gem mit dem
Priester verglich und von einer , ,sakral-heiligen Kunst“ sprach.
Tiefer noch vielleicht, lasst eine andere Stelle der „Salambo“
in das psych ische Gefiige des Dichters sehen. „Den Priester der
Tanit zwingt alles, was er an irdischen Dingen sieht, zu der Er-
keimtnis, dass das vemichtende, m&nnliche Prinzip das hohere
sei; er beschuldigt die Rabbit insgeheim des Ungltickes in seinem
Leben. H&tte nicht der Oberpriester ihn nur ihretwegen beim
Klang der Zymbel und neben einer Schale voll heissen Wassers
seiner kunftigen Mannheit beraubt ? Und melancholisch folgte
sein Blick den Mannern, die sich mit den Priesterinnen der
Gottin im Schatten des Terebinthengeholzes verloren.“ Genau
so melancholisch folgt mit den Blicken der Dichter, der sich
der Kunst mit ganzer Kraft gegeben, den M&nnern der Tat
und des sexuellen Sichauslebens. (Alfred Adler wiir de hier von
m&nnlichem Protest sprechen miissen*) . Man hat ihn so oft
gedemiitigt, erkl&rt, „ich habe so viel Argernis gegeben, man
hat mich so schreien lassen, dass ich schon seit langer Zeit dazu
gekommen bin, zu erkennen, dass man, um gliicklich zu leben,
*) Psychischer Hermaphroditismus im Leben und in der Neurose.
Fortschritte der Medizin. Leipzig 1910. Heft 16.
Der liebende Flaubert
I
XII
allein leben und alle Fenster verschliessen muss aus Furcht, dass
die Weltluft nicht zu Euch komme. Ich bewahre immer wider
meinen Willen etwas von dieser Gewohnheit, deshalb babe ich
systematisch einige Jahre die Gesellschaft der Frauen gemieden.
Ich wollte keine Fesseln bei der Entwicklung meines angeborenen
Prinzipes, kein J och , keinen Einfluss, zum ■ Schluss habe ich
nichts mehr gewiinscht von allem, ich lebte ohne die Zuckungen
des Fleisches und des Herzens und ohne mein Geschlecht
zu fiihlen".
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Wir wissen, wie sehr er bedauert, dass diesem Zustande jetzt
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ein Ende gemacht wurde. Jetzt wird er, wie er berichtet, von
Tag zu Tag reizbarer. Er verfdllt unaufhdrlich in Traumereien.
*
Ein Nichts bringt ihn zu Tr&nen. Er fiihlt zwei grosse Konflikte
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in sich : das Schwanken zwischen der Mutter und der Geliebten —
und die Wahl, die schwere Wahl zwischen Liebe und Kunst.
Seiner Mutter, die ihm zur Heirat r&t, antwortet er, er sei liber
das Alter dazu hinaus (1850!)*). „Wenn man wie ich, gelebthat,
ein ganz inneres Leben voll unruhiger Analysen und ungestiimen
Gewohnjieiten, wenn man sich so oft selbst erregt hat und ab-
wechselnd beruhigt und seine ganze Jugend gebraucht hat, um
mit seiner Seele zu manbvrieren wie ein Reiter mit seinem
■ p
Ross, das er mit Sporeneinsatz zwingt, quer durch die Felder zu
galoppieren, mit kleinen Schritten zu gehen, liber Gr&ben zu
springen, im Trott oder mittleren Schritt zu gehen, das alles ftir
“ I . T-
nichts als um sich zu unterhalten und mehr davon zu verstehen.
Er glaubt also, dass keine innere Erschfitterung ihn von seinem
Platze werfen konnte. Die Heirat ware ftir ihn ein Abfall . . .
„Du wirst den Wein, die Liebe, die Frauen, den Ruhm malen,
* j *
unter der Bedingung, mfein Lieber, dass Du weder betrunken,
noch verliebt, noch verheiratet, noch ein junger Infanterist sein
■
wirst. In das Leben verwickelt sieht man es schlecht, man leidet
zu viel dar unter und geniesst zu viel davon. Nach meiner An-
a
schauung ist der Kiinstler eine Ungeheuerlichkeit, etwas ausser-
halb der Natur. alle Missgeschicke, mit denen die Vorsehung ihn
uberhduft, kommen daher, dass er dieses Axiom verneint.
*) Correspondence II. S. 24.
t
1 12
Der liebende Flaubert
Er leidet darunter und macht darunter leiden. Man befrage
dariiber die Frauen, welche Dichter geliebt haben, und die
M&nner, welche Schauspielerinnen liebten.“
Wichtig ist in diesem Briefe das Gest&ndnis, dass Flaubert
„sich selbst erregt“. Es ist nach den vorausgegangenen Er-
z&hlungen seiner Phantasie kein Zweifel dariiber mdglich, dass
es sich um Phantasien handelt. Dieser in so hohem Masse
phantasiebegabte Mensch greift zu demselben Mittel wie sein
heiliger Antonius, um seine Triebe zu befriedigen. Wir sind in
der Lage, unsere Hypothese durch Tatsachen im hdchsten Grade
wahrscheinlich zu machen. In jenen fiber Rousseaus Aufrichtig-
keit hinausgehenden Niederschriften des j ungen Flaubert 1 *),
welche das sittliche Missvergniigen der Polizei erregten (weil sie
Menschlich-Allzumenschliches ruhig beim Namen nannten) , wird
berichtet, was sich zutrug, als in Rom der Dichter eine schone
Dame am Arm einer alten Frau sah . . .
Es kommt nun zu den Griinden, die wir fiir die r&tselhafte
Zuruckhaltung des Dichters gegeniiber seiner Geliebten auf-
zdhlten, ein weiteres hinzu: die Angst vor Impotenz, vor den
Folgen jener Phantasien. Eine Angst, die fast bei keinem
Neurotiker fehlt. Wir werden wohl auch eine Ausserung so
deuten diirfen, die Flaubert einmal schreibt: „Ich bereuemeine
ganze Vergangenheit, es scheint mir, ich h&tte sie in Reserve
halten miissen in einer unbestimmten Erwartung, um sie Dir zu
a
geben, wenn der Tag gekommen ist." Nur so erkl&rt sich femer,
dass der junge Dichter fiber seine Mfidigkeit spricht, dass er nicht
mehr mit zwanzigj&hrigem Herzen lieben kann. Er mdchte, klagt
er der Geliebten nur Liebesworte, suss wie einen Kuss geben,
aber „ich babe zu sehr in meiner Jugend geschrien, um singen
zu kdnnen, meine Stimme ist heiser." Charakteristisch ist die
Spaltung der Personlichkeit, die er in sich wahrnimmt. , ,Ich
ffihre zwei ganz verschiedene Existenzen, aussere Ereignisse
x
waren das Symbol des Endes der ersten und der Geburt der
zweiten. Alles das ist mathematisch genau. Mein aktives, leiden-
schaftliches, bewegtes, von widersprechenden Extremen und
*) Tagebuch d. j. Flaubert „Pan“. i.Jahrg. Heft 7. i. Februar 1911.
S. 331.
Der liebende Flaubert
113
vielf<igen Empfindungen reiches Leben hat mit 22 Jahren
geendigt. In dieser Epoche habe ich mit einem Schlage grosse
Umwalzungen durchgemacht und eine andere ist gekommen.
Dann .habe ich fur meinen Gebrauch genau zwei Teile in der Welt
und in mir gemacht. Auf der einen Seite das fiussere Element,
das ich verschieden, vielfarbig, harmonisch und ungeheuer
wunsche, und von dem ich nichts empfange als das Schauspiel
zum Genuss. Auf der anderen Seite das inner e Element, das ich
konzentriere, um es dichter zu machen und in das ich die reinsten
Strahlen des Geistes in vollen Stromen durch das offene Fenster
der Intelligenz eindringen lasse.“
Wir werden noch beobachten konnen, welche Bedeutung diese
Spaltung ffir den Dichter Flaubert hat. Er selbst gibt also sein
22. Lebensjahr als Wendepunkt an. Es ist die Zeit, da seine
Nenrenanf&lle beginnen. Um diese Epoche waren schon alle
bestimmenden Einflfisse abgeschlossen und zu einem vorlfiufigen
Ergebnis gekommen. Der Charakter Flauberts inderte sich nicht
mehr wesentlich.
Auf welchem Wege aber kam Flaubert zu dieser klaren
h
Einsicht fiber sich und sein Wesen? Auf dem Weg einer un-
wissenschaf tlichen , doch genial en Psychoanalyse — man kann
es nicht anders nennen. Sie bringt ihm zugleich Licht und Leid.
„Du sagst, dass ich mich zu sehr analysiere, aber ich finde,
dass ich mich nicht genug kenne. Jeder Tag zeigt mir das von
neuem. Ich reise in mir wie in einem unbekannten Lande, ob-
gleich ich es schon hundertmal durchlaufen habe.“ „Die Analyse
die ich bestandig an mir vomehme, macht mich vielleicht unge-
rechter gegen mich. Und man verzeiht dann meinen Nerven
nicht genug. Das hat mir die Sensibilit&t ffir den Rest meiner
Tage verwfistet. Sie stumpft an alien Ecken und Enden ab,
verbraucht sich fiber den geringsten Albemheiten, und um nicht
umzukommen, ziehe ich mich wie ein Igel, der alle seine Stachel
zeigt, zur Kugel zusammen.“ Wir verstehen nach dem Voraus-
gegangenen auch, wenn Flaubert versichert: „Und ich habe einen
fiussersten Widerwillen, auf meine Vergangenheit zuruckzu-
kommen, dennoch yerlangt meine unbarmherzige Neugierde, alles
zu durchforschen und alles aufzuwfihlen bis zum letzten Mo der. “
Der liebende Flaubert
**4
Flaubert fiihrt die Selbstanalyse durch wie ein gepriifter, ge- '
iibter Psychoanaly tiker : er geht auf die Vergangenheit, auf die
Kindheit zuriick. Auch im Verkehr mit Luise Colet zeigt sich
die fur den Neurotiker bezeichnende Zweifelsucht. „Seit wir uns
gesagt haben, dass wir uns lieben, fragst Du mich, woher meine
Zuriickhaltung stammt. Warum ? Weil ich die Zukunft abne;
weil das Gegenteil ohne Aufhdren sich vor meinen Augen auf-
richtet. Ich habe niemals ein Kind gesehen, ohne daran zu
denken, dass es ein Greis wird, noch eine Wiege, ohne an das Grab
zu denken. Die Betrachtung einer nackten Frau l&sst mich von
ihrem Skelett tr&umen. Darum machen mich lustige Schau-
spiele traurig, und die traurigen greifen mich wenig an. Ich weine
zu sehr nach innen, um Tr&nen nach aussen zu vergiessen.“
Er fordert Luise auf, die Kunst mehr zu lieben als ihn. „Wir lieben
uns jetzt, wir werden uns vielleicht noch mehr lieben, aber wer
weiss: eine Zeit wird kommen, wo wir uns nicht einmal mehr
unserer Gesichter erinnern werden. Hast Du manchmal Greise
▼on ihrer Jugend erzShlen gehort?“
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Langsam (J)
Aus „Waller im Schnee
44 %
(Stefan George)
Arnold SchOnborg
Mlt Erlaubnis dcr Universal-Edition. A. G. Wien.
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Durand-Ruel z 1 5
Der bemerkenswer te franzosische
Kritiker Ars&ne Alexandre sendet dem
Pan diese WQrdigung Durand-Ruels.
Durand-Ruel
Bild und Geschichte ernes Kunsth&ndlers
Von ARSfeNE ALEXANDRE
Man wiirde sich einen allzu elementaren Begriff vom Kunst-
handler machen, hielte man ihn nur fur einen Mann, der zufrieden
ist, Bilder zu kaufen und sie wieder zu verkaufen, so, wie irgend-
ein Handler irgendeine Ware kauft und wieder verkauft. Selbst
wenn wir annehmen, dass er sie sehr billig kauft und fiusserst
teuer verkauft, haben wir noch keine vollstandige Definition.
Diese geniigte hochstens filr einen Rarit&tenh&ndler. Der
g r o s s e Kunsthandler ist ein Mann der Tat wie der Eroberer,
ein Mann des Urteils wie der Kritiker, ein Mann der Leidenschaft
wie der Apostel. (Ich spreche immer vom Apostel, Kritiker,
Eroberer, Kaufmann im rein idealen Sinn.) Dieser Kunsthandler
kann der Verbiindete der Kritik sein und auch ihr Gegner; oder
vielmehr der Verbiindete der guten Kritik und der Gegner der
schlechten, dann ist er der gute Kunsthandler. Ist die Beziehung
die umgekehrte, so wird er ein furchtbarer Feind der Kunst,
wenigstens in Zeiten, wo der schlechte Geschmack triumphiert,
und die einzig wahre Schonheit ,,endgiiltig“ begriffen wird.
Und doch, auch der gute Kunsth&ndler, der ideale, wenn er
z u lebhaft die schonen Dinge liebt, ist in Gefahr, zuerst sich selbst
zugrunde zu richten und mit sich dann auch andere ungliicklich
zu machen. Er muss ein Enthusiast, darf aber nicht zu sehr
Tr Sumer sein; er muss Geld verdienen, um grosse Opfer bringen
zu konnen ; er muss auch oft Opfer bringen, ohne des Verdienstes
sicher zu sein. Ebenso wie der schlechte Kunsthandler ein er-
bitterter Verbreiter des schlechten Geschmackes ist, so ist der
gute Kunsthandler ein Vork&mpfer fur die Kiinstler, die durch
ihre Werke den schlechten Geschmack bek&mpfen, gerade darum
aber viel Miihe haben, sich jene Stellung zu erobern, die ihnen
die Zukunft geben wird. Er ist, kurz gesagt, eines der wesent-
Hchen Organe dieses gewaltigen Systems von Schonheitsfabriken,
wie sie die moderne Gesellschaft zeugt und charakterisiert. In
Durand- Ruel
den alten Republiken, Athen oder Florenz, wo jedem Kunst-
begeisterten der Kiinstler unmittelbarer Nachbar und Lieferant
war, in den absoluten Monarchies wo dem Papst, dem Kaiser,
dem Konige der Kiinstler Schiitzling und Freund, sogar xnanchmal
Diener war, hatte diese Auffassung vom Kunsth&ndler keine
Moglichkeit gehabt. Heute ist Athen, Florenz, der Papst, der
Kaiser, der Kdnig — der erste beste, einer der zahllosen ersten
besten. Darum st&nde es schlimm um eine Gesellschaft, die nur
schlechte Kunsth&ndler hStte ; das Heil ihrer kiinstlerischen Seele
w&re gef&hrdet.
Man sieht schon, dass die Persdnlichkeit des Kunsth&ndlers
sick nicht so einfach darstellt, wie man glauben konnte. Aus
dem herrlichen Beispiel, das ich jetzt, eine schone und ergreifende
Gelegenheit benutzend, vor Augen stellen mochte, soli jener
Begriff seine voile Erg&nzung und Lebendigkeit erhalten.
In diesen Tagen ist Durand- Ruel achtzig Jahre alt ge worden.
Wiirde man die Geschichte der K&mpfe erz&hlen, die er fast
sechzig Jahre lang durchgefochten hat, so kdnnte man zeigen,
dass die heroischen Zeiten, mag man sagen, was man will, noch
nicht verschwunden, und die Romane von Balzac nur zu glaub-
haft wahr sind. Man sahe aus dieser Geschichte unter anderem
die seltsame Tatsache, dass ein Kunsth&ndler fiir die Kiinstler,
deren Sieg er sich als Ziel gesetzt hatte, leidet, in einer Zeit,
da man in der Regel zwar Kiinstler d u r c h einen Kunst-
h&ndler, niemals aber f ii r ihn leiden sah. Diese sechzig Jahre
erg&ben das Defil6 so vieler beriihmt gewordener Werke, und
man steht erstaunt vor dem Wunder einer H&ufung von Millionen,
die^als Preis gezahlt wurden nach dem langen, miihseligen
Kampfe, der um die bescheidensten Preise gefuhrt worden war.
Auch Durand- Ruel selbst hatte diesen Wertzuwachs schwerlich
im voraus berechnen konnen, so h&uftig kehrten manche dieser
Bilder immer wieder in seine H&nde zuriick — und bekamen
jedesmal einen neuen Wert und oft sogar eine neue Bedeutung.
Denn es ist sonderbar: Kunstwerke, ganz wie Menschen, wechseln
Charakter, Sprache und Ansehen, wenn sie den Ort wechseln.
Und alle diese Schicksale, die Durand- Ruel lenkte, indem er
fiir sie und fiir sich mit unglaublicher Hartn&ckigkeit k&mpfte,
haben ihm schliesslich ein besonderes Gesicht gepr>, um ihn
eine Atmosph&re gebildet, grundverschieden von der Erscheinung
und der Radioaktivitdt der anderen Kunsthkndler.
Um iibrigens die besondere Art dieses Mannes richtig einzu-
schdtzen, muss man den Mann kennen und sich h&ufig und
zwanglos mit ihm unterhalten haben. Vor allem: Er ist die
Einfachheit selbst. Keine von den grossen Pariser Beriihmtheiten
Durand-Ruel
117
ist leichter zuganglich. Ihn findet, wer es will, zu jeder Stunde
Rue Laffitte, in seinem Salon, durch dessen Tur alljahrlich Tau-
sende von Neugierigen, Kiinstlern, Liebhabern, gleichgultigen
Reisenden treten. Man sieht einen mittelgrossen Mann sich er-
heben und herankommen; ein voiles, rasiertes Gesicht, kurze,
weisse Haare, ein Schnurrbart wie eine Biirste. Struppige Augen-
brauen umrahmen Augen von dusserster Lebhaftigkeit, bald ernst
und fragend, bald spriihend von Witz und Malice. Die Stimme
ein wenig verschleiert, aber fest, die Sprache klar. Sanfte und
liebenswiirdige Manieren, die Hande auf dem Rucken, den Kopf
ein wenig nach vorn geneigt und leicht seitwarts gebogen, um
aufmerksamer dem Sprechenden folgen zu konnen. Haufige
Ironie; wenig grosse Worte, keine grossen Phrasen; aber zum
Ausgleich alle Zeichen einer beispiellosen Hartn&ckigkeit, eines
Willens ohne Heftigkeit, der aber unbeugsam ist, lachelnd sein
Ziel erreicht. So ist dieser kleine, weisse, schwarzgekleidete
Mann, der nie ein ungiinstiges Urteil widerruft, und dennoch so
angenehm zu plaudern und so gastfreundlich zu empfangen weiss.
Ein verbreiteter Irrtum, den zu berichtigen die schbne Ge-
legenheit gestattet, datiert Durand-Ruel und seine Originalitat
von der Epoche des Impressionismus. Wenn er 1870 gestorben
ware, so h&tte man ihn als den gluhendsten Verteidiger der Schule
von 1830 betrachtet, und er ware ruiniert gestorben. W&re er
1886 dahingegangen, so hatte er ebenso die Erinnerung an einen
Mann hinterlassen, der sich ruiniert hatte, namlich fiir die
Impressionisten, und das ware der ganze Unterschied gewesen —
ein kapitaler Unterschied, nicht in der Wirkung, aber vom
historischen Gesichtspunkt aus.
Ein wesentlicher Zug dieses Lebens ist auch, dass es das
Glied einer geschlossenen, konsequenten Dynastie darstellt und
nicht etwa eine Karriere, die durch irgendeinen Gluckszufall
in die Hohe getrieben wurde. Durand-Ruel ist der Nachfolger
seines Vaters im selben Gesch&ft und seine Sohne, heute Mit-
arbeiter, sollen seine Nachfolger werden. Es gibt dunkle Jahre
in seiner Geschichte, nicht aber Zufalligkeiten.
Der Vater unseres Kunsth&ndlers hatte 1825 ein Geschaft
in der Rue St. Jacques; er verkaufte hauptsachlich Farben und
Malger&te. Es ist nicht leicht, das Bild dieser Strasse und des
Verkehrs, wie er sich damals in ihr abspielte, heute sich vorzu-
stellen. Klar, breit und banal ist aus duster, eng und pittoresk
von damals geworden. Ich erw&hnte vorhin den Namen Balzac.
Seine Bucher muss man lesen, um sich vorstellen zu konnen,
.wie diese ernsten, nuchternen, betriebsamen Geschafte aus-
sahen, denen es an Kunden nicht fehlte und die jeden leeren
1 18 Durand-Ruel
Luxus verschmihten. Die Rue St. Jacques ist eine lange und
bedeutungsvolle Strasse, die in gerader Linie von der Montagne
de la science zur Basilique, wo sich die Kdnige salben liessen,
liuft und unterwegs fur die verschiedensten Dinge Raum hat.
Der Teil, von dem wir sprechen, war Nachbar jener Gegend,
wo „Kunst gemacht“ wurde; das war besonders die lie St. Louis.
Durand-Ruel Vater hatte also zunichst die Kiinstler nur zu
bedienen, bevor er sie beschiitzte. Die Namen seiner Kiinstler
waren Daubigny, Jules Dupr6, Daumier; ihre Freunde waren
Corot, Rousseau und ein wiister biurischer Mann, welcher
I. F. Millet hiess. Schon der Farbenhindler hatte gelegentlich
die seltsame Laune, von diesen Anfangern einige Bilder zu kaufen,
die jeder Zeitgenosse von jenem Geschmack, der sich nach dem
akademischen Ruhm in Gegenwart und Zukunft richtet, ver-
achtet hatte.
*
So erfuhr der Kunsthindler, dessen Geschichte wir schreiben,
an dem v&terlichen Bei spiel, dass sein Beruf zu den undank-
barsten und schwierigsten der Welt gehdrt. Er sorgte sich wenig
darum, das gleiche Leben fiihren zu miissen wie seine Eltern,
die er in unaufhdrlichen Aengsten um die Erfiillung geschaftlicher
Verpflichtungen sah. Darum zwang ihn das Schicksal genau
dasselbe zu tun und lange Zeit in den gleichen Noten zu leben.
Er hatte zwar klar seine Absicht ausgesprochen, nicht linger
so Geschiftsmann zu sein. Er hatte alle Studien vollendet,
um in die Schule von Saint-Cyr einzutreten und war in sie mit
ausgezeichneten Noten zugelassen worden; da verzogerte eine
Bronchitis seinen Eintritt dort. Dieses Missgeschick, das mit
einer neuen Krise des viter lichen Geschfiftes zusammenfiel,
die schwankende Gesundheit seines Vaters, dringende Vor-
stellungen sollten den jungen Mann bewegen, sich zu opfem —
und schon war die Epaulette ein Traum, fern und entflohen.
Ich liebe es sehr, mir den General auszumalen, der aus Durand-
Ruel geworden wire; er wire gewiss eher ein waghalsiger Frei-
williger in irgendeinem Feldzuge als ein taktisch besonnener
sicherer Feldherr geworden. Er wire in irgendeiner plotzlichen
Wallung losgegangen statt peinlich die Regeln des Generals
Jo mini zu befolgen. Aber dann hitte er den Widerstand so schdn
und ausdauernd gestaltet, dass er am guten Ende dort gesiegt
hitte, wo alle Leute vom ,,Fach“ ihm nach der Regel 2x2=4
die Niederlage prophezeit hitten.
Dann bekam das Geschift der Rue St. Jaques eine Zweig-
niederlassung in der Rue des Petits Champs, die spiter zum
Hauptgeschift gemacht wurde. Dort ging zwar der Kleinhandel
mit Malmaterial weiter, aber die schone unverkiufliche Malerei
Durand-Ruel
setzte ihre Invasion Ibrt. Besonders Millet verursachte grossen
Schaden, aber die Verluste wurden heroisch ertragen. Durand-
Ruel, Vater und Sohn, begannen leidenschaftlich diese Dinge
zu lieben, die sie in Schulden stilrzten; sie liebten sie gerade
wegen des Schadens, den sie verursachten. Sie liebten sie so
sehr, dass nach dem Tode des Vaters (1865) der Sohn, der schon
seit 1852 tats&chlich sein Nachtolger war, den Handel mit
Farben und Pinseln vollst&ndig aufgab. Er siedelte 1866 nach
der Rue de la Paix iiber, um sich dort in grbsserem Stil ruinieren
zu konnen, in ein Viertel, das erst sp&ter das reichste Verkehrs-
zentrum von Paris wurde. Und dort wollte er Bilder verkaufen,
die erst sp&ter als die glorreichsten des Jahrhunderts erkannt
wurden.
Daher sagt heute Durand-Ruel mit l&chelndem SpOtt, der
trotz des schliesslichen Erfolges nicht frei von Melancholie
ist: „Ich bin im ganzen ein recht schlechter Kunsth&ndler ge-
wesen, denn ich liebte, was ich verkaufte, und es gelang mir
nicht, zu verkaufen, was ich liebte/*
Noch schwieriger wurde die Ldsung des Problems, als er
im Jahre 1869 bedeutende Au f wendungen machte, um sich in
der Rue Lafitte niederzulassen. Die Ereignisse iiberstiirzten sich
. ..Es handelte sich um ganz andere Landschaften als die von
Corot . . Und mehr und mehr wuchs seine Ueberzeugung, dass
der Beruf des Kunsth&ndlers der abscheulichste sei. Datum
brachte er alles, was er von der „Schule von 1830** nicht verkauft
hatte, — was er davon verkauft hatte, h&tte viel weniger Ratkm
eingenommen — nach London. Er h&tte darin heute einen Wert
von Millionen . . Dennoch glaubte man nicht, dass diese tragischen
Fehlschl&ge seinen Apostelgeist niichterner gemacht h&tten. Er
wurde im Gegenteii nur gliihender, gl&ubiger, z&her. Er benufzte
diesen Aufenthalt in London, um neue Adepten fur unsere
Schule zu gewinnen. Man kann sogar sagen, dank diesem
Feldzug Durand- Ruels sind die Meister von 1830 in England
grossenteils anerkannt worden. So gingen rasch zwanzig Jahre
vorbei in K&mpfen, Sorgen, Hoffnungen und in unvollkommenen
Siegen, die so kostspielig waren wie Niederlagen.
Schon dieser erste Teil seines Lebens zeigt, dass unsere
Balzac-Personlichkeit nicht ausschliesslich als der grosse Priester
des Impressi onismus angesehen werden darf. Und Geduld!
Schon bereiten sich neue K&mpfe vor. Uebrigens erkl&rt
Durand-Ruel, dass noch zahlreicher als die Werke aus der
sogenannten impressionistischen Schule, die ihm durch die
H&nde gingen, die Werke der grossen Landschafter
der ersten
H&lfte des 19. Jahrhunderts waren, die von seinem Vater und
1
1 20
Durand- Ruel
ihm mit so viel Muhe gehandelt wurden. Man darf es ihm
glauben. ...
Als er nach Paris zuriickkehrte, war er in der rechten Ver-
fassung, um mit Leidenschaft neue Gegenstande des Kampfes
und der Sorge aufzunehmen. Die Gruppe von Claude Monet
Renoir, Sisley, Pissarro, Piette, Caillebotte usw., ohne den weit
und breit geschm&hten Edouard Manet zu z&hlen, begann die
Zielscheibe alles Spottes mid alles Zornes zu werden. Man
ging um zu lachen in die Ausstellungen der Rue Lafitte. Man
bot bei Auktionen um die Wette, wer das billigste Werk
dieser Verriickten kaufen konnte, man stellte die Maler neben
die noch nicht vergessenen Communards. Zwischen 25 und
75 Francs waren die Preise dieser Werke, die jetzt auf ganz andere
Art die Kunstliebhaber toll machen.
Durand- Ruel stiitzte diese gef&hrlichen Verwirrer der offent-
licben Kunst; bei ihm fanden sie immer Aufnahme und Unter-
stutzung. Er hatte fur sie immer ein l&chelndes Gesicht, sein
sanftes Wort, seine liebenswiirdige Sprache, die ruhige Haltung.
Und wenn er, um zuzuhoren, den Kopf zu ihnen neigte, wusste
keiner was von den Tragodien der Verpflichtungen und seinem
Heroismus alien Misserfolgen gegeniiber. Kaum dass man derlei
ahnen konnte. Dieser Kampf dauerte weit mehr als zwanzig
Jahre. Trotz der Begeisterung, die auch fur die neue Schule all-
mfthlich wuchs, war ihr kuhner Kunsth&ndler, ihr bestallter, ihr
symbolischer Kunsth&ndler, im Jahre 1886 vollst&ndig am Ende,
ads er in Amerka das Haus grundete, dais ihm in Frankreich hellere
Tage abzuwarten erlaubte.
Man weiss, wie diese Tage geworden sind, wie die moderne
Malerei vorwdrts geschritten ist. Der Rest der Geschichte ist ftir
uns hier weniger interessant. Es sei denn, man miisste den gltick-
lichen Jahren ein ganzes Buch widmen. Wir Menschen sind so,
dass wir fur ein gliicklich erreichtes Ziel hochstens vage Aner-
kennung ubrig haben, wahrend uns lebhafte Neugierde nach den
kleinsten Einzelheiten der Kampfjahre fragen l&sst. Durand -
Ruel ist im Hafen angekommen, im stolzen verehrungswurdigen
Hafen des achtzigsten Jahres und des Triumphes der Meister,
fiir die er so viel Noten getrotzt hat.
Da es sich indessen hier um das Bild eines grossen Kunst-
kaufmanns handelt, so muss auch an ein paar klaren Beispielen
gezeigt werden, welcher Art die Schicksale jener Bilder waren,
fiir die Durand-Ruel so viel Hingebung und Tapferkeit einsetzte.
Die ,, Toilette" von Corot, heute der Glanz der Sammlung
Madame Desfossds, wanderte lange Zeit auf Ausstellungen in
Paris und in der Provinz umher. Corot konnte niemals den
Z2Z
Durand-Ruel
Kaufer, von dem er tr&umte, finden, der ihm 1200 Franken zahlen
sollte. Durand-Ruel machte an dem Tage, wo er das Bild fur 10 000
Franken kaufte, einen der kiihnen Coups, fiber die eine gute
Zahl seiner Kollegen mit den Schulten zu zucken pflegte. Erver-
kaufte es dann um 50 000 Franks an die gegenw&rtige Besitzerin,
der man jetzt schon 80 000 Franks vergeblich geboten hat.
„ Sardanapale" von Delacroix, ein Meisterwerk, das vielleicht
noch zu jung ist, um ganz gesch&tzt und begriffen zu werden,
wurde von Durand-Ruel ftir 95 000 Franks erworben, von ihm
verkauft — fiir 60 000! Ein Beispiel ftir lukrative Speku-
lationen ( Durand- Ruels !) . Der englische Sammler Duncan, der
es gekauft hatte, konnte es nicht behalten. Haro musste es
schliesslich ftir 30 000 Franks verkaufen ! Aber welch erschtittero-
des Urteil wird die Zukunft fiber dieses Geschick der kolossalen
Symphonie sprechen!
Die „ Source" von Renoir, die dem Maler zu einem damals
aussergewohnlichen Preise, 1100 Franks, abgekauft worden war,
ist vor kurzer Zeit vom Prinzen von Wagram ftir 70 000 Franks
erworben worden. Die ,,Loge“ desselben Meisters wurde von
einem Liebhaber in Nantes ftir 500 Franks gekauft ! Heute h&ngt
sie in der Privatsammlung Durand- Ruels, der sich um keinen
Preis von ihr trennen will.
Einmal kaufte Durand-Ruel — dies war vielleicht seine
gross te Tollheit — auf einen Schlag von Manet 30 Bilder ftir
50 000 Franks. Dies stellt heute nicht einmal den Wert eines
einzigen dar. Aber alle, Oder fast alle, waren in alle Welt-
gegenden zerstreut, be vor sie die phantastischen Preise erreichten,
die man ihnen heute zuerkennt. Damals wurde dieser Kauf von
den Ktinstlern und den . . . Kennern mit stumpfsinniger Ver-
bltiffung aufgenommen, mit Dankbarkeit von Manet, mit Angst
von Durand-Ruel.
Ich habe in diesem Artikel, der schon so lang und doch noch
zu summarisch ist, noch nicht gesagt, dass Durand-Ruel sich auch
der a 1 1 e n Meister annahm, sobald er missachtete Werke der
Grdssten verkannt fand.
Er kaufte Goyas zu einer Zeit, wo sie nicht so viel kosteten,
wie die Corots, als noch nicht einmal die Corots sich verkauften.
Er kaufte Bilder von El Greco, als man den Namen dieses Malers
nur als den eines Narren kannte. Es ist noch nicht so viel Jahre
her, dass man Rembrandt mit einigem Misstrauen betrachtete.
Charles Blanc nannte ihn Paul Rembrandt und gab ihm
Lehren, wie er zu zeichnen h&tte. Die akademischen Kritiker
machten auhxierksam auf das, was sie seine Vulgarit&t
nannten, und wussten ein authentisches Bild des Malers, „Die
iaa
Dursnd-Ruel
J linger von Enunius“ nicht zu unterscheiden von einetn mittei-
m&ssigen Gerad Dow oder plumpen Nicolas MaSs, die ihn nach-
ftfften. Und dies sind noch nicht allzu arge Beispiele solcher
Konfusionl). Durand- Ruel kaufte den , , David vor Saul“ fur
12 500 Franks! Die Autorit&ten erkl&rten, das sei gar kein Rem-
brandt. Sp&ter kam er zu Durand- Ruel zuriick, der ihn diesmal
fur 140 000 Franks wiederkaufte. Schliesslich erwarb ihn der
bekannte holl&ndische M&zen Dr. Brddiu fur 200 000 Franks
j
und lieh ihn dem Museum im Haag, wo er alles so beherrscht, dass
man seinem Besitzer schon vergeblich z 200 000 Franks geboten
hat. Die Folge war, dass dieselben Autorit&ten verkiinden , es
sei einer der schdnsten Rembrandts, die sie kennen, und dazu
einer der authentischesten !
^1 ■ ,
Alle diese Zuge runden unser Bild Durand- Ruels ab, wie auch
den Begriff, den wir zu An fang vom guten modernen Kunst-
h&ndler geben wollten.
Der ist ein Mann, der durch seine Entschlossenheit, seine
Z&higkeit, sein richtiges Gefiihl fiir schone Dinge auf den Ge-
schmack seiner Epoche einen Einfluss hat, der parallel einhergeht
neben der Wirkung der uneigenniitzigen und weitsichtigen
Kritik. Ein Mann, der vom strengen Standpunkt kommerzieller
Aesthetik als ein schlechter Kaufmann angesehen wird bis zu dem
Augenblick, wo der so lange Zeit zweifelhafte Sieg aus ihm einen
der bedeutendsten Kaufleute seiner Zeit macht. Ein Mann, der in
jedem Augenblick bereit war, sich zu ruinieren, und jetzt es armen
Kiinstlern moglich macht, viel Geld zu verdienen, als wSren sie
— schlechte Maler.
*
Maims ,,Schauspielerin“
Manns „Schauspielerin“
Von ERNST BLASS
Ein etwa Zwanzigj&hriger ist in
dem Sprecher dieser Worte zu grussea.
%
Die Menschennatur ist ewig-schauspielerisch. Zugleich aber
hat sie einen ewigen Trieb zur Wahrheit. Dieser Trieb bleibt
unbefriedigt, weil das Schauspielerische im Menschen drinliegt.
Die Unbefriedigtheit des (ebenfalls im Menschen drinliegenden)
Wahrheitsdrangs verhindert ein Gluck des Liigens . . .
Nein; Max Brods Nornepygge erh&ngte sich, weil er auf-
richtig war — und sich nach anderer Leute ihren Enthusiasmen
(Verlogenheiten, Dummheiten) sehnte. Weil er an seiner Seelen-
erweiterung litt — statt auf sie stolz zu sein. Das Grundubel der
Menschennatur: dass einem das, was man hat, langweilig und
verachtlich wird.
Heinrich Manns Leonie schauspielert andauemd und mochte
gem gegen sich wahr sein. Sie ist gegen sich wahr genug, zuzu-
geben, dass sie schauspielert. Aber sie kann nicht aus ihrer Haut.
(Der Mensch 1 e b t nicht sein Leben, er s p i e 1 1 es, meint Mann.)
Leonie fiihlt, dass sie immer Komddie spielt — und sehnt sich
zu leben. Sie kann nicht aus ihrer Haut. Aber verbessert
sie ihre Situation, wenn sie schliesslich Gift nimmt ?
Erst Todesn&he l&sst diese Menschen aus ihrer Haut fahren.
* *
♦
Vorher 1 enkt die Neigung zum Komodiespielen diese Menschen
vom Hauptpunkt ab: vom Leben. Sie berechnen ihre Glticks-
chancen nicht, sondern lassen sich durch Nebentatbestfinde,
Phantomhaftes, Dummes in Anspruch nehmen, triiben, be-
drucken. Einer weiss (vorher) nicht genau, ob er den andern liebt.
Auf einen andern wirken Familieneinfliisse trubend. Ein andrer
Manns „ Schauspielerin**
weiss genau, er will Leonie besitzen. Trotzdem will er sich
duellieren. Wenn er nun getotet wird, kann er sie doch nicht mehr
besitzen. Bagatellische Skrupel, doch auch Blutkr&mpfe verderben
ein (womdgliches) Gliick.
Als das Duell nah ist, wird es von Leonie verhindert. Es soil
nicht Koraodie gespielt werden. Also jetzt wird die Rettung
kommen.
Jetzt ist die Todesgefahr beseitigt: das Leben wird nun
kliiger gefiihrt werden. Im Gegenteil: Lxigen, Phantome er-
wachen wieder. Das Leben wird wieder Komodie. Leonie wird
das so widerw&rtig, dass sie Gift nimmt.
Dies der Sinn der (im einzelnen nicht genug wesentlichen)
Handlung.
♦ *
*
Dieser Sinn muss bald erraten werden, bald ist er in Bausch
und Bogen symbolisiert. Ein Merkmal an Stiicken , die im
Krampf geschrieben sind. Die Unechtheit ist so qualvoll gefuhlt,
*
Haas ihr Darsteller sich zu Symbolen, Unechtheiten der Dar-
stellung, Ubertreibungen hinreissen lasst.
Dichter, Menschen, die etwas durchgemacht haben, neigen
beim Schaffen dann zu Cbertreibungen, weil sie etwas hinhetzen.
Etwa: Leonie ist gleich Schauspielerin von Beruf, symbolisch.
Oder ein abgetakelter Schauspieler sagt, er wolle, seinen Ruhm
zu emeuem, das Land anrufen. Eine Schauspielerin weint erst
sehr — und lacht dann wieder bald. Leonie schreit ihre Qual
heraus; ein Schauspieler denkt, das sei eine Rolle, und antwortet
in Schmierenstichworten.
Es wirkt als Annonce dessen, was der Dichter hat zeigen
wollen. Als etwas, das nicht ausgefiihrt und darum iibertrieben
worden ist.
Dichter in Kr&mpfen neigen zu Ubertreibungen.
* a
*
Auf diesem iibertriebenen, hingehetzten Stuck liegt dennocb
viel von der Gewalt andrer Heinrich-Mann-Werke. Etwas vom
Manns „ Schauspielerin**
125
aussersten Vorschreiten, vom Sich-Abqu&len hetzt durch diese
aufgeregte, zuckende Psychologic. Um Gliickschancen fiir
Menschen ohne tierischen Bewusstheitsmangel wird gerungen.
Heinrich Mann bestreitet das Vorhandensein von solchen fur
solche — und lasst seine Heldin Gift nehmen.
* *
*
Ich mbchte folgendes noch bemerken diirfen. Liesse sich nun
nicht ein Leben vorstellen, derart , dass immer die Todesmoglich-
keit beriicksichtigt bleibt und das unter diesen Umst&nden Kliigste
getan wird? Warum sagt man nicht: Selbst zugegeben, dass ich
Schauspieler, dass ich meiner Natur nach stets im Dunkeln,
Unwahren bleiben muss, ist nicht dennoch in diesem durchaus
deprimierenden Zustand immer noch mehr Luft, immer noch
etwas mehr Gliick, als im Tod?
Heinrich Mann gab das Leben einer Einzelperson, die an einem
Daseinskrampf stirbt. Aber der Fall liegt, objektiv, nicht ganz
unheilbar.
♦ #
*
Leonie hat aber fiir einen Einzelmenschen nicht genug Einzel-
ziige, nicht genug erschiitternde Menschenziige. Es bleibt ein
etwas linearer Daseinskrampf, der mich als Symbol nicht so er-
schfittert, wiel ich ihn fiir heilbar halte.
Es bleibt der Eindruck von etwas ausserst Vorgeschrittnem —
nur wenige (phlegmatischere) Menschen sind noch vorge-
schrittner.
Es bleibt der Eindruck von einem Sich-Abqualen. Nicht im
Gestalten, sondern im Erleben.
Appell an ehrliebende Theater direktoren
Appell an ehrliebende
Theaterdirektoren
Unser Gesichtsfeld ist von den Leichen toter Dichter verstellt. Die
Tantiimenfreiheit ihrer Werke ruiniert unsere Literatur. Ihre gesicherte
Genialit&t reisst alle Begeisterung an sich. Bald wird Rotfeuer und Jubel-
hymnus die Statue des toten Kleist umbrausen — der an der Unempfind-
lichkeit der gleichen B&uche eingegangen ist, die noch heut an unsern
Besten nach dem Metropoltheater vorbeigrinsen. Mit ironischer Verach-
tung hat das vor ein paar Tagen Frank Wedekind festgestellt. Aber das
Publikum soil kein Vorwurf treffen : seine Entwicklungstr&gheit realisiert
vielleicht ein historisches Prinzip. Es erwartet das Signal seiner Ffihrer.
Es lauert auf die Begeisterung prominenter Personlichkeiten. Aber die
prominenten Zeitgenossen entdecken Seelen- und Zeitverwandschaiten
mit Kunstlem, deren modemer Kadaver gegen ihre Courtoisie sehr gleich-
gfiltig ist. Wenn man es doch in ihre Sch&del hineinh&mmem kdnnte,
es weit unwichtiger ist, den toten Kleist zu besingen, als*ihre Theater,
ihre Journale den Lebenden zu dffnen. Aber ihr behender Kick gfeitet
kunstvoll an allem vorbei, was nicht in den freundlich-milden Far ben
ihrer geistigen Genilgsamkeit strahlt. Selbst wenn ihr Blick auf einen
Bedeutenderen fillt : man spflrt es nicht. Was sie berOhren, nimmt ihr
Format an. Arger und Verachtung lassen es zu einem Protest nicht
kommen. Aber eines Tages explodiert der friedfertigste Mensch. Man
steigert sienen Tonfall. Man pfeift auf Skepsis, Ironie und moderne Er-
rungenschaften. Man verl&sst sich auf seine Lungenkraft, um auf irgend-
einen der wenigen grossen Kiinstler hinzuweisen, die hinter einem Vorder-
grund von schreibfertigen Dilettanten kaum sichtbar werden. Und so
soli hier von Else Lasker- Schfiler gesprochen werden.
Else Lasker- Schfiler hat ein Drama geschrieben — licherlich : sie hat
ein Drama aus sich herausgestossen, das an elementarer Kraft, an leiden-
schaftlicher Wucht der Vorg&nge, an tief aufwGhlender Menschlichkeit
sich stolz uber diese Zeit erhebt. (Seit drei Jahren ist „Die Wupper"
jedem Leser zug&nglich : und ich kenne nicht drei der kQnstlerisch Akkre-
ditierten, die offentlich ihrer Anteilnahme Ausdruck gegeben haben.)
Man atmet in einer anderen Atmosphere. Vorgdnge, die wie lichte Schleier
auf einer dunklen Flache phosphoreszieren, verhaken sich in abgrhndigste
Tiefen, holen das Blutigste, Geheimste, Grauenhaf teste herauf, was
europaische Kultur miihsam verbirgt Diese Geschopfe haben nichts
Menschliches als ihr Antlitz: Urkr&fte, Mythen werden in Bewegung
gesetzt — Anprfille und KSmpfe von einer wilden Urweltlichkeit rasen
aufeinander, gegen die unsere verbotenste Literatur hdflich verblasst
Eine Jahrmarktsszene mit der grellen Pappdekoration einer ldndlichen
Kirchweih : und plotzlich offnet sich ein Hexenkessel voll strahlendster
Flammen, voll infemalischer Glut, der alles in sich einschlingt, einsaugt,
hineinfrisst — dass nichts bleibt als das schaudemde HautgefQhl dieser
wfltenden titanischen Wdrme. Dann wieder schwermutige Idyllen,
schaurige Nachtszenen, in denen Kl&nge und Lichter wirr aufblitzen,
Qppige Landschaften, die ein brennend roter Himmel verklfirt : und
zwischem allem fliesst trdge und blauschwarz die Wupper, ein dumpies
Symbol des Volkes, das drohend und gespenstisch in das Leben hineinragt.
127
Appell an ehrliebende Theaterdirektoren
Die Augen dieses Dichters scheinen ffir die ftussere Welt erblindet zu sein :
aber a us heissen Quellen stromt lebendigstes Blut des Lebens in diese
Gestalten, deren Schatten tief in den Abgrfinden der Visionen gespenstern
— gestaltet mit einer nachtwandlerischen Sicherheit, die klaren Fusses
auf dem schmalen Grat schreitet, der Sein und Nicht- Sein streng imd
unfiberbrQckbar scheidet. Und dieses Werk steigert sich zu einem Schluss
▼on dem spirituellsten, eisigsten Schauder, den dieser Jahre fragwtirdige
D&monie an den Strand geworfen hat. Und was ist das Sichtbare ? Im
Nachtwind schiittet ein halbkindischer Greis einen Krug Wasser hinter
drei seltsamen Wandrem her. Wundervolle Grfisse dieser kunstlerischen
Kraft, die aus solchem Bild Geffihle von einer Schwingungsweite ent-
bindet, vor deren Feuer alle europfiische Haltung panisch zerschmilzt.
(Man sagt, dass ein zeitgenbssischer Dramaturg dieses Drama als „natura-
listisch“ zuruckgewiesen habe. Niveau der leitenden Theaterkreise.)
* . •
*
Aber das Niveau ist furchtbar gleichgfiltig. Wenn „Die Wupper“ nur
eine Bfihne findet. Keine falsche Bescheidenheit, meine Herren : ich
weiss, dass ein Direktor Werke mit grosstem Erfolg aufffihrt, die er
notorisch nicht versteht. Pflicht des Kritikers ist es, die Meinung der
bfirgerlichen Zeitgenossen zu demolieren, dass die kunstlerische Sch&tzung
sozusagen von der AnciennitSt abhlngt. Dass sie erst durch den seligen
ffingang des Kuns tiers legitimiert wird. Seit zehn Jahren schreibt diese
Frau Verse : ein paar kultivierte Menschen haben sich daffir eingesetzt :
in Berlin, in Wien. Ganz vertrottelte Pfahlbfirger haben sich fiber Ent-
gleisungen, die bei einem formlosen und genial en Menschen selbst-
verst&ndlich sind, ausffihrlich lustig gemacht. Es sind die, die noch heut
Shakespeares Wildheiten entschuldigen. Es sind die, die van Googh als
irren Schmierer misstrauisch beriechen und ffir jeden vergreisten Jubi-
llumskfinstler die stille Trine der Erinnerung bereit haben. Es sind die,
die vor allem erst einmal den beglaubigten Hungertod des Dichters ab~
warten. Es sind die — aber es ist ja so viel wichtiger, von den Versen
Else Lasker- Schfilers zu sprechen.
* « *
Ihre Verse strahlen etwas unerhort Vergeistigendes aus. Man ffihlt das
innere Ausstrdmen eines begnadeten, wie im Traum verkllrten Menschen:
Bilder, Formen, Landschaften — wie in dunklen Gewlssem spiegelt es sich
in ihrem Bewusstsein. Ihrem Schoss entringen sich mild leuchtende
Atherstrome: Stemenfall sinkt in ihr Blut. Die keuscheste, sanfteste
Bewegung llsst spannungserffillte Welten explodieren. Das zarte Vorw&rts-
schreiten eines Gedankens: und riesige Stemenkreise erstarren, Glut
etkaltet, Feuer sttirzen brausend zusammen. Das Herz glfiht rubinfarben
im selig leuchtenden Leib. Nun bewegt es die Gewalt des Eros, der das
Herz in krystallinischer Glut zerschmilzt: Wenn du mich ansiehst, wird
mein Herz sfiss. Physiologische Erlebnisse verdimsten in einem un-
geheuren, schwankenden Bildkreis, der voll vom Spiel der Gesichte ist.
Seligkeiten des Vergehens: sfiss erschlaffende Meerf instemis, wenn grfin-
leuchtende Wogen den Tr lumen den fiberfluten. Mein Herz geht unter
Ich weiss nicht wo. Sturmvoll erwacht die Sehnsucht nach fremden
Kontinenten: man ffihlt die Seele der Abenteurer, das mi exotischen
Gestaden ganz schimmemd gewordene Blut. Der kfilteste, skeptischste
Sterbliche wird einen Heimatss chmerz achten, so banal ihm das Objekt
Appell an ehrliebende Theaterdirektoren
128
erscheinen mag,, wenn ihn Rhythmen zart wie fein zerteilte Strahlen
berflhren: „Ich fe*nn die Sprache dieses kfihlen Landes nicht, Und seinen
Schritt nicht gehn. Auch die Wolken, die vorfiberziehn, Weiss ich nicht
zu deuten/ * Sehnsucht und aulschwellende Geffihlsseligkeit verschmelzen
in dem Gewebe des Tibetteppichs, dessen symbolische Tiefe die farben-
volle Herrlichkeit eines ganzen Lebenstraums birgt: die hellen Gestade
des Meers und das Frfihrot der Sonne. Und dann die Fremdheit des
Wandrers: das Erstarren vor der Welt zu hieratischer M&chtigkeit versteint
im „Weltende.“ Das Metaphysische scheint in feierlicher Unnahbarkeit
abgebildet — nicht geringer als sich die katholische Minne in der rosa
mystica Dantes spiegelt. E ms ter, gewal tiger, reiner stand nie ein Mystiker
dieser L&ufte vor der Welt: und wenn William Blake der neuen Zeit nicht
das PhSnomen des mystischen Menschen in lichtester Geistigkeit dargestellt
h&tte : so wtisste ich aus dem literarischen Bestand dreier Jahrhunderte
nichts zu nennen, was dieser Grosse nahe kommt. (Exkurs fiber (he
Mystik: Mystik ist nicht Versumpf ung, gestaltlose Morastigkeit des Geistes,
wie jene von Nietzsche berufene „ungeistige, dumpfe Mystik neuerer
Deutscher' ‘ , sie ist lichteste Heiterkeit, durchsichtigste Form, von einer
ergreifenden, freimdlichen Eindringlichkeit. So wie es Brentano, ge-
niesserisch noch in der Bittemis der Schmerzen, am Lager der Katharina
Emmerich niederschreibt: ,,Ich habe Dinge an ihr erlebt, die, wenn ich sie
niedergeschrieben lise, mich tief erschfittera wfirden, die aber, von ihr
ausgehend, mir nur freudig rfihrend waren.“ Die Aura einer verkUrten
menschlichen Sehnsucht.) Ich wfisste nichts zu nennen, was ihr nahe
kommt. Und wie bei den seligen Frauen des Mitt el alters, wie bei alien
schmerzhaft an dem metaphysischen Eros leidenden Frauen steigert
sich die Sehnsucht zu dem gewaltigen Geffihl eines seligen Anschwellens
-einer heiligen Schwangerschaft, die stillen Lfichelns die Welt aus ihrem
Blut entbindet und in ganz schwebend vergeistigen Versen Form und
Mass findet.
Leise schwimmt der Mond durch mein Blut . . .
Schlummemde Tone sind die Augen des Tages
Wandelhin — taumelher —
Ich kann deine Lippen nicht finden . . .
Wo bist du feme Stadt
Mit deinen segnenden Dfiften?
Immer senken sich meine Lider
Uber die Welt — alles schl&ft.
• *
*
An die Direktoren. Es wird nicht unterlassen werden, die Herren
Theaterdirektoren zu erinnera, dass ein kfinstlerisches Theater keine
Altersversorgung ist : sondera ein GeschSft ffir Abenteurer, ffir Wage-
mutige, die vor der Mdglichkeit einer materiellen Schlappe nicht in die
Ecke kriechen. Hundert Auffuhrungen von Schonherr, uberseeische
Ausflfige mit Sumurun legen Verpflichtungen auf. Aber lieber ein Dutzend
emster und heitrer Possen tausendmal herausschleudem : als einem
genialen Menschen die Bfihne zu verschliessen, weil ein Dramaturg miss-
trauisch auf das Publikum schielt RUDOLF KURTZ
Legende - Essen 229-
Legende
Von RUDOLF LEONHARD
( Strausber g)
Es ist bekannt, dass einer von den J linger n, als Jesus mit
ihnen von Kana nach Tiberias am See Genezareth ging und es
ein heisser, schwerer Tag war, einen schwarzen Hund am
Boden liegen sab, mager und struppig, den die Riude getotet
hatte. Es ist bekannt, dass er ihn den andern wies und sie unter-
einander sprachen: Seht, was fiir ein h&ssliches Tier!
und
Simon von Kana den Fuss nacb seinem Korper stiess. Und
dass der Herr sagte: er bat schdne blanke Z&hne, sich biickte
und mit den Fingern uber die blutige, abgestossene Schnauze
stricb.
Am Abend aber, als die Winde leise gingen und der Meister
einsam sass und auf das uralte Lied des Dunkels horcbte, trat
Jakobus zu ihm, des Zebed&us Sohn, sab ihn fest an und fragte:
Meister, der Hund heut am Wege — ekelte dich nicbt
schmutziges Fell ? Da kam langsam eine heisse Rote unter Jesu
br&unliche Wangenhaut, sein Gesicbt bewegte sich nicbt. Und
sehr leise sagte er : Ja!
setn
Essen
Von ROBERT WALSER
Kalbsfricandeau ist etwas Furchtbares. Boeuf & la mode
ist schrecklich. K&se zu Tee ist herrlich. Es gibt Leute, die gem
Bralkartoffeln mit K&se zusammen essen. Maccaroni ? Sie sind
mein Leibessen. Aber sie miissen ganz mit Kfiseduft durchtr&nkt
sein. Der K&se muss da triefen. Eine Kuche interessiert mich
eigentlich sehr, und es ist wahrscheinlich ein Koch oder Kuchen-
chef an mir verloren gegangen. Ich wiirde da gedichtet haben,
viel besser und viel wohlschmeckender wie mit der kalten spitzigen
Stahlfeder. Ich wtirde einen Herzog haben zufriedenstellen
kfinnen.
Warum bin ich eigentlich so stark eingenommen furs Essen ?
Leute essen sehen ist ftir mich ein Genuss. Wie hubsch
Katzen iirbigens Milch lecken. Meine Katze hat immer mit mir
zusammen aus einem Teller gegessen. Sie hat mir die besten
•i
130
Bissen mit ihrer schwarzen Pfote vor der Nase weggenommen.
Wehren konnte ich es ihr nicht; es war mir unmoglich, sie fur
ihre Ungezogenheit zu bestraien. Pferde fressen auf eine sehr
liebe Art. Wie mancher Mensch isst viel weniger schon. Meine
Gedanken fiihren mich auf echte Kieler Sprotten. Als ich zum
erstenraal Sprotten ass, befand ich mich wie im Himznel. Heute
stehen sie bei mir ziemlich tief im Kurs. Roher Schinken ist
immer ein gesundes Essen, gekochter ist zu schlupfrig. Auf
Sussigkeiten bin ich nicht erpicht, jedoch auf gestrichenes Oder
geschmiertes Brot ohne Beilage. Aber es muss Landbrot sein.
Stadtbrot ist zu oberfl&chlich gebacken; es hat meist keinen
Charakter.
Fiir ganze Mittagessen, namentlich wenn sie stilvoli serviert
werden, kann ich schw&rmen. Aber gottlich ist es, in. einer
einfachen Budicke einen Brathering zu sich zu nehmen. WUrste,
wie Bockwiirste, Bierwurste, Wienerwiirste schlagen zu sehr
ab und stossen zu sehr auf. Man fuhlt sich vergrobert. So
etwas soil man vermeiden. Knusprigen Rinderbraten kann man
mir dagegen jeden Augenblick in den Mund stecken und zu
verzehren geben; er soil nur gehorig mit Speck gespickt und Ton
Sauce umschwommen sein. Bisweilen genehmige ich auch ganz
gem Salzkartoffeln. Wer eine Kartoffel so zu kochen versteht,
dass sie eine lockende Nahrung fiir sich darstellt, beweist, dass
er Sinn fiir die Kochkunst hat. Diese Kunst hat ja nun ihre
Gipfel, ihre Lorbeerblatter, wie jede.
Von den Gipfelstiicken und Kronjuwelen dieser Kunst zu
reden, wiirde mir schwerlich gliicken , da ich bis zum heutigen
Tage ein armer Mann geblieben bin und infolgedessen wenig oder
keine Gelegenheit habe, zu essen, was Wiirdentr&ger und Staats-
mdnner versorgen. Ich esse und Tertilge ungefahr das, was die
Menge herunterwiirgt. Doch was habe ich da von Wiirgen und
Stopfen zu reden. Ein Stuck richtiger Schweinebraten ist und
bleibt ein ehrliches Essen. Was das Volk isst, kann ich eben-
falls essen, wie z. B. Sulze. Sulze schmeckt ganz vortrefflich.
Ich finde zwar auch Fasan ganz gut, aber eine Linsensuppe ist
mir lieber.
Vive la bagatelle I
Swift
Da sich zwischen uns Meinungsverschiedenheiten heraus-
gestellt haben , sind wir iibereingekonunen, unser Teilhaber-
verh<nis dahin zu ldsen, dass Paul Cassirer der alleinige Inhaber
des Untemehmens bleibt und Alfred Kerr zu anderer T&tigkeit
ausscheidet.
PAUL CASSIRER. ALFRED KERR
CODA
Allen Muhmen, alien Vettern
Einen Gruss aus diesen Blattern.
Allen Vettern, alien Muhmen
Abschiedswflrste, Abschiedsblumen.
Freundlich in der Lebensbahn
War die WQrgsamkeit im Pan.
Junge Dichter j unger Strophen
Sind in Hoffnung mitgeloofen.
Und zuerst ward und zuletzt
Radikales hochgeschStzt.
Dabei bleibt’s, bald spurt Ihr’s femer —
Und ich schwor’s wie Theodor Komer.
Schon ist’s, mit verh&ngten Ziigeln
Reiten und sich rumzuprligeln.
Jede Tatkraft wird ver hunzt
Durch BeschSftigung mit Kunst
Mit dem Stuhlbein, mit der Pike
Kriegt ein Dasein erst Musike —
(Sagt sich, wer gen Morgen reist
Und das Auge rUckwSrts schmeisst).
Manches blonde Herz erobert
Hat von hier aus Gustav Flaubert.
Bethmann Holzweg schlechter dings
Horte hell den Ruf nach links.
132
Und die Komik von Prozessen 1
Bahnverbot nicht zu vergessen.
Reinhardt, Kitsch und Pollezei.
Sittenruger ziehn vorbei.
Mancher Mann in manchen Tagen
Lernte leiden, ohne zu . . . klagen.
Allen Vettern, alien Muhmen
Abschiedswurste, Abschiedsblumen.
Meine Gegner sollen platzen
Und verrecken wie die Katzen.
Doch der Freunde winziger Haufen,
Zwolfmal taglich Nektar saufen.
. . . Und wenn ich den Sinn versenke
In mein Herz was es wohl denke,
Spricht es, wenn ich recht versteh’ :
„Qu’est-ce qu’elle en dira ? Qui sait ?“ . . .
Kerr
Alls Sendungen slnd zu adressieren
Berlin W.10, Viktoriastrasse5.
Fiir Unverlangtes keine Burgschaft.
Alfred Kerr (zu Grunewald) zeichnet verantwortlich fur diese Hummer.
Gedruckt bei Imberg & Lefson G. m. b. H. in Berlin SW. 68.
*33
Reichstag
Rcichstd^
Von HEINRICH MANN
fc
* •
Da bis auf kurze Zwischenfalle den ganzen Tag nur der Ab-
geordnete Erzberger redet, ist das Zentrum vollauf beschiftigt.
Es lacht, wo immer es einen Witz argwohnt. So oft no tig, inszeniert
es dumpfes Entriistungsge po Iter . Und immer ist es zur Stelle, wenn
▼on links ein Zwischenruf droht: dann schnappteszu, mit Stimmen,
wie fette Hande, die abwehren, wenn eine Fliege ins Bier fillt. Denn
den christkatholischen Gesassen, . die sich vor diesen Tischen auf-
tiinnen, fehlt wirklich, um sie heimisch zu machen wie in ihrer
Dorfschenke, nnr noch der Masskrug. Manchmal schleppt einer
seinen Bauch hinaus : ein Geistlicher. Er heisst Geistlicher,
weil, was er vertritt, vor tausend Jahren wirklich Geist war. Heute
ist es die er starr teste , dumpfeste Materie, wie sein Gesicht: dies
Gesicht von engstirniger Bestialitat, zwinkernder Frechheit, stierer
Verachtung aller Menschlichkeit, alles besseren Wollens, aller
Hoffnungen auf spiter . . . Aber hier, unter den VierhUndert,
die die Nation selbst sind, fullt er die breite Mitte ; sein BeaUf-
tragter Erzberger redet tagelang.
Er redet unabanderlich vom Rednerpult aus, denn er muss
seine Akten ausbreiten konnen. Er ist ein Aktuar, mit weichem
Jackettanzug, breiter schwarzer Kra watte, die staatsmdnnische
Ambitionen verr&t, und mit einer trbckenen Knarrstimme, die
gar nichts ▼err&t. Er ist der subalterne Ehrgeiz, der keine Geste
hat, denn die H&nde sind immer in den Akten ; der einfach
arbeitsam ausfiihrt, was im geistlichen Rat beschlossen ward f
und dessen kiihnster Traum erledigt wire, wenn er eines Tages
bei Hochkonjunktur als Marionette, mit Fiden an alien Glied"
massen, auf irgend einen diirftigen Regierungsposten gesenkt
werden wiirde. >
Dann und wann betritt, die Hinde in den Hosentaschen, ein
Konservativer den Saal und iiberzeugt sich, dass der Erzberger
die Sache machc. Er macht sie. Nach dem gestrigen Zusammen-
stoss mit dem Reichskanzler, wobei Wahlgeheimnisse platzten,
ist Mafokko gefahrlich geworden und - man mogelt es besser in
eine Sozialistendebatte um. Von Dreckwitz ruft : „Hort, hbrt 1“
— - aber er selbst kehrt lieber zu den Freunden ins Foyer zuriick, .
auf das rote Sofa, wo sie sich, die Glabzen Zwischen den Schultem , .
to
Reichstag
134
so tief einsenken, wie nur des Nachts in die Polster des Palais
de danse. Schmunzeln um die funkelnd schwarzen Schnurrbarte,
plaudert man von den kleinen Freuden des Augenblicks, von den
Sorgen der Zeit, — und wieviel edler gen&hrt als an den geistlichen
Freunden glfinzt in diesen Mienen der Speck I Nun geht ein
L&cheln dariiber, denn jemand hat sich die Saaltiir dffnen lassen,
man sieht drinnen die Proleten sich abarbeiten. Dies L&cheln I
Es sagt : „Komodie 1 Indes ihr schwatzt, ist das Geschaft l&ngst
fertig.“ Es sagt : M Komodie 1 Ihr alle seid Objekte der Gesetz-
gebung, die Subjekte sitzen hier.“ Es sagt : „Ein Leutnant mit
zehn Mann.** Es ist ein L&cheln von Holofernes bis Dschingiskhan.
Es ist das Wulstl&cheln aller Schweine der Weltgeschichte :
alter Herrenschweine.
Von Dreckwitz hat „ Bravo !** gerufen, weil der Redner die
rote Bande nicht tibel anhaucht ; aber er beh&It den Mund of fen,
denn der Redner ist nicht mehr Erzberger. Einer der Zwischen-
f&lle ist eingetreten, die zwei Reden des Erzberger miteinander ver-
binden, und droben steht ein Freisinniger und beweist den Sozial-
demokraten, dass sie beim Ausbruch eines Krieges gestreikt
haben wtirden. Er ist sichtlich iiberzeugt, dass er heute gar nichts
Besseres tun kdnnte. Die Ironie rechts sieht und hdrt er nicht ;
flammend reckt er sich nach links und gegen den Umsturz. Der
Mann ist Arzt, er wird tiglich mit Sozialdemokraten zu tun
haben, muss genau wissen, dass diese Leute sich von ihm selbst
nochstens durch ein paar historische Redensarten unterscheiden,
dass sie massvolle kleine Burger sind, die nichts wollen, als Kindem
UndEnkeln ein spiessigesWohlleben verschaffen, und dass sie zum
Generalstreik so stehen wie die Jungtiirken zum heiligen Krieg,
n&mlich selbst die.grosste Angst davor haben. Aber die Wollust,
positiv und erhaltend zu sein, macht ihm Kongestionen, er weiss
nichts mehr. Und der Mann ist Jude. Sein Leben ist sicher nicht
vergangen, ohne dass er die Feindseligkeit des christlich ge-
schminkten Feudalstaates erfahren hat. Wenn er den Kopf
wenden wollte, auf wie viele Blicke wiirde er dort rechts treffen,
worin nicht freche Geringsch&tzung l&ge? Gleichviel, er sieht
nicht hin, und ftir einen Augenblick ist auch er ein Herr, ein
Machthaber, der zum Volk vom Pferd herab spricht (bevor es
ihn wieder abwirft) und hinter sich Edelleute und Priester hat.
Die Instinktverlassenheit dieses Biirgertums ist vollst&ndig.
So Vollst&ndig kann sie sich nur an grossen Tagen bew&hren.
Marokko musste verloren werden, das Reich durch die Adeligen,
die es regieren, defer gedemiitigt werden als je vorher, und die
Adeligen selbst mussten, von Panik erfasst, aneinander geraten
mit den sogenannten Staatsm annern , die nur ein Ausschuss
Reichstag
1 35
ihres eigenen Kliingels sind: solche glinzende Kombination
musste eintre ten , damit der liberate Burger dem Zentrumsaktuar
auf seinen ordin&ren Trick hineiniallen konnte und mitschimpfen,
gegen wen ? gegen die Sozialdemokratie 1
Was er iiber die Diplomaten vorbringt, klingt flau ; man
hort die Demut, die sich einen Stoss gibt, um Ungezogenheit zu
werden. Ueberlegenheit wird sie nicht. Die „Herren dort oben“
bleiben oben, noch im tiefsten Sumpf. Der Burger lasst es ohne
Widerspruch geschehen, dass aui alle seine Beschwerden der
Staatssekret&r als Antwort einen Witz setzt, einen Witz, nicht
diimmer und nicht ordin&rer als der Trick des Zentrumsaktuars.
Warum sollte der Staatssekret&r es sich schwerer machen ? Seine
wahre, ach so schlecht weggekommene Gestalt kennt nur
Europa. Hier drinnen sieht man ihn nicht b oss in gelber. Weste,
man sieht ihn gepanzert. Alle seinesgleichen, die sich draussen
ducken miissen in ihrem geistigen Elend, ihrem trfiben Mangel
an Weltlaufigkeit und Kenntnis der Gesch&fte : so oft sie zuriick*
Jcehren aus den Niederlagen, die englische Kaufleute und fran-
zosische Literaten ihnen beigebracht haben, ah ! welch Prunken
▼or den verschiichterten Landsleuten, welch Auftreten, welche
furchteinflossende Autorit&t — zwischen den Niederlagen !
Sie sind komisch, sie sind abstossend : emporend sind . sie
nicht, denn sie erhalten sich selbst wie sie kdnnen, und sind wohl
nicht f&hig einzusehen, dass an ihnen das Land zugrunde geht.
Empbrend ist der Burger, die Masse dieser gebildeten, wohlhaben-
den Leute, die durchaus den Hass nicht kennen wollen ; die
ihren lehrhaften Diinkel fur die radikaleren Volksgenossen auf-
sparen und dem Volksfeind, der rechts steht, mit Riicksichten
begegnen, als lebten sie mit ihm auf derselben Plattform, als
liesse sich paktieren, als gebe es verbindende Menschlichkeit.
Aber es gibt keine. Habt ihr denn kein Blut? Niedergehalten
in eurer offentlichen Selbstbestimmung, ausgeschlossen vom Staat,
▼on Macht und Ehren, von der Vertretung der Leistungen und
Werte, die nur die euren sind, der Welt gegenfiber : ist das nicht
genug ? Ist es nicht genug, ein Leben lang von Fremden, die fiber
ihren Willen und ihre Sprache selbst verffigen, gefragt zu werden :
„Was sagt euer Kaiser ? Was will eure Regierung ?“ Und wenn
ihr einen anstandigen Kopf habt, gefragt zu werden : „Sie ge-
horen wohl zur Aristokratie Ihres Landes ?“ — da in einem unter-
drfickten Arbeitsvolk niemand die Gesichter der hochsten
europdischen Kulturschicht sucht. Letzter Hohn eines deutschen
Schicksals: verwechselt werden mit dem von Dreckwitz, mit
dieser Elite des Stalls und der Nachtlokale, mit dieser Edelzucht
▼on Zirkusdirektor und Schieber ! Habt ihr kein Blut ? Steigt es
10*
136
Reichstag
euch nicht in die Stirn beim Anblick der frechen Feindseligkeit
einer Kaste, die es noch wagt, sicb zu zeigen, noch wagt,
befehlen zu wollen, mitten im Sammelpunkt eurer biirgerlichen
Anstrengungen, in der Schdpfung eurer V&ter, im Reichstag?
Gutmiitige Vortrige haltet ihr ihnen ? Seid und bleibt fern aller
Konventsstimmung, dem „Du oder ich !“, dem ,,Auf ihnl“ der
grossen Geschichte?
Dann lasst euch immerhin am xa. Januar ein wenig zahl-
reicher in dies Haus zuriickschicken : das &ndert nichts. Ihr
werdet bfter reden, und sie werden euch hdhnischer trotzen.
Auf ihr letztes Wort, das Gewalt heisst, bleibt ihr immer ohne
Antwort, — da ihr ja niemals die Kasse sperren und abwarten
werdet, ob die Kanonen sich gegen die Gebdude der Grossbanken
richten. Der Versuch wire l&cherlich einfach, und im Hand-
umdrehen wiirde sich zeigen, dass sogenannte Herren, die es nur
durch faule Uebereinkunft und durch Suggestion sind, nicht aber
kraft des Geistes und nicht einmal auf Grund des Geldes, dass sie
noch gar nichts fur sich haben, wenn sie nur die Gewalt haben . . .
Aber es w&re unniitz, euch zu raten. Die Geschlechter mussen
voriibergehen, der Typus, den ihr darstellt, muss sich ab-
nutzen: dieser widerw&rtig inter essante Typus des imperialisti-
schen Untertanen, des Chauvinisten ohne Mitverantwortung, des
in der Masse verschwindenden Machtanbeters, des Autoritdts-
gl&ubigen wider besseres Wissen und politischen Selbstkasteiers.
Noch ist er nicht abgenutzt. Nach den V&tem, die sich zer-
rackerten und Hurra schrien, kommen Sohne mit Armb&ndern
und Monokeln, ein Stand von formvollen Freigelassenen, der sehn-
suchtig im Schatten des Adels lebt . . . Geht heim, Volks- *
▼ertreter, kehrt zurtick in die biirgerliche Wuste dieses Landes;
und braucht ihr StSrkung fur eure Demut, dann tretet ins all-
gemeine Restaurationszimmer eures Reichstages ein. Nebenan,
abgesondert vom Pdbel, speist der konserrative Adel. Ihr werdet
ihn nicht hinausprugeln.
Tschudi
138
Tschudi
Von MAX LIEBERMANN
Vor mir steht in dieser schweren Stunde Tschudis elastische
Gestalt, wie ich sie vor 30 Jahren zuerst erblickte; schon, schlank
und gross, mit dem feingeschnittenen Kopfe, auf dessen Gesichts-
ztigen ruhige Zuriickhaltung und innere Diszipliniertheit aus-
gedriickt waren. Und ich hore seine melodische Stimme, mit der
er seinen Gedanken in klassisch vollendeter Form den pr&g-
nantesten Ausdruck zu geben wusste. In seiner ganzen Erschei-
nung etwas jugendlich Sieghaftes; etwas kindlich Naives, aber
dabei auch trotzig Ueberlegenes: ein St. Georg, wie ihn breit-
beinig Donatello vor San Michele hingestellt hat. Als wollte
er sagen: dem Mutigen gehort die Welt. Dem Reiter fiber den
Bodensee gleichend, der die Gefahr erst erkennt, wenn sie iiber-
wunden. Ach! leider hatte das Schicksal dem Helden auch die
Tragik nicht erspart, aber wie er das schwere Geschick ertrug,
zeigt gerade seinen Heroismus.
Der Typus des Aristokraten. Wenn anders Aristokratie die
Herrschaft der Besten bedeutet', wie kein anderer zum Herrschen
geboren, dieser Spross einer tausend Jahre alten Familie. Er
stolz auf seine Familie, und er durfte es sein. Und ich er-
innere mich, wie er mir, als wir einst zusammen in Paris waren,
den Namen des grossen Schweizer Geschichtsschreibers Tschudi
zeigte, der mit goldenen Lettem auf der Fassade der Bibliothek
von Sainte GeneviSve eingemeisselt ist. Miitterlicherseits dem
Malergeschlecht der Schnorr von Carolsfeld entstammend, war er
eine Mischung vom Gelehrten und Kiinstler, der die hohe Kultur,
die wir an dem Verstorbenen bewunderten, entsprungen war.
Aber was noch seltener: die Kultur hatte seinem Temperament
keinen Eintrag getan: mit zdhester, fast brutaler Energie suchte
er durchzusetzen,
er als richtig erkannt hatte. Ein unbeug-
samer Charakter, sachlich und temperamentvoll zugleich, das Bild
kraftvollster Persdnlichkeit. Er war verschlossen und eher schweig-
sam als gespr&chig, es dauerte lange, bis er sich ganz gab, und
da seinem Stolze nichts verhasster war als Sentimentalitdt,
machte er bei oberfl&chlicher Bekanntschaft eher einen kalten
und abstossenden Eindruck. Aber wenn das Eis, mit dem Naturell
und Erziehung sein Inneres umpanzert hatten, einmal ge-
schmolzen war, er sich in Sarkasmen Luft gemacht hatte und
sein Herz offnete: wie erstaunte man vor der ungeheuren Kraft
seines Temperamentes, das wie die Lava unter der Asche aus
seinem Innern hervorquolll
Tschudi
Er durfte von sich sagen, dass er seinem Charakter nie untreu
ge worden, und wie wenige diirfen das von sich sagen ? Ich lemte
Tschudi vor fast einemMenschenalter kennen, als er nach ldngere m
Aufenthalt in Italien, wo er in dem Maries- und Bdcklin-Kreise
verkehrte und dessen Anschauungen teilte, nach Berlin ge-
kommen war, um an den Museen zu arbeiten. Er war dann
jahrelang Direktorialassistent, besonders die alten Niederl&nder
studierend und seine Forschungen in spdr lichen Abhandlungen
niederlegend. Auch in dieser vomehmen Zuruckhaltung zeigt
sich sein Charakter: wahrend andere nie genug und nicht
friih genug, was sie eben erforscht, durch den Druck zu ver-
offentlichen suchen, miissen ihn, den vollendeten Meister des
geschriebenen Wortes, die Freunde und vor allem er selbst sich
zur Drucklegung geradezu zwingen, denn nie glaubte er sich
genug getan, nie sich wahr genug ausgedriickt zu haben.
In seiner stetigen und eher langsamen Entwicklung tritt
der Wendepunkt ein, der iiber sein Schicksal entscheiden sollte,
als er im Alter von 45 Jahren zu seiner eigenen und der Welt
Ueberraschung zum Direktor der Nationalgalerie ernannt wird.
Aber die Ueberraschung der Welt wurde noch grosser, als sie plotz-
lich in Tschudi alle Eigenschaften sich entfalten sah, deren Keime
nicht nur ihr, sondern selbst seinen Freunden bis dahin verborgen
geblieben waren.
Kurz nach seiner Ernennung bat mich Tschudi, mit ihm
nach Paris zu reisen, weil er die dortige Kunst, vor allem aber
die Pariser Kiinstler n&her kennen lemen wollte. In der Galerie
Durand-Ruel erblickte er zum ersten Male Manets Werke in
ihrer ganzen Grosse. Manets Grenius wirkte wie eine Offenbarung
auf ihn und mit der Schnelligkeit des elektrischen Funkens
kam ihm der Gedanke, dass die Kenntnis der neueren franzo-
sischen Kunst absolut no tig sei, um die Entwicklung der zeit-
genossischen deutschen Kunst zu verstehen. Ein ebenso einfacher
wie genialer Gedanke — aber auch ebenso gefahrlich in der
Ausfiihrung. Und nun zeigt sich Tschudis ganze Grosse: kleinliche
Intrigue, Neid der Kiinstler, Missgunst seiner Vorgesetzten kdnnen
ihn auch nicht um Haaresbreite von dem einmal als ricbtig
erkannten Wege ableiten. Er spottet derer, die seine Liebe fiir
Bocklin aus seiner Landsmannschaft mit dem Schweizer Maler
erklSren, die ihm Vaterlandslosigkeit vorwerfen, weil er die
Meisterwerke der Franzosen ankauft oder richtiger der Galerie
schenken lasst. Er spottet seiner Freunde, die ihm zu grosserer
Diplomatic raten, weil er , ,Hintertreppenpolitik“ verachtet und
des Glaubens lebt, . dass der gerade Weg auch der einzig
richtige ist. Und ich entsinne mich, wie er vor seiner Ueber-
140
Tschudi
siedelung nach Miinchen beim Abschied mir das Versprechen
abnahm, eins der mir gehorigen Bilder von Degas der Pinakothek
zu tiberlassen, und als ich ihm sagte, dass er damit in Munchen
dasselbe begSnne, was ihn um seine Berliner Stellung gebracht hatte ,
er mit selbstbewusster Lauterkeit antwortete: „Was liegt daran ! —
babe ich doch die Nationalgalerie zu dem gemacht, was sie ist!“
Die ehrenvolle Berufung nach Munchen war fiir den schwer-
gekrankten Mann eine grosse Genugtuung, und mit jugendlicher
Begeisterung ging der bald sechzigj&hrige ans Werk: Was er
in der kurzen Zeit seiner Munchener Wirksamkeit geleistet hat,
ist staunenswert. Wie er, was wertlos, ausmerzte, Fehlendes
aus den Provinzialmuseen erganzte und die Pinakothek neu
ordnete, gereicht ihm zu unverganglichem Ruhme. Es zeigt nicht
nur, dass er das ganze imgeheure Gebiet der alten Kunst dur chaus
beherrschte, sondern er bewies auch seinen ph&nomenalen Ge-
schmack und seinen nie irrenden Instinkt fiir die Qualit&t derWerke.
Leider versagte ihm das Schicksal zu vollenden, was er in
Miinchen begonnen ; aber er hat in der kurzen Zeit seines dortigen
Wirkens das Wesentliche getan: sein Nachfolger kann, wie in Berlin
so in Miinchen, auf dem von ihm gebahnten Wege forts chreiten.
Er legte beim Kunstgelehrten den Akzent auf Kunst,
und nicht der Taufschein, sondern der Augenschein war ihm das
Kriterium fiir die Echtheit und die Qualit&t des Werkes. Freilich
gehdrte dazu Tschudis Personlichkeit: die Bildung des Gelehrten
-und der Geschmack des Kiinstlers. Er erkannte nicht nur die
historischen Zusammenh&nge der Kunst, sondern er erkannte
das Wesen der Kunst, das ewig Werdende in ihr. Die klassischen,
lapidaren Worte, die er vor etwa einem halben Jahr in dem Vor-
wort zu N ernes- Sammlung geschrieben, sind sein kiinstlerisches
Testament geworden, in dem modernen Museumsleiter, wie er sich
ihn denkt, hat er sich selbst gezeichnet: von der modernen Kunst
aus mQsse man zum Verst&ndnis der alten Kunst vordringen
und nicht, wie bisher, umgekehrt; denn es gibt nur eine
Kunst, ob alt oder neu — die Kunst, die lebt!
Der Zauber, der in Tschudis Personlichkeit lag, war in seinem
ritterlichen Wesen ebenso begriindet wie in seiner vollendeten
weltm&nnischen Kultur. Ach! er ist uns auf ewig entrissen, und
nur in der Erinnerung an den seltenen Mann werden wir schwachen
Trost fiber seinen Verlust finden konnen. Aber sein Wirken wird un-
verg&nglich bleiben, denn er war Forderer undMehrer unserer Kultur .
Und nun lasst uns Abschied nehmen yon dem teueren Toten,
in Wehmut aber auch in Dankbarkeit mit den Worten des Dichters:
„Denn er war unser“.
i
Re vol v er schiisse
141
Revolverschiisse
Im osterreichischen Parlament hat ein junger Mensch von
der Tribune hinuntergeschossen.
Im Osten von Berlin hat der Tischler Schoeps seine Frau und
sich selbst erschossen.
Der Hauslehrer einer angesehenen Wiener Familie hat auf
das Madchen, das er liebte, ihren jungsten Bruder und sich selbst
geschossen.
Der Ehemann einer Berliner OpemsSngerin hat nach einem
kurzen Gesprach mit seiner Frau, wahrend sie auf der Probe
war, sich erschossen.
Die Liste der Revolverschiisse dieser Tage kdnnte noch fort-
gesetzt werden. Immer ist’s das gleiche : Kalt, sinnlos wird
Leben vernichtet. So gedankenlos der Hahn gespaxmt, als handle
sich’s um eine leere Geste, irgendein Wort, erne Nichtigkeit,
die man nachher wieder anders ansehen, anders machen kann.
Manchmal glaubt man, dass die Menschen unserer Zeit dem
Tode gegeniiber ein anderes Gefiihl haben als friihere Genera-
tionen. So rasch geben sie ihn sich — und anderen. Natiirlich,
auch vor uns haben Verzweifelnde, die keinen Weg mehr sahen,
den Revolver genommen, weil sie das Leben, wie es sich ihnen
gerade in einer Stunde bot, nicht mehr ertragen wollten. Und
mit jenen, die einmal diese letzte Wahl zwischen der E xistenz,
die sie kennen, und dem Ungewissen, getroffen haben, zu rechten,
ist mir ebenso unverst&ndlich wie die Pedanterie der Selbstmorder,
die, bevor sie von uns weggehen, ihren Schreibtisch ordnen, mit
der Vorstellung spielen, was nachher sein wird. Man sollte ja
eigentlich glauben, dass nichts nach solchem Entschlusse sie mehr
mit uns verbindet.
Die Kugeln aber, die d o p p e 1 1 treffen sollen, eigenes und
fremdes Leben zerstoren, die erregen uns durch die Geb&rde der
Drohung, den Sinn, den sie, den Tfitern selbst oft unbewusst,
noch iiber das Ereignis hinweg haben. Theologen in und ausser
der Zunft mdgen iiber das Recht am eigenen Leben disputieren.
Aber auch dass ein anderer weg soli, weg muss, damit
man selbst auf Erden wieder atmen kann, verstehen wir
mit unseren aufrichtigen Instinkten. Es mag sein, dass dies
die Idee des Duells ist, das so viele von uns im Frinzip und mit
der Vemunft ablehnen und das uns dann wieder, nicht aus ge-
sellschaftlichen Griinden her aus, die einzige Losung mancher
■+
Revolver schiisse
T J9
»tt4Nr
Konflikte scheint : namlich jemanden unter dem Schein und
Schutz der Legalitat aus der Welt schaffen. Sich selber wieder die
Mdglichkeit erobern, nach dem Gesetze der eigenen Natur leben zu
diirfen, wenn der andere, die andere einem nicht mehr in den
Weg treten kann oder — durch eigenen Tod erldst werden
von solcher Mdglichkeit der Begegnung, der Gemeinschaft di eser
Welt. Die {Convention (anderes ist Sittlichkeit ja nicht) kampft da
mit unseren heftigsten Trieben. So paradox, so unanstandig es
dem und jenem klingen mag : ich bin dem Menschen n&her,
der selbst dableiben will und darum den Tod eines anderen
erzwingt als den kalten Helden, die den anderen, Mann oder
Weib, in den Tod mitnehmen, den Mord durch Selbstmord —
so sagt man ja — siihnen. Solches Tun erscheint mir als die
ftusserste Sinnlosigkeit ; denn ob eine Frau, die man geliebt
hat, sich Einem nicht geben oder einem anderen gehdren will,
ein Mann weiter abenteuert, den man hasst, das miisste ja
jenem ohne jede Bedeutung sein, der selbst nicht mehr fortleben
will. Darum empfinde ich diese Doppeltragodien nicht als Tragik,
es sei denn als die Tragik ganz verwirrter oder ganz kalt toben-
der Naturen. Jene „Frage an das Schicksal“, mit der wir immer
herumgehen, selbst wenn wir sie ein paar Augenblicke nicht
klar spuren, dr&ngt sich beim Knall solcher Revolverschiisse
auf : warum so uns&glich viel Sinnloses im Willen der Natur,
der Welt beschlossen ist, Tag um Tag neben uns geschieht ? Und
flberdenken wir's noch eine Minute, so stellt sich eine fast masslose
Erschiitterung ein, weil wir immer wieder das gleiche sich er-
eignen sehen : dass alles, was man Vemunft, Bildung des einzelnen
und der Gesamtheit nennt, Kultur, Zivilisation und so weiter in
jenen Stunden defer Entscheidungen versagt, wo irgendein Reiz
— zu leben oder zu sterben — sehr mdchtig wird. Weil man
das fuhlt, wird man verzweifelt, wenn jedes Zeitungsblatt die
Nachricht so einer Tat bringt, die uns unverst&ndlich ist und denen,
die sie begingen, gestern ebenso unverstdndlich gewesen w&re,
irgendwo in uns aber der Zweifel nicht zu beschwichtigen ist,
dass auch wir derlei tun konnten, tun wurden, wenn nur einmal
das Schicksal heftig genug an unseren verniinftigen Ueberlegungen
riittelt ...
Man muss die Zeitungsblatter fortschieben, will nicht mehr
denken und nur die Hoffnung festhalten, dass unsere Insdnkte
trotz allem noch das Verlasslichste sind, was wir haben. Denn
sonst ... W. FRED
Hut ab 1
*43
„Hut abl u
Von AUGUST STRINDBERG
Aus der schwedischen Handschrift dbertragen von Emil Sobering
Hut ab! so riefen die rasenden Berliner am 22. M&rz 1848
ihrem Konig Friedrich Wilhelm dem Vierten zu, als er gezwungen
worden war, vom Schlossbalkon den Leichenzug der gefallenen
Barrikadenm&nner zu grfissen. Der Kdnig entbldsste sein Haupt ;
die Kfinigin wurde ohnm&chtig, als das Volk die Leichen in den
Schlosssaal zu bringen drohte.
Unto: dem Druck der Berliner Revolution, die blutiger war als
die Pariser Februar-Revolution, wurde der souver&ne Kdnig ge-
zwungen, eine Konstitution zu versprechen, die auch zustande
kam, indem die konstituierende Nationalversammlung berufen
wurde.
Diese Konstitution wurde von Friedrich Wilhelm im Berliner
Dom vor den Kammern beschworen. Dabei sprach er diese denk-
wfirdigen Worte fiber die Verfassung, die „durch aufopfernde
Treue von Mannern, die den Thron gerettet haben (von den
Revolution&ren) , zustande gekommen sei‘; „Sie (die Abgeord-
neten) haben die bessernde Hand daran gelegt ; Sie haben hedenk-
liche Dinge daraus entfemt und gute daffir eingesetzt . . Die
Konstitution kam also nicht von oben, sondern von unten. „Ein
freies Volk unter einem freien Konig", hiess es weiter, war meine
Losung seit izehn Jahren: „sie ist es noch und wird es bleiben,
solange iph atme.“
Im selben Zusammenhange fSUlt das Wort von „ Gottes
Gnaden", das dann so missdeutet wurde. Der Konig sagt: „Ich
regiere nicht, weil es mir gef&llt, das weiss Gott; sondern weil es
Gottes Ffigung ist, darum will ich auch regieren."
Friedrich Wilhelm IV. war ein aufrichtig religidser Mann, und
als solcher bekannte er, nur durch Gottes Gnade da zu sein und zu
sein, was er war. Das ist ja bescheiden und schdn, und das ist
der ganze Sinn des Wortes „von Gottes Gnaden", der dann ge-
X44
Hut abl
f&lscht wurde in Absolutismus und ausartete zu ,,t)bermensch"
und ,, Grdssenwahn".
Dei gratia, yon Gottes Gnaden, war urspriinglich ein Titel,
den die Bischdfe nach der Kir chen versammlung von Ephesus,
431, anlegten. Das war durchaus kein Titulus majestatis, sondem
im Gegenteil eine Epitheton humilitatis und war aus Paulus*
erstem Korintherbrief genommen. „Ich von Gottes Gnaden" , sagt
der demiitige Paulus, „der grtisste unter den Stindem". „Aber von
Gottes Gnaden bin ich, was ich bin.“
Dieser Titel der Demut wurde dann allgemein, auch unter
Mdnchen; kein kluger Mensch kann also etwas Majest&tisches
oder Absolutisches daraus herleiten. Zuerst wurde das Epitheton
vom Frankenk&nig Pipin angenommen, und dann von den
anderen.
Als der sp&tere Kaiser Wilhelm I. sich als Kdnig von Preussen
krfinen liess, 1861, nahm er die Krone vom Altar, w&hrend er als
religidser Mensch „in Demut anerkannte, dass er sie von Gott
empfangen habe." Das ist noch die christliche Demut, welche die
VerpfUchtung zum Geber aller guten Gaben anerkennt.
Als Wilhelm II., der jetzt regierende Kaiser, den Konigseid im
preussischen Landtag ablegte, erklarte er, mit dem Worte Fried-
ri chs des Grossen, der Fiirst solle „der erste Diener des Staates
sein.“
Seine erste Regierungshandlung war die Aufhebung des
Sozialistengesetzes ; und er rief eine Konferenz fttr Arbeiter-
gesetzgebung zusammen, die er selber erdffnete, Bismarcks
Widerstand trotzend. Damit begann Bismarcks Fall, und der
junge Kaiser erhielt den Namen „Arbeiterkaiser".
Als Kdnig von Preussen hat Kaiser Wilhelm II. die (revidierte)
Constitution von 1850 beschworen. Er ist also an die Verfassung
gebunden, und der Landtag macht mit ihm Gesetze, aber er
„promulgiert die Gesetze." Er bedarf fflr alle Regierungsakte die
Ge genzei chnung der Minister, die damit die Verantwortung flber-
nehmen. Aber der 6x. Artikel der preussischen Verfassungs-
nrkunde liber die Verantwortlichkeit der Minister „ist nicht er-
folgt." Was bedeutet „erfolgt"?
Hut ab!
— Tja 1 Da beginnen die Missdeutungen. „Erfolgen“ kommt
▼on folgen. Also wird das Gesetz nicht befolgt.
— Dann ist aber die Verfassung verletzt und der Konigseid
gebrochen ?
— Darauf wage ich nicht zu antworten, denn dann kommt der
Staatsanwalt, der einen Unschuldigen zu Fall bringen k&nn.
— Aber wie kann man zuerst und zuletzt „von Gottes.
Gnaden‘ ‘ als Absolutismus auslegen?
— Prinzenlehrer und Junker sind es wohl, die jungen rtr-
st&ndigen und wohlwollenden Fursten solche Dummheiten ein-
reden.
— Napoleon III., der Sozialistenkaiser, der mit sieben
Millionen allgemeinen Stimmen (Plebiscit) gewihlt wurde,.
nannte sich ,,von Gottes Gnaden und des Volkes WiUen.“
— Das war ein verstdndiger Kaiser.
— Am verst&ndigsten als armer Festungsgefangener, als er
fiber die „Abschaffung der Armut“ schrieb.
— Aber der Konig von Pretissen ist ja auch Deutscher Kaiser
und sitzt dem Bundesrat vor, in dem er siebzehn Stimmen hat..
Steht er in dem einen Augenblick fiber sich selber und im n&chsten
Augenblick unter sich selber ?
— Das muss er wohl! Heisst Dualismus oder die beiden.
Naturen in der Theologie.
— Es ist jedenfalls etwas Seltsames mit monarchischen
Konstitutionen !
P-
— Es gibt ja eine einfachere und bessere, zeitgemassere,
praktischere und billigere, wo konstitutionelle Garantien wirklich
gegen Gesetzesverletzung und Eidbruch schfitzen.
— Und die ist?
— Das ist der Volksstaat!
146 Deutsche Kunstausstellungen im Auslande
Wie die „deutschen“
Kunstausstellungen im Auslande
gemacht werden
Von EMIL WALDMANN
Wer seit einem Jahrzehnt die Ausstellungen deutscher Kunst,
die alle paar Jahre einmal irgendwo im Auslande veranstaltet
werden, mit seinem Interesse verfolgt, der hat allmahlich
aufgehdrt sich zu wtmdern. Mit solcher Regelmdssigkeit und
in so stereotyper Form findet man immer dieselben Sch&den,
dass man sich seufzend ins sogenannte Unvermeidliche fiigt
und denkt : Es musste nun einmal so sein. Dieses Sich-Nicht-
Mehr-Wundern ist das Schlimmste an der Sache. Die wesentliche
Kritik, die man an diesen Ausstellungen zu iiben hat, geht dahin,
dass sie keine Vorstellung davon erwecken, was es an guter
und bester Kunst in Deutschland heute gibt.
Ein paar Beispiele zum Gedachtnis. Auf der Pariser Welt-
ausstellung 1900 musste man der Meinung werden, der damals
noch lebende Lenbach sei der grosste deutsche Maler seiner Zeit.
Das Zahlenverhfiltnis zwischen seinen Bildern und denen anderer
Maler sowie die Art, wie gehingt wurde, zwangen wie mit
Hammerschlagen auf den Kopf zu diesem Urteil. (Die Aus-
stellung hatte Lenbach arrangiert.) — In St. Louis fehlte der
deutsche Kunstlerbund. — Bei der Hudson-Fulton-Ausstellung
in New York 1909 war es tatsfichlich so, dass man, wie
Valentiner schrieb, „durch jede offene Tiir ein Bild von Artur
Kampf sah ( Die Ausstellung hatte Artur Kampf mitorganisiert.)
In diesem Jahre ist die grosse Internationale in Rom. Das
offizielle und auch sonst mittelm&ssige Deutschland ist ▼ertreten.
Daneben, einigermassen ausreichend, dass man wenigstens einen
Begriff seiner Art bekommt, Max Liebermann. Fur das voll-
st&ndige Fehlen Klingers sollen wahrscheinlich die acht Werke
▼on Stuck entsch&digen. Triibners malerisches Wesen ist immer-
hin erkennbar. Aber schon bei Kalckreuth ist es vorbei . . .
Vor alien Dingen aber fehlt das, was Deutschland heute wirklich
interessiert. Ein einziges Bild, noch dazu ein uncharakteristisches,
▼on Slevogt gentigt nun einmal nicht fur einen Meister, der zu
den Tr&gern deutschen Ruhmes gehdrt ; und dass von Lows
147
Deutsche Kunstausstellungen im Auslande
Corinth nur das Stilleben aus der Sammlung Arnhold zu sehen
ist, nichts weiter, kein Akt, kein grosses Bild, bedeutet eine
empfindliche Liicke. Ferner vermisst man, um nur das Dringendste
zu nennen, die Namen Beckmann, von Brockhusen,von Konig,
▼on Kardorff, Rossler, Breyer. Selbst die Skulptur ist schlecht
▼ertreten. Haller fehlt und unerhorter Weise auch Barlach.
An der Aufreihung dieser Namen sieht man, nach welchem
Prinzip die Lticken ,,angeordnet“ sind. Vielleicht wendet man ein,
dass keine Absicht vorgelegen hat, dass von den betreffenden
Kilnstlern wirklich nichts zu haben gewesen sei. („Bedenken Sie
die kurze Zeit, die Schwierigkeiten aller Art!“) Dann ist die
Ausstellung eben schlecht organisiert. Von Corinth ist immer
ein grosses Bild zu haben, wenn nicht anders aus Privatbesitz,
den man ja auch sonst bemiiht hat. Und von Slevogt, der aller -
dings im Friihling in der Secession eine Sonderausstellung ver-
anstaltete, auch ; ein paar bedeutende . Bilder kann man von ihm
immer bekommen. Die Berliner und Hamburger Sammler sind in
solchem Falle nicht kleinlich, wenn es schon gar nicht anders zu
machen w&re. Und die Jungeren haben meines Wissens alle noch
nicht so ausverkauft, dass sie nicht etwas Gutes nach Rom hatten
schicken konnen.
Die Ausstellungsleitung scheint von vomherein mit der
Mangelhaftigkeit des Unternehmens gerechnet zu haben. Es ist
eine retrospektive Abteilung angegliedert, die von der Glanzzeit
deutscher Malerei, dem Miinchen Diezens und Leibls, dem
Schaffen Menzels und den besseren Tagen Diisseldorfs eine Vor-
stellung gibt, und auch von Maries und Feuerbach Proben bringt
(wogegen der Deutsch-Romer Bocklin wohl als bekannt voraus-
gesetzt wurde).
Vielleicht ist man der Meinung : dies alles sei doch sehr schon
und gut, und es sei gar nicht die Aufgabe einer solchen Ausstellung,
▼on dem gegenwartigen deutschen Kunstschaffen ein rundes
Bild zu geben. Dann hat, kurz gesagt, eine solche Ausstellung
im Rahmen einer Intemationalen keinen Zweck. Entweder zeige
man, was in Deutschland an guten Dingen gemalt und gebild-
hauert wird in ausreichender Zahl und Art nach charakteristischen
Proben. Wenn es nicht anders geht, so wie in der franzosischen
Abteilung, wo neben den grossen S&len des fiirchterlichen
offiziellen Frankreich keine retrospektive Impressionisten-Aus-
stellung zu sehen ist, dafiir aber ein kleiner Raum mit den
jiingsten Franzosen. Aber mit einer ktimmerlichen Parade
fruherer Grossen ist niemand gedient. Wer Menzel kennen
lernen will, geht ja doch nach Berlin (und ist, wenn er es in diesem
Jahre getan hat, emport dariiber, dass das „Th6£tre Gymnase“ und
148 Deutsche Kunstausstellungen im Auslande
das ,, Albrecht palais “ mittlerweile nicht zu sehen sind, weil sie in
Rom reprasentieren mussen). Wer Feuerbach, Leibl und Triibner
kennen lernen will, muss ja doch in die wenigen deutschen
Galerien gehen, wo diese Kunst gesammelt wird, und Liebermanns-
Werke muss man nicht in seiner. Vaterstadt Berlin, sondern in-
Hamburg studieren. Im ubrigen soil man deutsche Kunst in
Deutschland studieren. Dazu war die Jahrhundertausstellung in
der Nationalgalerie, die Leibl- und Mardes-Ausstellung in
der Secession da. Vor allem jedoch sind Bilder nicht zum
Studieren und zum Kennenlernen da, sondern zum Geniessen.
Aber man suche einmal den, der bei einem Aufenthalt in Rom .
imstande ist, in der Internationalen mit ihrer riesigen Aus-
dehnung und ihrer verwirrenden Ftille ein Werk von Leibl zu
geniessen.
Also : zum Genuss ungeeignet, zum Kennenlernen total
irrefiihrend. Ausserdem hat Hans Rosenhagen dem im ubrigen
nicht zureichenden Katalog zudieser retrospektiven Abteilung
ein Vorwort fiber „Die deutsche Malerei seiti86o“ vorausgeschickt,
das fur sein Teil an der Verwirrung der Begriffe kraftig mitwirkt.
„W£hrend Wien die Wiege des N azarenertums ist, bringt der
Norden die redlichsten Wahrhei tssucher . “ Wien ist nicht die
Wiege des Nazarenertums ; einfach falsch. Und der Norden hat
ausserdem die Hauptnazarener Overbeck, Cornelius, Veit und
W. Schadow hervorgebracht. „Der grosste Monumentalmaler,
den Deutschland im 19. Jahrhundert besessen, ist Alfred Rethel.“
Die Maries in der biologischen Station in Neapel? „ Wilhelm
von Diezens Verdienste als Lehrer an der Miinchener Akademie
sind fast ebenso gross wie die Pilots.*' Die Menge muss es br ingen.
,, Artur Kampf zahlt auf dem Gebiete der Monumenfalmalerei
zu den ersten Kiinstlern Deutschlands.** Rosenhagen
verwechselt die beschiftigsten mit den besten*) . Und so weiter.
Solche Schaden haben prinzipielle Bedeutung.
*) Diese Bemerkung Rosenhagens war wohl der erste Stretch.
Do- zweite war seine torichte Denunziation der Berliner Secession als
Majest&tsbeleidigungs-Institut im „Tag“. Rosenhagen war me ein bos-
hafter Mensch, nur ein leicht beeinflussbarer. Dass der Mittler Artur
Kampf hinter dem An griff steckte, weiss jedes Kind. Artur Kampf
aber inter essiert vielleicht den Minister ; wer sich um Kunst kfkmmert,
kttmmert sich nicht um Artur Kampf. Der Verdacht, der laut aus-
gesprochen wird, Rosenhagens Arbeit sei nicht nur von Artur Kampf,
sondern auch von dem Direktor der National- Galerie, Professor Justi,
gewQnscht worden, erscheint vollig unglaublich. Vielmehr fait es
wahrscheinlich, dass Rosenhagen dieses Geriicht selbst verbreitet, um
sich hinter dem RQcken Justis zu verstecken. D. Red.
Deutsche Kunstausstellungen im Ausl&nde 149
Neben der grossen internationalen Kunstschau im Park hinter
der Villa Giulia sind bei der Engelsburg noch ein paar Fremden-
ausstellungen zu sehen, die „mostra degli stranieri", ad maiorem
Romae gloriam. Roms Wirkung auf die Kunst im Anfang des 19.
Jahrhunderts. Deutschland zeigt zwei Kapitel. I. „ Goethe inRom“.
Es ist ganz schlecht, denn Weimar hat verstandigerweise seine
Sch&tze nicht hergegeben. II. ,,Die deutsch-rdmische Lands ch aft.* 4
Dieses Kapitel ist auch nicht viel besser. Die Hauptdokumente, die
Temperabilder aus dem Palazzo Massimi von Reinhardt (seit
3 Jahren in der Berliner Nationalgalerie) fehlen ebenso wie Werke
des interessanten Reinhold. Die deutschen Galerien haben mit ganz
wenigen Ausnahmen nichts hergeliehen ; das dem Stuttgarter
Museum gehorende Bild von Reinhardt „ Wanderers Sturmlied*'
hat auf dem Transport ein Loch bekommen, und nur die Sendungen
der Nationalgalerie in Berlin haben der Ausstellung einigen
spArlichen Glanz geliehen.
Wenn die Dinge schon so lie gen, dass die dffentlichen Galerien
nichts ausleihen (was hoffentlich bald durchgehends ttblich wird)
— warum mussen dann solcbe historischen Ausstellungen ge-
macht werden, auf denen der Fachmann gar nichts imd der Laie
etwas Falsches lemt? Die einzigen Bilder, die wichtig sind, die
von dem Tiroler J. A. Koch, aus romischem Privatbesitz, hangen
aus Nationalit&tsgr Unden in der dsterreichischen Abteilung,
wohin sie kunsthistoriscb nicht gehdren.
Italien hat den begreiflichen Wunsch mit einer Ausstellung
Geld zu verdienen. Aber damit das geschieht, verbreitet Deutsch-
land eine falsche Meinung von seiner Kunst. Die Notwendig-
keit dieses Vorgehens ist nicht ganz einleuchtend, und zum
Schluss notiert man sich als Trost das reizende, kUrzlich von
Mackowsky wieder ausgegrabene Wort der Rahel: „Mir ist
mies vor tout l’unirers".
150 Die Geislia
Die Geisha
JR! 3Edl3^^ 3L# 3^#I^p ^J 1 ^
Spezialisten In Teehftnaern und T&nzerinnen.
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1m allgemeinen geniesst die Geisha keine sonderliche Achtung,
wenn sie auch auf einer hoheren Stufe steht als die Dime.
Sie steckt den Fuss in den Schmutz, sagt man von einem M&dchen,
das ins Teehaus geht. Und wenn sie es verl&sst, so sagt man:
sie zieht den Fuss aus dem Schmutz heraus. Heiratet sie jedoch ,
so ist ihre Vergangenheit ausgeldscht, und sie geniesst, ebenso
die Dime, die gesellschaftliche Stellung des Gatten.
Es ist fttr eine Familie eine grosse Schande, wenn die Tochter
sich dem flatterhaften Leben einer Tdnzerin zuwendet, und fur
gewohnlich gehen die Geishas aus armen imd niedrigen Familien
hervor, die sich von ihnen unterstiitzen und erhalten lassen
wollen. Es geschieht auch zuweilen, dass sich die Tochter fur
die ins Elend geratene Familie opfert und sich an ein Teehaus
als Tanzerin oder Dime verkauft.
In der Regel tritt das Madchen schon mit sechs Jahren in die
Lehre. Sie muss feine Sitten und Bewegungen erlemen , das
ganze Lexikon des japanischen Anstandes, Gehen, Sitzen, Geben,
Nehmen, Grussen, Kleiden, sie muss das Arrangement der
Blumen, die komplizierte Teebereitung uben. Sie lernt das
Schlagen der Trommel, der Taiko. Mit acht Jahren beginnt der
Unterricht im Spielen der Samisen und im Tanz. Sie erlernt jene
hundert Bewegungen der H&nde, der Arme, Stellungen des
Kbrpers und des Kopfes, das Spiel des F&chers, die Elemente,
die in jedem Tanz wiederkehren. Sie lernt die Teacte und den
Gesang. Die Stimme der japanerin ist lieblich und zart, aber die
japanischen Anschauungen verlangen die Stimme der Sangerin
hart, ehern und rauh. Das wird auf dem einfachsten Wege er-
reicht. Im kftltesten Monat, kan, muss die kleine Geisha im
Walser: Zeichnung
friihesten Morgengrauen bei offener Tiir in den Frost und Nebel
hinaussingen , bis die Sonne aufgeht. Dadurch verliert sie voll-
kommen die Stimme. Sie wird heiser, sie spricht nicht mehr,
■sie kreischt, sie singt nicht mehr, sie miaut und schreit, und somit
1st sie fiir den japanischen Gesang geeignet.
Sie lernt die Tsutsumi spielen, eine Handtrommel, einer
grossen Sanduhr ahnlich, die mit den Knocheln geschlagen wird.
Sie muss imstande sein, drei solcher Trommeln gleichzeitig zu
halten und zu schlagen.
1 st sie besonders begabt, so wird sie sich im Spiel der Kokyu
if ben, einer Art Geige, die rait einem B<%en aus Rosshaaren ge>
strichen wird, und zuletzt wird sie das schwierigste Ins t ru m e n t
▼ersuchen, Koto, ein Saiteninstrument, eine Art Sarg mit dreizehn
Seiten, die gezupft und geschlagen werden. Das Koto wird sonst
nur Ton den Tochtern Vornehmer gespielt.
1 st das M&dchen ungeschickt, so wird der Teehausbesitzer
es den Eltem zuriickschicken, verspricbt es Erfolg, so wird er die
Ausbildung vollenden. Die junge Geisha wird dann einige Jahre
in seinem Teehaus umsonst tanzen, spater wird er den Eltem
fiir drei Jahre zoo Yen bezahlen oder 300, und wenn die Geisha
eine besondere Anziehungskraft ausiibt, auch mehr. Oder ein
anderes Teehaus wird sie zu gewinnen suchen , eine andere Stadt.
Die Geisha selbst bleibt arm. Ihre Eltem schlurfen Tee, rauchen ,
f&cheln sich , betrachten die KirschbUite und den Mond, sie arbeitet
und gibt ihnen jeden Pfennig, den sie an Geschenken erh<.
Die junge Geisha wird einen verlockenden und besonders
schon klingenden Namen erhalten. Der Teehausbesitzer wird sie
die Erste, die Reichste nennen, oder er wird sie heissen Umeka,
der Wohlgeruch der Pflaume, Haruka, der Du ft des Friihlings,
Koteru, der kleine Glanz, Yoneryo, der Reisdrachen, Susuju,
die tapfere Glocke, Odafuku, die Hdssliche, Harusuke, die Friih-
lingshilfe, Hanarato, die Blume der Heimat, Shimekichi, die
Gliickstochter, Senmatsu, tausend Fichten, Chiyo, tausend
Generationen, Emika, der lachende Gluckwunsch, Umeha, das
Pflaumenblatt, Umezuru, der Pflaumenkern, oder er wird sie
„weisser Schnee" oder ,,kleiner Schmetterling* 1 oder „Schild-
krotenfichte" heissen.
I
„Weisser Schnee" oder „ Schildkrfitenf ichte" wird *l«H***n
an die Gasthauser und reichen Leute der Stadt einen Einfiihrungs-
brief senden, mit ausserster Sorgfalt auf feines Papier geschrieben :
„Weisser Schnee" ist TSnzerin im Teehaus Morgensonne und
empfiehlt sich der Gunst des erhabenen Herm. Sie wird vielleicht
auch Geschenke mitschicken, Reis oder Handtiicher, auf die ihr
Name geschrieben ist. Weisser Schnee oder Scbildkrdtenftchte
wird peisdnlich Besuche in den Gasthdusern und H&usern der
Reichen machen, begleitet vom Teehausbesitzer, einem Diener,
Die Geisha
*53
der den Sonnenschirm liber sie halt, und einer Magd, die einen
kleinen Korb nut den Visitenkarten der neuen TSnzerin trdgt.
So wird sie dahintrippeln durch die schmalen Gassen der Stadt,
▼erfolgt von de i l&chelnden Blicken der Leute, geschmiickt wie
eine Prinzessin, die Augen geradeaus gerichtet, und Wohlgeriiche
▼on Parfiim, Pudet und Lack werden von ihr auastromen. Der
T eehausbesitzer wird sich vor dem Wirt desGasthofes verbeugen
und sprecfaen: O erhabener Herr, ich nehme xmr die Kufcnheit,
Schildkrdtenfichte vorzustellen, eine ganz ausgezeichaete
T&nzerin, die ich Ihrer hohen Gainst zu empiehlen midi erdreiste.
Der Wirt wird schliirfen und sich rftuspern und die Herrschaftea
hereinbitten. Der Teehausbesitzer vkd schliirfen, die Worte
warden ihm im Hake stecken hleiben. Schildkrotenfichte ward aus
■ i
den Getaa schliipfen , die Stolen empor steigen , niederknien und
*54
Die Geisha
sich verbeugen, dass die Stim den Boden beriihrt und man ihren
prfichtigen Haarschmuck und iSiren kostbaren Giirtel sieht.
In den nfichsten Tagen wird eine Einladung stattfinden, und
Schildkrotenfichte wird zeigen, was sie kann. Sie wird nie
aufmerksamer tanzen als in dieser Stunde.
Weisser Schnee und Schildkrotenfichte werden dann mit
Pflaumenblatt und Pflaumenkem im Teehaus Morgensonne leben,
und Pflaumenblatt und Pflaumenkem werden, wenn sie filter sind,
ihre Tfinze mit der Sami sen begleiten und sie bevormunden. Der
dumpfe Klang der Trommel, das Klimpern der Samisen, der Du ft
T
▼on Sake, inmitten von Lfirm und Lustbarkeit werden sie dahin-
leben.
Gott weiss, was sie in den vielen, vielen Tagen und Nftchten
tun, da keine Gfiste kommen und das Teehaus verddet ist.
Meisterinnen im Wachen und Stillschweigen, werden sie wohl
Meisterinnen im Schlafen und Schwfitzen sein. Sie werden
an jedem Tag etwas zur t)bung tanzen, singen und spielen, sie
werden stundenlang in den oden, leeren R&umen kauern und sich
die Fingerspitzen fiber den glimmenden Kohlen wfirmen und die
kleine Pfeife rauchen. Sie werden halbe Tage brauchen, um die
Frisuren zu bauen, und wenn sie schlafen, werden sie sich einen
k
schmalen Block ins Genick legen, um diese Frisuren nicht zu
▼erderben.
Sie werden Geld einheimsen und es den Eltern bringen, sie
werden den Sohn des Seidenhfindlers ausplfindem und den Be*
sitzer des Badehauses ▼ollkommen ruinieren, sie werden Geld
dem armen Seemann herauslocken, der sich einen schdnen Abend
gonnen will. Sie werden gehorsam sein und wenn der Gast sagt:
yoroshii, schon, es ist gut, so werden sie gehen, und wenn er sie
ruft, werden sie kommen.
Die Jahre sind gegangen, und was ist aus ihnen geworden ?
Pflaumenkem hat den Fuss aus dem Schmutz gezogen und einen
Schirmfabrikanten geheiratet, Pflaumenblatt dagegen widerfuhr
ein selteneres Gluck, ein Glfick, das nur zweimal in einem Jahr-
hundert vorkommt: ein reicher Schiffsherr hat sie zu seiner Ge-
liebten erkoren, er hat ffinfhundert Yen an die Familie gezahlt
und ihr ein unbeschrfinktes Konto eroffnet. Dadurch erkaufte
Die Geisha 155
1 M d 1 Pi
er ihre Treue, und sie liess sich zum Zeichen, dass sie einem
einzigen Manne gehore, die Z&hne schwarz beizen. Weisser
Schnee hat ein lustiges Leben gefiihrt, einige Liebeleien hat sie
gehabt, eine ernste Leidenschaft mit einem schonen Schauspieler,
I-
dann starb sie pldtzlich im Alter von 23 Jahren. Die ganze Tee-
hausstrasse geleitete sie zu Grabe; an diesem Tage war Morgen-
sonne geschlossen, am nftchsten Abend aber drdhnte die Trommel,
die Samisen schrillte, und die Freundinnen wiegten sich wie das
Schilf und sangen: sassa 70 yassa, und klatschten in die kleinen
HSnde.
*
Schildkrdtenfichte aber hatte weder grosses Gluck noch grosses
Ungliick. Sie hatte verschiedene Liebhaber, sie tanzte tausendmal
den Urashima mai und tausendmal den Shaberi Yama-Uba mai.
Nachdem sie zum Tanz zu alt wurde, spielte sie die Samisen vOn
ftinfundzwanzig bis dreissig, dann zog sie sich zuruck und wurde
Agentin fiir Teehliuser und Lehrerin. Sie starb im Alter von 73 Jah-
ren, und die Teehausstrasse trug sie zu Grabe. Ihre Schiilerinnen
betrauerten sie, und aa jedem Todestage der Lehrerin tanzten sie
ihr zu Ehren offentlidh im Theater, ein kleines Holzt&felchen mit
Schildkrotenfichtes Namen darauf stand auf der Biihne.
#
k
Aus der Schrift fiber japanische Tfinze Sassa yo'Yassa' 4 , die Kellertnann
nut Zeic hn ungen von Walser im Verlag von Paul Cassirer berausgibb
1 t
Corriger la fortune I
Corriger la fortune!
i
•d
Aus der Feinfuhligkeit der Borse fur Verinderungen im
Wirtschaftsleben etwa zu folgern, dass sich In den Schwankungen
ihrer Tendenz ein entsprechender Wechsel der Geschhftslage in
der Industrie widerspiegelt, wire ein naives Beginnen, auch
wenn man die nicht selten iiberschatzten Einfliisse politischer
Verging* auf ihre Haltung aosreichend beriicksichtigt. Auto-
matisch vollzieht sich die Kursbewegung nun einmal nicht,
geraume Zeit hindurch kann sie schon etwas wiUkiirlich gemeistert
werden , die Regie ist gar nicht schwer. Ohne erhebliche An-
strengungen sind die Banken imstande, der Bbrse das Geprige
der ((Festigkeit** zu geben, wenn, wie gegenwirtig, nach panik-
artigen R&ckgingen die Spekulation eingeschrinkt ist und keine
drohende Furcht vor folgenschweren Ereignissen besteht. Immer
linden sich Schichten des Publikums, die aus jeder Kurs-
besserung die Hoffnung ziehen, eben erlittene Verluste wieder
einholen zu kftnnen, und sich durch jede gttnstige oder nur
g&nstig scheinende Nachricht aus der Industrie bestimxnen
lessen, ihr Gluck von neuem zu versuchen. Diesen Bediirfnissen
kommtdie Be richterstattung aus der Industrie
sehr zugute. Fast j eder Tag bringt neue Rekordzif fern der Eisen-
produktion, die Roheisenerzeugung steigt, die Produktion von
Stabeisen, Blechen , Draht und Rihren nimmt kolossale Dimen-
sionen an, sie ist sogar erheblich grosser als die Beteiligung der
g ro a sen Untemehmungen am Stahlwericsverband, obwohl Ihr
jede Ueberschreitung der vereinbarten Quoten Strafabgaben zu
entrichten sind. Mit diesen Rekordziffern wird ein bedenklicher
Kult getrieben, sie gelten unkritischen Lesern nachgerade als
untrugliches Zeichen einer vorwartsstiirmenden Konjunktur.
Aus der gegenw&rtigen Beschkftigung der Eisenindustrie ergibt
sich ffirs erste wenig fur die wirtschaftlichen Aussichten selbst
der allemftchsten Monate, dann aber miissen die Rekordziffern
schon deshalb vorsichtig aufgenommen werden, weil bei den
fiihrenden Werken das Verfangen nach erhohten Beteiligungs-
mengen angesichts der Erneuerungsverhandlungen des Stahl-
werksverbandes zu einer krampfhaften Erweiterung der Pro-
duktion geftihrt hat. In einem fortwdhrend steigenden Masse
sieht sich die deutsche Eisenindustrie auf den Exportabsatz an-
gewiesen, der heiss umstritten wird, da auch die Eisenproduktion
der anderen Linder in stetiger Ausdehnung begriffen ist.
Amerika hat sich als Heifer in der Not eingestellt, es
lieh nach Deutschland Gelder aus, die nicht unwesentlich zur
Er leichterung des Geld mark tes beitragen. Stolz
i
Corriger la fortune I 157
wird die so beeinflusste Gestaltung der Geldverhaltnisse als die
Bestatigung ruhiger Entwicklung ausgegeben. Abgesehen da von,
dass das Aussehen des Geldmarktes bis Ende des Jahresnoch
leicht eine Verschlechterung erfahren kann, wird von den Volks-
wirten der Borsenpresse und ihren Lesern ganz zu unrecht
angenommen, die Vermeidung einer Geldteuerung sei identisch
mit der Verhiitung eines industriellen Niederganges. Niemals
haben die bedeutenden Industriewerke ihre Produktion ver-
ringem miissen, weil sie kein Geld Oder Geld nur zu teuren
Preisen erlatlgen konnten, sondern alfein unter dem Druck
einer schon erfolgten Uberproduktion schritten sie dazu. Dass
iibrigens Amerika Geld ausleihen kann, w&hrend es in der Hoch-
konjunktur von 1907 die Gelder der ganzen Welt an sich zog,
ist ein deutliches Symptom ftir die Stodkung der grossen Industrie
in der Union, die nach der landlaufigen Auffassung der Bbrsen-
presse iiber Zusammenhange von Geldteuerung und Krise bei
dem dort herrschenden Geldiiberfluss l&ngt einen rapiden Auf-
stieg h&tte erfahren miissen. Sehr intensiv hat sich bisher
bereits die Konkurrenz des amer&anischen Stahltrusts auf dem
Weltmarkt bemerkbar gemacht, sie wurde sich bald weiter ver-
schSrfen, wenn die verschiedentiich behauptete Besserung der
internationalen Eisenpreise andauem sollte. Die Zahlen iiber
die amerikanische Eisenausfuhr sprechen eine beredte Sprache.
Von der kartellierten Industrie will man die Borse als
Wirtschaftsbarometer meist nur gelten lassen, worm
gutes Wetter angezeigt wird. Ffillt die Quecksilbers&ule dimes
Wirtschaftsbarometers, dann soil man nach den Kartells timmen
darin nur die Mache einer ziigellosen Spekulation erblicken.
Gegenwdrtig sind die Kartellisten mit der Haltung der Borse
ganz einverstanden, da sie das naheliegende Interesse haben,
ebensosehr ihre Aktien wie ihre Fabrikate zu hohen Preisen
an den Mann zu bringen. Auf den Hausseton sind alle Er-
kl&rUngen der Verwaltungen unserer fUhrenden Montanwerke
gestimmt, die Syndikatsberichte vollends schilder n die Situation
in den leuchtendsten Farben. Quellen objektiver Wirtschafts-
berichterstattung sind Syndikatsberichte ganz gewiss nicht; aus
den Erfahrungen, die man mit ihnen vor und wdhrend der letzten
Krisis gemacht hat, ergibt sich nicht nur das Kecht, sondern die
Pflicht, sie mit dem sch&rfsten Misstrauen aufzunehmen. Wihrend
der Riickgang 1907 schon lfingst eingesetzt hatte, verdffentlichten
die Syndikate fortgesetzt Marktberichte, die die VerhSltnisse als
unverSudert giinstig bezeichneten und die ferneren Aussichten
ebenso optimistisch beurteilten. Ruhige und vorsichtige Unter-
suchungen fiihrten zu der Ueberzeugung, dass dieseBerichte
158 Corriger la fortune !
bewusst unwahr gewesen sind , denn die rosigen Schilderungen
waren unvereinbar mit der Abnahme der Bestellungen, die ausser-
halb der Syndikatsbureaus naturlich erst nach Monaten zahlen-
massig zu erkennen waren. Mit derartigen Machenschaften
wurde bezweckt, die Abnehmer zuweiteren Bestellungen anzu-
reizen die auf Bedarf der Hochkonjunktur zugeschnitten waren.
Das Geddchtnis der Oeffentlichkeit ist schlecht, sie mfisste
sich sonst besser an jene viel beklagten Vorgfinge erinnern.
Besonders arg trieben es die Eisenkartelle, doch auch die
,,Unebenheiten“ des Rheinisch-Westfalischen Kohlensyndikats
in der Berichterstattung fiber die Marktlage verdienen der
Vergessenheit entrissen zu werden. Im Juli 1907 veroffent*
lichte das Kohlensyndikat (wie inuner durch Wolffs Telegraphen-
bureau) seinen Ausweis fur den vorangegangenen Monat. In
dem Bericht wurde ausgeffihrt, dass durch den gesteigerten
Selbstverbrauch der Mitglieder und durch die Erffillung be-
stehender Verkaufsverpf lichtungen die Kohlenknappheit andauere.
Zum Schluss war hervorgehoben, die gfinstige Geschaftslage
fast alter einheimischen Industriezweige lasse auch im kommenden
Monat einen lebhaften Absatz erwarten. Nun konnte ein Handels-
blatt damals den Juniausweis des Syndikats in ungekfirzter
Form veroffentlichen, die von dem offiziellen Text auff&llig
abwich. In diesem Sonderbericht fand sich die folgende, bei Wolff
vergessene Erklarung der Syndikatsleitung: „ Die Nach -
frage in der letzten Zeit verlor ihren stfirmischen Charakter, und
anscheinend hat namentlich auch von seiten der Eisenindustrie
eine etwas ruhigere Beurteilung der Bedarfslage Platz gegriffen.“
Drei Monate spater war die Krisis in voller Entfaltung. Ihre
deutlichen Anzeichen abzuleugnen, hatte das Syndikat fur eine
Aufgabe seiner Wirtschaftsberichterstattung gehalten.
Bei der marktbeherrschenden Stellung der grossen Syndikate
wird die Irreffihrung fiber die Marktlage durch Verschweigen
wich tiger Tatsachen Oder durch Veroffentlichung unwahrer
Angaben zu einer Gemeingefahr. Das mittelalterliche Recht
kannte gegen ahnliche Gepflogenheiten keine Toleranz, am
Ende des 14. Jahrhunderts bestimmte das Berliner Stadtbuch,
dass man Verrater und Mordbrenner oder alle, die ihre Bot-
schaft zu ihrem Frommen benutzen, radebrechen solle. Zum
Schutz des Gemeinwesens liesse sich eine Uebernahme jener
Bestimmung des alten Berliner Stadtbuches in unser Straf-
gesetzbuch schon rechtfertigen. Radebrechen ist eine etwas harte
Strafe, sie konnte aber schliesslich durch Zwangssanatorien oder
Geldstrafen von zoo 000 Mark und darfiber hinaus humanisiert
werden. KRITES
i
Das Berliner Vieh ' 159
DAS BERLINER VIEH
Em neues Ratfaaus in Berlin. Die grosse Halle soil das Wappentier
Berlins schmficken, der Bdr. Der Stadtbaumeister, Herr Hoffmann,
sucht den Bildhauer, der wfirdig wire, den Berlinem ihr Tier
zu s chaff en. WSre es enger Lokalpatriotismus, wenn er zundchst unter
den Berliner Kunstlem sich umt&te ? Find er einen, der es so gut macht
wie ein ,,ausw&rtiger“, warum denn nicht lieber der , ,einheimische‘ 1 ?
Kirchenpolitik wire es, gibe es im Reiche ein Genie, in Berlin nur unfihige
Lehmkneter. Baurat Hoffmann findet den Einheimischen nicht — Herr
Wrba erhalt die ffinfzigtausend Mark.
August Gaul lebt in Berlin. Der Stadtbaumeister ist zu beschiftigt;
er muss so viele italienische Photographien beschauen, er hat keine Zeit,
die lebendige Kunst rings um sich herum zu sehen; er kennt die Kunst
Gauls nicht, weiss nicht einmal, dass Wrba kein Bildhauer, sondem der
Inhaber einer plastischen Fabrik ist, eines Grossbetriebes mit vielen Ar-
beitem, dass a us seinem ,, Atelier “ seit Jahren nichts herausgekommen
ist als verst einerter Lebkuchen.
Der geduldige Berliner, der sich seiner Pflicht als Bfirger der Reichs-
hauptstadt bewusst ist, der weiss, dass Krotoschin den Krotoschinern
und Gundelfink den Gundelfinkem gehort, seine Stadt aber den Deutschen,
— schweigt. Er findet es wohl nicht recht, was da der Herr Stadtbaurat
treibt, aber er sagt nichts: nur nicht kleinstadtisch sein, nicht dem engen
Lokalpatriotismus verf alien.
Jahrelang geht es so weiter. Die Kiinstler murren. Die Redaktionen
i Alien sich mit Klagen. Die Antwort: ,,Wir sind keine Berliner, wir sind
Reichshauptstidter/ ' — Das neue Rathaus wird erSff net. Erstaunt sieht
der Besucher die Wfinde beklebt mit Dingen, die aussehen wie in Plastik
fibersetzte Speisekarten des Lowenbr&u. Darauf erfolgt ein allgemeines
Schfitteln des Kopfes. Wirklich ; sind Tuaillon, Gaul, Klimsch, Lederer,
Barlach und andere schlechter als Taschner, Rauch, Nager? Was
geht uns Berlin Oder Mfinchen an? was uns angeht, ist die Frage:
warum beschllftigt man nur unselbst&ndige, unbedeutende Kiinstler ,
Kfinstler, die einen Stiefel (,, Stil' * sagt der Stadtbaurat) schustem, und
nicht einmal i h r e n Stiefel — nein, nach Herm Hoffmanns Leisten
musste geschustert werden.
Vielleicht wfire es bei dem Schfitteln des Kopfes geblieben, und das
n&rrische Gerede „Wieviel mehr Kfinstlertum zu der str engen Unter-
ordnung unter Raum imd Stil notwendig ist“ h&tte weiter gesurrt.
Aber der Bari
Vor ihm senkte Hoffmann selbst besch&mt das mfide Bureaukraten-
hauptund — es ging nicht anders — er musste es zugeben: Donnerwetter !
Endlich fand Fritz Stahl ein paar Worte des Tadels, endlich, gegen
den trockenen B&rokraten, der nicht besser und nicht schlechter als sein
Vorginger Blankenstein die Bauten der Stadt Berlin besorgt. Aus
Mfinchen erhielt er die nicht liebliche Antwort: Clique Cassirer, die Fall-
stricke des , ,schlauen Hindlers' 4 . Stahl wundert sich fiber die grobe
Antwort ; er hatte nicht bedacht, dass er mit seinem Tadel das Mfinchner
Geschftft bedroht, und dass heute im Mfinchner Jouraalismus sich
i
S. Fischers 35 Jahre
160
Schreiber breit machen, die ihre Aufgabe darin erblicken, die ritter lichen
BeschQtzer der Mfinchner Fremdenindustrie zu sein. Stahl lisst sich nicht
einschhchtern. Er wagt es, wagt zu antworten. Na warte, jetzt konunt der
grosse B ruder zu Hilfe, der treuherzige, schlichte, biedere Tanti£men-
iresser Ludwig Thoma.
Er hatte gerade Zeit; eben war seine letzte Dichtung vollendet :
„Lottchens Geburtstag 44 . Das schone alte Rezept: der zerstreute Gelehrte,
der schhchteme Liebhaber, das resolute M&dchen — aber ach — wie
modem, beinahe unanst&ndig, und doch: man kann hingehenl — die
sexuelle Aufkl&rung.
Spassmacher erh< seinen Lohn. Aber der Dienst des Herm Publictas
ist schwer. Immer nach der Fldte tanzen, Mttndchen spitzen, Acht geben,
gef&llts — ja ? Nicht zu imanstflndig — nein ? Gemutlich — ja ? FUegende
Blotter gehen wieder — so ? Na, dann nicht, keine Simplizissimuswitze.
Armer Thoma 1 Ich verstehe gut, wieviel Vergnugen Sie empfanden,
mal das Maul wieder ▼oil zu nehmen und zu schimpfen, grolen, schrcien.
Ach, das macht SpassI Von Gauls Werken als von „nach agyptischen und
indischen Mustern (!!) geschickt zusammengebastelten Werken 14 an
sprechen I Und dann macht es auch den Mhnchnern Spass, macht populir.
Das allein ist das Ernste an der Clownepisode. Hoffmann warden
die Berliner Khnstler wohl jetzt den Kitsch der Taschner, Wrba und
Konsorten abgewShnen. Das wird erledigt. Die Rhpeleien des beh&bigen
Herm, der sich zum Bade- und Vergnhgungskommissar der Mfinchner
Fremdensaison w&hlen lassen sollte, sind nur possierlich. Erast ist bloss,
dass er versucht, MQnchen gegen Berlin zu hetzen, und dass ihm das
▼ielleicht gelingen wird. Es handelt sich aber nicht urn M&nchen und
Berlin. Es handelt sich um einen Streit zwischen Lebkuchenfabrikation
und BildhauereL Beide Branchen haben ihre Vertreter in den zwei
Stfidten.
Noch ein Wort zur Rechtfertigung Hoffmanns:
Tuaillon, Gaul, Lederer, alle drei sollen seine Auftrgge Hanfc»cui ab-
gelehnt haben, bis er verspricht, das schone Wort „Archttektutplastik 4 4
niemals mehr zu gebrauchen. t ,# ** ___ ^ C.
S. FISCHERS 25 JAHRE
Da nun schoa einige Zeit ▼ergangen ist, seit freundlichst emgdadene
Gdste einem ffinfundzwanzigjdhrige Arbeit mit Recht Fe iemd e n zwischen
Homard a l’americaine und Schmorbraten statt Gliickwiinschen innerlich
unsichere Betrachtungen fiber den Wert seiner Lebensleistung mitgeteilt
ha b en , darf man, weder durch selbstverst&ndlichen Anstand gegen fiber
Gastf reundhch keit noch durch Hoffnungen auf Verlagsfdrderung ge-
hemmt, einige Sfttze fiber die Bedeutung des Herm Fischer, seiner Mit-
arbeiter und seiner Gruppe sagen.
Er selbst ? Wenn je, war’s hier eine nxflssige Frage nutzlos nachdenUtch
werdender Bankettgitete, ob er seinen Autoren, sie ihm mehr zu
haben. Eines ist gewiss: der Mann, dem das und jenes an Kultttr
fehlen mag, was jene haben, ffir die er schon Torgearbeitet hut,
hat ffir unsere Entwiddung mehr zu bedeuten als alle die Werke non
i6i
S. Fischers 25 Jahre
etna h undertun da chtzig unter den zweihundert Autoren, ffir die daa
dicke J ubil&umsbuch nun wieder mit Fischers Kraft Wege, Resonanz
sucht. Der Mann hatte Mut, Fleiss, die Begabung das Wesentliche in
der Produktion zweier Jahrzehnte mit seiner Aktivit&t zu befruchten.
Er hatte, was die einhundertachtzig nicht haben, Freude am Schaffen
der A n d e r e n , Hingebung ffir die Werke, die jene aus ihrem Bedfirfnis,
ihren Naturen folgend taten. Und gerade d i e s e Eigenschaft ist in unserer
Zeit so selten, dass sie tausendmal mehr wiegt als sdiw&chliche Talente
und die miihsame Bastelei der „kultivierten Personlichkeiten* ' . Das
Werk des Verlages S. Fischer, das man bei Gelegenheit dieses Buches*),
nach rechts und links, oben und unten gut fiberschauen kann, ist in dem
Verstande das Werk dieses einen Mannes, als er die Beziehung genialer,
talentierter, auch mittelmassiger und erzwungener Literatur zum wirk-
lichen Leben herstellte.
Anders fillt die Antwort auf die Frage aus, was die Tfitigkett dieses
Verlages, dieser Gruppe fur u n s e r e Zeit bedeutet Die Bficher ? Es
gibt grosse und erkfinstelte Leistungen unter ihnen. Von der Ernte der
letzten Jahre vieles, was mir zu gleichgiiltig, zu wenig frisch ist. Der
Abstand zwischen Ibsen, Hauptmann und den — anderen entspricht
der wohl unvermeidlichen Erscheinimg, dass jede Unternehmung, eine
wo. Geistiges und Materielles verkntipft ist, natQrlich noch mehr,
an einen toten Punkt kommt. Wenn nimlich der Erfolg, die S&ttigung
da ist. Man sieht das am besten an dem Organ des Verlages, der „Neuen
Rundschau**, fiber die in dem J ubil&umsbuch ein wenig zu riel gesprochen
wird. Hier zeigt sich, dass Reichtum an Beziehungen zu unserer
Welt, der die schdnste Eigenschaft der friiheren Fischerbficher war,
nicht mehr besteht Wenn die friiheren starken Produktionen dieses
Verlages Revolution nach Neuem, jene Wirkiichkeitsnahe, die mit
Naturalismus nichts zu schaffen hat, in der Kunst begehrender Naturen
war, so ist die Revolution der Neuen Rundschau von heute (und dam-
mit auch der neuen Manner dieses Verlags uberhaupt) Gouvemanten*
revolution. Warum soil ich es nicht aussprechen, da ich gewiss bin.
dass Herr Fischer, den ich ffir eine viel kr&ftigere Personlichkeit halte
als seine kultivierten Heifer, der erste sein wird, mir recht zu geben ^
Es gibt heute eine Generation • — nicht nur von Literaten, das wire gleiclw
gfiltig — , die des ewig gleichen Tones miide ist. Die das Spielen mit
Worten, die Kunst des Rundherumschreibens urn die Dinge, die uns was
angehen, diese Angst vor, jeder Kraft und Realit&t nicht mehr ertragen
kann. Menschen, denen sogar ein wenig Brutalit&t hochwillkommen
wire statt der feinen Manier, die kokett-bescheiden iiberall gerecht
sein will und in den zierlichsten Bibelotworten jedem Anlass gegen*
fiber nur die gleiche Mitteilung herausbringt, dass die Sadie auch eine
andere Seite hat und Schreiben — Schreiben ist (Leider? Gott sei
Dank!) Wir mochten statt all der Halbtone und Nuancen nun neue
Farben. Dieses Violett haben wir nun zu oft genossen. Wir bitten
urn Gelb oder Grfin an Stelle der Variationen in ewig gleichem Stil
fiber nicht allzu verschiedene Themen. Im fibrigen isfs ein l&ngst
bdoumtes physiologisches Gesetz: Reizwechsel bringt Lust, selbst wenn
*) Das XXV. Jahr. S. Fischer Verlag. Berlin 1911.
1 63
Unzunltige Theaterkritik
der neue Reiz nicht ganz so vomehm ist wie der von vorgestem. Man
mochte erschrecken oder doch wenigstens erstaunt sein fiber
eine Erscheinung in diesem so gebildeten Kreise. Das Violett haben
wir satt. Wir bitten um eine andere Far be.
unzUnftige theaterkritik
Bei der Premiere des Trauer spiels Gudrun von Ernst Hardt
ein grosser Erfolg. Gerade diesem, doch recht charakteristisch zusammen-
gesetzten Publikum des Lessingtheaters geiiel die Hardtsche Umformung
des Gudrunstoffes, weil so recht poetisch und in gar so schoner Sprache
vorgefiihrt wird, wie ein teutsches Weib Treue halten kann, selbst wenn
eine bose gute Mutter sie durchaus ins Bett des „goldenen Sohnes* * dr&ngt,
ja selbst wenn es in ihr noch so nach diesem goldenen Konig ,,glutet“.
Nur, weil eben ein deutsches Weib sich nicht und nicht zwingen l&sst,
deutsche Treue deutsche Treue ist und es nichts mehr zwischen einMn
biondzdpfigen Wesen und einem Normannen geben kann, wenn ein DSne
eine Viertelstunde fruher da war, und die Sprode sich ihm nach ein wenig
Schwerterklirren ergeben hat. Trotzdem — vielleicht sollte ich ganz
einfach eingestehen, dass ich kein Recht habe, fiber diese Angel egenheit
zu schreiben und in den Jubel fiber die poetischen Worte meine Nfichtern-
heit zu mischen. Denn ich gestehe, dass mich alle diese Dinge nichts an-
gehen. Namlich, was eine deutsche Heldin tut, wenn sie a us ihrer Burg
geraubt wird, wenn sie statt Konigin des K&nigs, den sie liebt, zu sein, lieber
WSsche waschen und sehr viele Worte dazu reden will und so weiter.
Mir ist das Theater nicht mehr und nicht weniger als ein Stfick Leben.
Ich seh’s nut so viel und so wenig Demut an wie den Streik in der Damen-
konfektion und die neuen Hutmoden. Was im Theater auf mich wir ken
soli, muss jene starke Beziehung zu unserer Ezistenz haben, die weder
von der Grosse des Stoffes noch von dem „Poetischen‘ * , von ein paar
guten Versen abh&ngt, sonde m, banal gesagt, bedeutet: So kann’s dir
auch ergehen 1
Dieses Geffihl kam mir bei der Hardtschen Gudrun nie, wahrend
das alte Gudrunlied, sowie das Nibelungenlied und die Odyssee es immer
weckt. Also liegts doch wohl nicht am Stoff, sondem daran, ein
geradliniges, ewiges, herbes Motiv, der Widerstand der Frau gegen den,
der sie zwingt, hier versfisslicht, freundlicher gesagt mit Psychologischem ,
Ethischem, Geffihlsm&ssigem verquickt wird, das dem Urstoff ganz
fremd ist.
Die Frau und der Mann, die miteinanderk8mpfen, die gehen mich was
an. Der Mann, der mit einem andem Mann um eine Frau, die Frau die
mit einer andem Frau um einen Mann k&mpft, sind meinesgleichen. Aber
die Frau, die gerne mochte, aber ,,65" nicht tut, weil sie Einem, den sie
▼or einer Viertelstunde noch gar nicht gekannt hat, was zugeschworen hat,
und der Mann der solcher Jfingferlichkeit des ,, Sich- nicht- zwingen- lassens"
nur, mit Fassungslosigkeit und Worten beikommen will, die sind mir fremd
und uninteressan t. Was an diesem Abend zu mir sprach, war : was Frau
Triesch die Art des Stfickes durchbrechend fuhlen liess: dass ein Mensch
n&nlich alles ohne Ethik aus seinen Instinkten heraus tut, um dem
4
Liigt doch nicht so !
Blutnachsten und damit sich selbst Lust zu schaffen* Aber das war eine
Wirkung, die mit der Romantik Hardts sicher nichts zu tun hatte. Viel-
leicht auch wenig mit dem, was man Schauspielkunst nennt. Mehr als
dieses Trauerspiel und seine Autfuhrung aber interessiert mich, dass dieses
Stuck sehr stark gewirkt hat. Auf die Leute, die ich sonst doch auch in
ihren f unser aller Lebensfunktionen mehr oder weniger heldenhaft, mehr
oder weniger abenteuerlich oder verniinftig handeln sehe, vor allem aber
immer nur dem folgen, was ihnen gerade die starkste Lust verspricht.
Und die jubelten nun zu einer Angelegenheit, mit der ihre Natur gar
nichts zu schaffen hat. Dies eben ist die Wirkung einer gewissen Fulle
schoner Worte und einer Entfaltung von einigen Kilowatt Edelsinn:
Die Leute wollen auf der BOhne sehen, was sie im Leben nicht haben.
In der „Kassette“, dem Lustspiel Stemheims, um das sich einen
Abend lang, weil sie angeblich eine schone Erbschaft enthfilt, die Leute
auf der Btihne rauften, war mir zu wenig Geld drin. Wegen funftausend
Mark Zinsen reisst ein ebensoviel verdienender Gymnasialprofessor seiner
Tante die Zdpfe nicht vom Kopf, gibt ein mehr verdienender Photograph
(der noch dazu kunstlerische Lichtbilder macht, was ich gar nicht leiden
kann, und erstaunliche Quantit&ten von Liebe entwickelt) seine Lebens-
wunsche nicht auf. Es kiingt wie ein schnoder und pedantischer Spass,
dass mir die Erbschaft zu klein ist, um diesen Aufwand von Leiden-
schaften zu rechtfertigen. Den Zuschauer, der in den Kammerspielen
zwischen Damen in sehr teuren Kleidern auf dem wifklich zu bequemen
Zehnmarkfauteuil sitzt, kann aber die Aufregung gefoppter Erbschleicher
erst dann erschiittern oder belustigen, wenn sie aus einer Realitdt ersteht,
die auch i h m eine ist, oder ihre Voraussetzungen und Dimensionen phan-
tastisch sind. Reden aber die Menschen oben so als ob sie sich selbst ver-
hohnen und handeln so, als ob sie nicht einander, sondern sich selbst aus-
lachen, noch b e v o r sie von der Biihne abgegangen sind, so rechne ich
immer mit, was die 4 °/« Zinsen von den 140 000 Mark, die sie nie be-
kommen werden, denn eigentlich ausmachen und bekomme immer
heraus: Es ist zu wenig.
Kurz, es ist schon schwer, einem Theaterbesucher es recbt zu machen,
iiir den das Theater nicht das Um und Auf des Lebens ist.
LUGT doch NICHT SO !
Ein Herr, von dessen kunstlerischen Fdhigkeiten wir nichts wissea
und der in Munchen ein Komodienhaus leitet, hat einer T&nzerin, von
deren kunstlerischen Fihigkeiten wir nichts wissen, sein Hans iiir ge-
schlossene AuffOhrungen verpachtet, sie dann auch vor grosserem
Publikum nackt tanzen lassen, und der Mhnchner Polizeikommissar war
so ungeschickt, das fflr eine wichtige Angelegenheit zu halten, die Vor-
stellung zu unterbrechen und einen Riesenl&rm in Miinchner Kreisen,
die sich wohl sehr langweilen, und der Presse zu erregen. Ich glaube
wahrhaitig nicht, dass wir hier als Verteidiger polizeilicher Bevormundung
betrachtet werden. Nur — man antwortet den Herren von der Polizei
und Regierung auf solches Tun falsch, wenn man sich aufregt und von
dem „rein dsthetischen Genuss", der da gefibt werden sollte und durch
Der Nutzen der Kunstler 165
Der Nutzen der Kunstler
Gesprache von AUGUSTE RODIN
1st es Ihnen aufgef alien, dass in der modernen Gesellschaft
die Kunstler, ich meine natiirlich die wirklichen Kunstler, die
einzigen Menschen sind, die ihren Beruf gem ausiiben?
. . aber . .
Halt 1 Nur . ruhig 1 Was unseren Zeitgenossen so gut wie
ganzlich fehlt, ist, wie mir scheint, die Liebe zu ihrem Beruf.
Sie arbeiten nur mit Widerwillen. Sie pfuschen gern. Dem ist
uberall so, auf der ganzen sozialen Stufenleiter, von oben bis
unten. Die Politiker fassen bei der Erfiillung ihrer Amtspflichten
nur die materiellen Vorteile ins Auge, die sie daraus ziehen
kdnnen, und scheinen die Genugtuung, die die grossen Staats-
mftnner fruherer Zeiten empfanden, wenn es ihnen gelungen
war, die Angelegenheiten ihres Landes geschickt zu behandeln,
gar nicht zu kennen.
Die Industriellen suchen nur mit schlechten und gefalschten
Erzeugnissen so viel Geld als moglich anzuhaufen, anstatt die
Ehre ihres Unternehmens hochzuhalten ; die Arbeiter, von einer
mehr oder minder berechtigten Feindseligkeit gegen ihre Arbeit-,
geber erfullt, erledigen ihre Aufgaben in gewissenloser Weise.
Heute scheinen fast alle Menschen die Arbeit als eine abscheu-
liche Notwendigkeit, als eine fluchwurdige Last zu betrachten,
wahrend sie als ein Gluck fur uns, als unsere Daseinsberechtigung
aufgef asst werden miisste.
Uebrigens hiite man sich, zu glauben, es wdre immer so ge-
wesen. Die meisten Dinge, die uns aus fruherer Zeit geblieben
sind, Mdbel, Hausgerat, Stoffe, beweisen eine grosse Gewissen-
haftigkeit derer, die sie herstellten.
Der Mensch arbeitet gut und schlecht ; ich glaube sogar, dass
die erste Art ihm mehr zusagt, weil sie seiner Natur mehr ent-
spricht. Aber er hort bald auf die guten, bald auf die schlechten
Ratschlage, und gegenwartig gibt er zweifellos den schlechten
den Vorzug.
Und doch, wieviel gliicklicher wurde die Menschheit sein, wenn
die Arbeit, statt ein Mittel, das Dasein zu fristen, sein innerster
Zweck ware 1
Diese wunderbare Veranderung konnte nur eintreten, wenn
alle Menschen das Beispiel der Kunstler befolgten oder hesser,
wenn sie sich selbst in Kunstler verwandelten. Denn dieses Wort
in seiner umfassendsten Bedeutung bezeichnet fiir mich alle, die
an dem, was sie tun, freudigen Anteil nehmen. Es ware also .zu
12
(
1 66 Der Nutzen der Kiinstler
wiinschen, dass es in jedem Beruf Kiinstler g&be : Zimmer-
leute, die gliicklich sein miissten, selbst ihre einfachsten Arbeiten
kiinstlerisch auszufiihren ; Maurer, die Gips und Mortel mit
Liebe zubereiteten ; Fuhrm&nner, die stolz darauf sein miissten,
Pferd und Wagen gut zu behandeln und auf die Fussg anger nach
Moglichkeit Riicksicht zu nehmen. Das g&be eine wunderbare
Gesellschaft, nicht wahr?
Sie sehen also, dass das Beispiel der Kiinstler bei alien iibrigen
Menschen herrliche Friichte tragen konnte.
, w
Womit jedoch wollen Sie schliesslich den Nutzen
der Kiinstler einwandfrei beweisen . . . . ist nicht die Arbeit
selbst, die sie leisten, durchaus unniitz? . .
Mein lieber Freund, man t&uscht sich meistens iiber das, was
iiiitzlich und was unniitz ist. Wenn man das, was den Bediirfnissen
unseres materiellen Lebens entspricht, niitzlich nennt, so sage ich
ja. Aber heute betrachtet man auch die Reichtiimer als niitzlich,
die einzig zur Befriedigung der Eitelkeit und zur Erregung des
Neides zur Schau gestellt werden. Diese Reichtiimer sind nicht
nur unniitz, sondern geradezu Hindernisse schlimmster Art.
Ich nenne alles niitzlich, was uns in einen gliicklichen Zustand
versetzt . Nun gibt es auf der Welt nichts, was uns gliicklicher
macht, als Vergeistigung und Phantasie. Das vergisst man heute
gar zu sehr. Der Mensch, der, vor alter Not in Sicherheit, wie ein
Weiser zahllose Herrlichkeiten geniesst, die jeden Augenblick
▼or seinen Augen und seinem Geiste erscheinen, wandelt auf
Erden wie ein Gott. Er berauscht sich an dem wunderbaren
Anblick schoner, kraft- und saftstrotzender Geschopfe, die vor
seinen Blicken ihren ungestiimen Tatendurst entfalten ; beim
Anblick stolzer Vertreter des Menschengeschlechts und des Tier-
reichs, junger Muskulaturen in Bewegung, wundervoller, leben-
diger, geschmeidiger, schlanker und feinnerviger Organismen ;
er fiihrt seine Freude in die T&ler und auf die Hiigel, wo der
Friihling mit reichstem Bl&tter- und Bliitenschmuck, mit den
siissesten Wohlgeriichen, dem Summen emsiger Bienen, dem
Rauschen breiter Fliigelschl&ge und mit Kl&ngen yon Liebes-
liedern die ▼erschwenderischsten Feste feiert ; er ergotzt sich
an dem silbernen Gekr&usel, das wie ein L&cheln iiber die Wasser-
flache der Fliisse huscht ; er ger&t in Entziicken, wenn er be-
obachten kann, wie Apollo, der strahlende Gott, sich bemiiht, die
Wolken zu zerteilen, die die Erde im Lenz zwischen sich und
ihm aufrichtet, einer schamhaften Geliebten gleich, die zdgert,
sich zu enthiillen.
Welcher Sterbliche ist begliickter als er? Und da die Kunst
i
Der Nutzen der Kiinstier
uns solche Freuden wiirdigen und geniessen lehrt, wer will da
noch leugnen, dass sie unendlich niitztich ist?
Aber es bandelt sich nicht nur uxn intellektuelle Genusse. Es
handelt sich um weit mehr. Die Kunst verkiindet den Menschen
ihre Daseinsberechtigung . Sie enthiillt ihnen den Sinn des Lebens,
sie kldrt sie iiber ihre Bestimmung auf und lasst sie in ihrer
Existenz sich zurechtfinden.
Wenn Tizian eine wunderbar aristokratische Gesellschaft malte,
in der jedes Mitglied auf seinen Ziigen, in seinen GebSrden, an
seinem Kostiim den Stolz eines scharfen Verstandes, der Autorit&t
und des Reichtums verriet, stellte er den Patriziern von Venedig
als Muster das Ideal bin, das sie zu verwirklichen wunschten.
Wenn Poussin Landschaften komponierte, worm die Vernunft
zu herrschen scheint, so klar und majestatisch ist in ihnen die
Anordnung, — wenn Puget seine Heldenleiber schuf, — wenn
Watteau seine entziickend feinen, wehmiitig triumerischen
Schaferpaare im verschwiegenen Schatten dichten Laubes, Liebe
tauschend, barg, — wenn Houdon Voltaire l&cheln liess und die
Gottin der Jagd, Diana, auf flinke Fiisse stellte, — wenn Rude
in seiner ,, Marseillaise" Greise und Kinder zum Schutze des
Vaterlandes herbeirief : so schufen diese grossen franzosischen
Meister nacheinander Spiegelbilder unseres nationalen Geistes,
die einen den Sinn fur schone Anordnung, Energie und Eleganz,
die anderen Verstand und Heroismus, alle Lebenslust und freudige
Bereitschaft zu freier, ungezwuflgener Bet&tigung. Und so ver-
korpert uns Franzosen ihr Werk die wesentlichen Merkmale
unserer Rasse.
Hat nicht der grosste Kiinstier unserer Zeit, Puvis de Chavannes,
sich bemiiht, uns die sanfte Heiterkeit nahezubringen, die unser
alter Sehnsucht ist? Sind seine erhabenen Landschaften, worin
die heilige Natur an ihrem Busen eine liebende, fromme, hehre
und einfache Menschheit zu wiegen scheint, fur uns nicht wunder-
bare Quellen der Belehrung? Hilfe fur die Schwachen, Liebe
zur Arbeit, Demut und Ehrfurcht vor dem Hochsten, er hat das
alles ausgedriickt, dieses unvergleichliche Genie ! Er schwebt
als ein herrliches, reines Licht iiber unserer Zeit. Man braucht
nur eines seiner Meisterwerke zu betrachten, seine „ Heilige
Genovefa**, seinen „Heiligen Hain“ in der Sorbonne oder seine
Verherrlichung Victor Hugos im Hotel de Ville, um sich edler
Handlungen fihig zu fiihlen.
Kiinstier und Denker gleichen einer Leier, die unendlich zarte
und klangreiche Tone hat. Und die Schwingungen, die der Geist
einer jeden Zeit ihr entlockt, klingen bei alien anderen Sterb-
lichen nach.
170 Der Nutzen der Kfiostier
Zweifellos sind die Menschen, die hervorragende Kunstwerke
auf gediegene Art geniessen konnen, sehr selten, und auch die
Zahl der Beschauer, die solche Werke in den Museen oder selbst
auf dffentlichen Pl&tzen betrachten, ist beschr&nkt. Aber die in
den Werken enthaltenen Gefiihle dringen schliesslich dock in
die grosse Menge. Neben den Genies lehnen sich andere Kiinstler
▼on geringerem Konnen an die Schopfungen der Meister an und
machen sie auf ihre Weise der Allgemeinheit verstandlich. Die
Schriftsteller werden von den Malern beeinflusst, wie diese von
den Literaten : unter alien Kdpfen einer Generation besteht ein
fortwahrender Gedankenaustausch . Die Journalisten, die popu-
laren Romandichter, die Illustratoren , die Zeichner machen der
Menge die Wahrheiten verst&ndlich, die die grossen geistigen
Potenzen entdeckt haben. Es ist wie ein Rieseln, wie ein Sprudeln
intellektueller Kr&fte, das in vielfachen Kaskaden herunterffillt,
bis es das grosse, stets bewegte Gewasser bildet, das den geistigen
Zusta n d emer Zeit darstellt .
Man muss nicht sagen, wie es gewohnlich geschieht, Hass die
Kiinstler nur die Empfindungen ihres Milieus wiedergeben. Das
wiirde zwar schon nicht wenig sein. Denn es ist stets angebracht,
den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, mit dessen Hilfe sie
sich selbst erkennen konnen. Aber sie tun mehr. Sie schbpfen
tief aus dem reichen Schatz der Tradition, den auch sie wieder
vermehren. Sie sind in Wahrheit Erfinder und Fiihrer.
Um sich davon zu uberzeugen, mdge man beachten, dass fast
alle Meister der Zeit voraufgingen, wo ihre Inspiration sich
offenbarte. Poussin malte unter Ludwig XIII. viele Meister -
werke, deren regelmassiger Adel den Charakter der folgenden
Regierung ankiindigt. Watteau, dessen lassige Grazie fiihrend
fiber der ganzen Herrschaft Ludwigs XV. geschwebt zu haben
scheint, lebte nicht unter diese m Konige, sondern unter Lud-
wig XIV. und starb unter dem Regenten. Chardin und Greuze,
die mit ihren Verherrlichungen des biirgerlichen Heims, scheinbar
eine demokratische Gesellschaft ankiindigten, lebten unter der
Monarchie. Der mystische, sanfte und weiche Prudhon nahm
mitten in den brausenden und gellenden kaiserlichen Fanfaren
das Recht in Anspruch, still zu lieben, sich zu sammeln, zu
traumen, so dass er sich ais ein Vorl&ufer der Roman tiker erweist.
Und kurz vor uns haben unter dem zweiten Kaiserreich Courbet
und Millet in ihre Werke die schwere Arbeit und Wiide des Volkes
gelegt, das unter der dritten Republik sich eine so einflussreiche
Stellung in der Gesellschaft erobert hat.
Jch sage nicht, dass diese Kiinstler die grossen Stromungen,
worm ihr Geist sich kenntlich macht, bestimmt haben. Ich
i
Ein deutscher Gouverneur
sage nur, dass sie unbewusst zu ihrer Entstehung beigetragen
haben ; ich sage, dass sie zu der intellektuellen Elite gehdrten,
die diese Tendenzen schuf. Wohl verstanden, setzte sich diese
Elite nicht allein aus Kiinstlern, sondern auch aus Schriftstellern,
Philosophen, Romandichtera und Publizisten zusammen.
Ich will noch einen Beweis dafiir nennen, dass alle Meister
ihren Generationen neue Ideen und Neigungen zufiihren : es
ist ihnen oft schwer gemacht worden, diesem Neuen Aufnahme
zu verschaffen. Oft war fast ihr ganzes Leben ein Kampf gegen
die Mittelmassigkeit. Und je grosser ihr Genie war, desto mehr
liefen sie Gefahr, lange verkannt zu bleiben. Corot, Courbet,
Millet, Puvis de Chavannes, um nur diese wenigen zu nennen,
sind erst am Ende ihrer Kiinstler lauf bah n zu allgemeinem An-
sehen gelangt.
Man erweist den Menschen nicht ungestraft Gutes. Das
Wenigste, das diese Meister fur ihre Hartnackigkeit, mit der sie
die menschliche Seele reicher machen wollten, verdient haben,
ist ihres Namens Unsterblichkeit.
, meine Freunde, wollte ich Ihnen fiber den Nutzen der
Kiinstler sagen.
Hin deutscher Gouverneur
. Dem, der am ersten Tage der Marokkodebatte im Reichstage
gefragt hatte: „Wer ist denn der groBe Herr mit dem eindrucks-
▼ollen Prokuratorenkopf, der jetzt plotzlich am Bundesratstisch
sitzt ?“ . hatte man mit der Schilderung zweier Momente aus der
kolonialen Tatigkeit des neuen Herrn antworten konnen.
Ende 1908 kam der erste deutsche Gouverneur von Samoa
auf die Insel Savaii in das Lager Lauatis. Diesem Lauati riihmte
man aber nicht nur seine Rednergabe, seine usurpatorische
Stellung als Sprecherhauptling nacb; wer seinen Namen kannte,
wusste: der ist der gefahrlichste Rebell im deutschen Kolonial-
gebiet. Und der Adjudant Oberleutnant Hecker hat dem deutschen
Gouverneur zu melden, dass das samoanische Lager im Begriff
ist zu revoltieren, dass die Boote der Eingeborenen voll von
Steinen, Speeren und Streitaxten liegen. Dann, um die heisse
Mittagsstunde, tritt Lauati als Sprecher vor, und einer .seiner
fanatischen Anhanger pflanzt einen grossen Baumzweig als
Sozmenschutz und Schattenspender vor ihm auf. Der deutsche
Gouverneur Dr. Wilhelm Solf trat ihm gegeniiber, stiess vor
■ *
1^2 Ein deutscher Gouverneur
sich eine deutsche Flagge in den Sand und sagte in der Sprache
der Samoaner: ,,Lauati, ich stehe unter dem Schutz der deutschen
Flagge. Sieh, was es auf ihr zu schauen gibt: einen Adler, der
hat Flugel, um die zu schutzen, die ihm wohlgeneigt und treu
ergeben sind, Schnabel aber und Krallen, die jene zerreissen
werden, die ihm feindlich gesinnt sind. Unter welchem Schutz
stehst aber du ? Etwa unter dem eines Baumzweiges, der morgen
verdorrt sein und auf der Erde liegen wird ?“ Schon diese S&tze
erschutterten Lauatis Selbstbewusstsein, das Spiel war halb
gewonnen . Hun aber folgte eine Redeschlacht. Denn der deutsche
Gouverneur wusste, dass bei den kultivierten Samoanern die
Rede die wirksamste Waffe ist, und Lauati wurde mundtot und
macbtlos, als der Gouverneur alien den Allegorien aus der samoa-
nischen Gescbichte, die der farbige Sprecher fiir sich ins Treffen
fiihrte, eine Wendung gegen den Hauptling und seine meineidigen
Absichten zu geben verstand. Erst einige Zeit spa ter wagte
Lauati es wieder aufzutrotzen. Er schickte in aller Form eine
Kriegserkl&rung. Darin stand: „Du wolltest mich verbannen,
ich aber werde in wenigen Stunden den Krieg gegen Dich be-
ginnen und Dich vernichten.“ Der Gouverneur begab sich sofort,
nur von seinem Adjudanten begleitet, ohne alle Waffen, zu dem
Rebellenfiihrer, nannte ihn einen unverschamten Burschen,
verbat sich seine frechen Briefe, zerriss das Papier, trat es mit
Fiissen. Da war Lauati mit den seinen wieder still. Hun erst
liess der Gouverneur die Kriegsschiffe kommen und die Haupt-
radelsfiihrer nach der Insel Saipan deportieren.
Dies sind zwei Momente aus dem Leben des Marines, der
heute provisorisch mit der Fiihrung des Reichskolonialamtes
betraut ist. Mit dieser Persdnlichkeit rechnen alle, denen der
Ausbau unserer Kolonien ein Bedtirfnis des Deutschen Reiches
scheint. Welche Richtung seinem Leben in diesen Tagen auch
gegeben wird — vieler Augen sind gespannt auf ihn gerichtet.
Regierende Personen und Behorden mogen ihm und uns mit-
teilen, dass er das Reichskolonialamt weiter leiten soil oder
als Gouverneur auf einen neuen Posten hinausgehen. Aber
auch, wenn es wieder einmal geschieht, dass Deutschland den
rechten Mann fur ein Amt hat, er es aber nicht bekommen soil, —
die Kraft, die in diesem deutschen Gouverneur wirkt, kann des
Titels und des Patentes entraten und wird weiter wirksam sein.
Exzellenz wird dann als Herr Dr. Solf sich wissenschaftlich Oder
kolonialpolitisch publizistisch bet&tigen und soviel bedeuten als
in irgendeiner offiziellen Stellung. Denn er gehort zu den
Seltenen, deren universale Spezialitat es ist, dass sie wirkliche
Beziehungen zum Wesentlichen und Wichtigen aller menschlichen
Ein deutscher Gouvemeur
193
Dirige mit grtindlichen Fachkenntnissen verbinden. Wir haben
in unsere heikelsten Aemter, driiben in die Kolonien bisher
Offiziere geschickt, Verwaltungsbeamte, und wenn es kostlich war,
Kaufleute. Dieser Mann war, schon als er in den Kolonialdienst
eintrat, nicht n u r Soldat, nicht n u r Jurist, nicht n u r Kauf-
mann wie seine Vorganger.
Und jetzt ist er einer, den das
Land driiben was angeht, der nicht ein Amt ausfiillt, sondern
ob offiziell, ob auf sich allein gestellt, driiben fiir uns oder hier
fiir die driiben aus seinem tiefsten Wesen, aus der Kenntnis der
farbigen Natur, aus Lust am fremden, an allem Leben zivili-
satorisch wirken wird.
Sein Leben war eben auch kein ziinftiges, kein landlaufiges.
Anfang der sechziger Jahre in Berlin geboren, studierte er spater
Philologie und Philosophic, speziell Sanskrit, gab fiir Professor
Kielhorn eine Sanskritgrammatik fiir deutsche Studenten heraus,
promovierte mit der Bearbeitung eines Sanskrittextes, ver-
vollstdndigte seine Sprachstudien im Persischen und Hindu-
stanischen auf den orientalischen Seminaren von Berlin und
London und ging zu ahnlichen Zwecken als Dolmetscher zum
Generalkonsulat nach Kalkutta. Dort lemte er die unerschiitter-
liche PlanmSssigkeit der englischen Kolonialverwaltung kennen.
Durch einen Zufall wurde er mit der Stellvertretung des General-
konsuls betraut. Und nun reizte ihn eine praktische Betatigung
saner theoretischen Kenntnisse, die Umsetzung seines durch
gelehrte Studien erworbenen Wissens von der ostlichen Kultur
in realpolitische Arbeit derart, dass er nach Deutschland zuriick-
kehrte und die zur Aufnahme in den Kolonialdienst notwendigen
juristischen Referendar- und Assessorexamina machte.
Er wurde zuerst in der damaligen Kolonialabteilung des Aus-
w&rtigen Amtes in Berlin beschSftigt, war unter Gouverneur
▼. Liebert Bezirksrichter in Ost-Afrika und wurde in der Zeit'
der samoanischen Wirren und internationalen Zweispaltigkeiten
auf einen Posten berufen, der auf die Initiative Herbert Bismarcks
hin durch die Samoa-Akte geradezu als Streitobjekt, zum „Zank-
apfel“ sozusagen, geschaffen worden war. Als Munizipalpr&sident
nimlich musste er die Interessen Deutschlands, Englands und der
Nordamerikanischen Staaten mit Takt und Entschlossenheit zu
je einem Drittel vertreten. Nicht nur der Eifersucht der drei
weissen Nationen war Rechnung zu tragen, sondern auch mit
dem Antagonismus zweier , ,koniglich -samoanischer “ Hduptlings-
femilien fertig zu werden; denn die Matafaa- und Malietoaleute
standen sich kriegerisch gegeniiber, hielten aber, wenn es darauf
ankam, wieder einmal den Weissen gegeniiber zusammen. Erst
als es Solf gelungen war, in diese Anarchie und dieses Chaos
*74
Ein deutscher Gouvemeur
Ordnung zu br ingen, waren die Inseln reif, eine deutsche Kolonie
zu werden.
Seit 1900 hat sich der erste deutsche Gouverneur auf Samoa
wie jeder Deutsche, der mit Hintansetzung persdniicher In-
teressen treu, beharrlich, eventueil rucksichtslos dem Vaterlande
dient, vielerlei Anfeindung zugezogen und doch ist es nur ihm,
einem deutschen Max Havelaar, zu danken, wenn wir ohne
ernsthafte Wirren und Anwendung von Waffengewalt in Samoa
eine aussichtsreiche Kolonie besitzen. Ihm sind diese friedlichen
Eroberungen gelungen, weil er friih genug einsah, dass man der
Uebermacht der farbigen Bevolkerung iiber der weissen Rechnung
tragen muss, und dass die zwar einfachen und naiven, aber hoch
kultivierten Samoaner nicht etwa mit den niedrig stehenden
Negern in einen Topf zu werfen sind. Zu solchem Tim und Handeln
bef&higten ihn die Er kenntnisse , die er aus seinen vielseitigen
und griindlichen Sprachstudien gewonnen hatte und die ihm
zum Erlebnis ge worden waren. Er respektierte jederzeit die hoch
entwickelte Etikette und Zeremonie, die vornehme Tradition
ihrer regierenden Familien. Seine Veftrautheit mit den Ge-
brauchen, Gesten und Gebarden vieler Volker ermoglichte ihm,
auf Feuer und Schwert zu verzichten. Denn er war wie wenige
befahigt, nicht nur vom Weissen zum Farbigen hin, sondern
auch vom Farbigen zum Weissen zuriickzudenken und zu fiihlen.
So kam er mit Verstandnis und sanfter Gewalt zu vielen er-
W
wiinschten Zielen.
Aber den minderwertigen Elementen der weissen Einwanderer,
die brutal und abenteuerlich die samoanischen Inseln fiir ihre
fragwiirdigen Landspekulationen ausnutzen wollten, passte
natiirlich ein Regime nicht, das durch weise Landesgesetzgebung
den Interessen und Besitzstanden der Einheimischen ebenso
Riicksicht trug, als es ehrlichen arbeitsamen Einwanderern Er-
leichterungen schuf . Eine andere Hauptquelle fur die Entriistung
und feindliche Stellungnahme kleinerNaturen,diirftiger Existenzen
und beschrankter Gruppen war die Haltung des Gouverneurs
zur Frage der Mischehen zwischen weissen Einwanderern und
samoanischen Eingeborenen; denn er lehnte von Anfang an
die „halfcasts“, ab, in diesem Falle die , , Kanaker Wirtschaft.
Freilich ist es manchem unbemittelten Ansiedler bequemer und
billiger, als Surrogat der europaischen Ehe mit ihren geistigen
und sittlichen Imponderablien sich mit einer der zierlichen und
anmutigen Insulanerinnen zusammenzutun . Das wird in
solchen Landern nie zu verhindern sein; es wird auch so lange
nicht allzu gef&hrlich sein, als eine unsentimentale und ziel-
bewusste Regierung verbietet, dass vollblutfarbige Weiber durch
Ein deutscher Gouvemeur
ihre Ehen mit einem Deutschen deutsche Frauen,
haibweisse Bastarde deutsche Kinder werden und als
solche dann spater behandelt werden miissen.
Wenn aus unseren Kolonien etwas werden soli, miisste diese
Frage, genau wie in den englischen und hollandischen , inuner
und immer wieder ernsthaft begriffen und entschieden behandelt
werden. Hier vor allem aber, in dieser tiefsten Frage der Rasse,
miissten Regierung und Mission durch keinerlei Sonderinteressen
beeinflusst zusammen arbeiten. Das ist der Grund, weshalb bei
ruhiger Betrachtung der wesentlichen Notwendigkeiten der beiden
Rassen in dem Wettstreit der einzelnen Missionsgesellschaften
eine gewisse Gefahr fur stetige systematische Weiterarbeit ge-
sehen werden muss. Denn wir glauben, dass sich wirkliche
Kultur nicht auf der Religion allein aufbauen lasst, deren pro-
fessionelle Verktinder manchmal zu sehr darauf bedacht sind, den
Andersglaubigen das Ora ihres speziellen Dogmas auf Kosten
des iiberall notwendigen Labora zu lehren.
Vor allem aber : ein deutscher Gouverneur soil kein kleiner,
▼on den griinen Tischen daheim abhangiger Beamter sein, er
muss, wie das in England ldngst begriffen worden ist, mit eines
Vizekonigs Macht ausgestattet die Majestdt des Landes, dessen
Kolonien er beherrscht, so ausiiben kbnnen, dass die Farbigen in
ihm den Repr&sentanten weisser Bildung fiihlen. Die aber
wirkt, ob es sich nun um einen Staatssekretar im Kolonial-
amt, um einen Gouverneur von Afrika, um eine freie Per-
sonlichkeit handelt, durch ihre eigene Kraft. Da gilt, was einer
als Mensch ist, nicht was ihm gerade zur Zeit von Menschen als
Last oder Lust verliehen wird.
Das Spiel vor der Menge
176
Das Spiel vor der Menge
Eindruck und Oberlegung
Von HUGO V. HOFMANNSTHAL
„Sorge, welche du gewinnest,
Merke, wen du dir entfremdest!*'
Eigenes Tun ist immer problematisch, noch in ganz anderem
Sinn als das Tun der anderen. Was man selber getan hat, ist
man geneigt, bedenklich zu finden, auch bei gutem Ausgang ;
wer sich entgegengesetzt verb alt, hat praktisches Genie ; der
Philister schliesslich macht sich allein vom Resultat abhangig.
Wer Dramatisches hervorbringt und sich dabei doch mit
dem Theater nicht recht einlassen will, erscheint absurd. Ueber
Hebbel f&llt in Richard Wagners Selbstbiographie das iiber-
raschend scharfe Wort : er sitzt in Wien in seiner Stube und
betreibt seine theatralischen Angelegenheiten von da aus in
dilettantischer Weise. Theaterdichter waren zu alien
Zeiten mit der Biihne verwachsen, die beiden gross ten, die war
keimen, selber Schauspieler ; zahllose andere vom zweiten Rang
zeitlebens oder auf lange Zeit einer Biihne adjungiert ; von
Deutschen sind, um einen noch hoheren Namen aus dem Spiel
zu lassen, Tieck und Immermann, ebenso wie Schiller, zeitlebens
mit dramaturgischen Bestrebungen hervorgetreten. Was ihnen
gross, wertvoll und im hoheren Sinne theatralisch wirksam er*
schien, suchten sie herbeizuziehen und bauten in einem welt-
biirgerlichen Sinn das Repertorium der deutschen Biihne aus.
In der Umpflanzung der Antike waren. sie breiter als wir ; denn
sie schlossen die Komodie ein. Calderon und Lope, die nach-
shakespearischen EnglSnder, schienen ihnen geeignet, das Re-
pertoire, auf welchem Iffland und Kotzebue einen breiten Raum
einnahmen, zu veredeln. Den fremden Gebilden entlegener
Herkunft begegneten sie mit Ehrfurcht, aber mit Freiheit. Wer
liebt, darf sich etwas herausnehmen, und sie waren sich bewusst,
fur das Theater und nicht fur die Literaturgeschichte zu arbeiten.
Ein Dichter der gegenwartigen Generation, wenn er sich im
gleichen Sinn bet&tigt, stosst vielfach auf ein Befremden, das ihn
selber wieder befremden muss. H< dieses an, und bleibt seinen
dramaturgischen Versuchen zugleich aber auch die Teilnahme
des Publikums anhaltend, so wird er sich auf seinem Wege nicht
irre machen lassen. Er ist sich bewusst, innerhalb der deutschen
Tradition zu verharren, und vermutet, er werde schliesslich im
Recht, die ihm Opponierenden im Unrecht bleiben. Der Versuch,
den Elektrastoff zunachst in einem scheinbaren Anlehnungs-
Das Spiel vor der Menge
177
verhaltnis an Sophokles aus einem Gegenstand des B i 1 d u n g s -
interesses zu einem Gegenstand der Emotion zu machen, war
jugendlich und verlief problematisch ; aus einer Bearbeitung
wurde eine neue, durchaus persdnliche Dichtung, deren Bedenk-
liches hinreichend festgestellt ist ; den sophokleischen Oedipus
dutch eine Uebertragung, welche sich einige geringe Freiheiten
herausnahm, zur Grundlage einer hochst phantasie- und ein-
drucksvollen Darstellung gemacht und dadurch fiir eine grosse
Zahl von Zeitgenossen, auch der einfacheren Schichten, existent
gemacht zu haben, vermag ich keineswegs zu bedauern ; indem
ich das Spiel vom ,,Jedermann“ auf die Biihne brachte, meine
ich, (tern deutschen Repertorium nicht so sehr etwas g e -
g e b e n , als ihm etwas z u r ii c k gegeben zu haben, das
ihm von Rechtswegen nicht fehlen durfte und nur sozusagen
durch einen historischen Zufall vorenthalten wurde. Denn die
engUsche Form des Gedichtes ist typische Urform und weist auf
einen spdteren Bearbeiter hin, der, mit so herrlichen Gaben,
Hans Sachs sehr wohl hatte werden mogen. Zu analysieren, was
ihm, in historischer Notwendigkeit, gefehlt haben mag, dass er
es nicht wurde, bediirfte es anderen Raumes und einer hoheren
Zusammenfassung.
* *
*
Gibt man sich mit dem Theater ab, es bleibt immer ein
PoHtikum . Man handelt, indem man vor eine Menge tritt, denn
man will auf sie wirken. So auch hier. Wahlt man einen un-
gewohnlichen Raum, beruft man eine aussergewohnliche Menge,
so liegt ein verst&rkter Akzent auf diesem Handeln. Nicht das
Gedicht, sondern der Raum, den wir wahlten, die Menge, vor die
wir es brachten, war hier der Gegenstand einiger Kritik. Man
sprach, vereinzelt, von einem gelehrten Experiment: das Gegenteil
zu unternehmen war beabsichtigt, und die Wirkung scheint dem
Unternehmen recht zu geben. Andere Stimmen schoben Max
Reinhardts Hang zum Versuch und zur Ausdehnung des Ver-
suches hier die abermalige Wahl der Arena zu. Ich habe Herrn
Reinhardt nie schematisch handeln sehen, und ich glaube nicht,
dass er etwas Geringes gegen das Gefiihl des Dichters, fur den
er arbeitet, unternehmen wiirde, geschweige denn etwas so Grosses
wie die Wahl des Raumes fiir eine Auf fiihrung. Ich nehme also
mit besonderem Vergniigen die Verantwortung dafiir auf mich,
dass wir dieses Gedicht vor eine grosse, eine sehr grosse
Menge brachten, sowie dafiir, dass wir es nicht auf einer regel-
mhssigen Buhne darstellten, sondern auf einem einfachen Ge-
riist, in drei Stufen aufgebaut, das, ohne jede historische Exakt-
178
Das Spiel vor der Menge
heit, in der Idee der altenglischen Biihne nahe kam. Ueber diese
Form der Biihne hatte Xmmermann mit Tieck ein Gespr&ch,
das er in seinem Reise journal aufgezeichnet hat. Tieck hob es
als einen der grossten Vorziige dieser Biihne hervor : „dass die
Zuschauer die Handlung unter sich vorgehen sahen“ — und
ich kann mir nicht versagen, die abschliessenden Satze dieser
Aufzeichnung Immermanns hierherzusetzen : , , Vergegen w&rtigt
man sich die Einrichtung lebendig, so werden Einem die grossen
Vorteile nicht entgehen. Die Handlung wird gewissermassen
den Zuschauern entgegengenotigt. Die Dekora-
tion spielt mit und die Gruppe macht sich immer wie von selbst
pyramidalisch oder sonst malerisch. Das Falsch-Illusorische ist
ganz aufgegeben, dagegen das, was allein illudieren soil, das
Geistig-Poetische, desto mehr unterstiitzt.“
«
t *
¥
Dramatische Gebilde dieser grossen simplen Art sind wahr-
haftig aus dem Volke hervorgestiegen. Vor wen sollten sie,
als wiederum vor das Volk? Nenne man dies immer hin die
Masse, die Grossstadtmasse oder welches iible Was man will,
und wage ab, ob mehr Gartnergehilfen darun ter waren oder
mehr Friseurs, und mehr brave gemeine Soldaten oder mehr
Bankiers und Bankgehilfen. In alien diesen steckt doch das
Volk und in seinen gehaltsreichen Tiefen schlummert das Ge-
heimnis deutschen Wesens. Wie aber, dass wir das Abgestorbene,
das Unzeitgemasse vor sie gebracht hatten! Es wird in unserer
Zeit gar zu viel Wesens gemacht von unserer Zeit. Goethe war
hart dagegen. „Ich liebe sie nicht, sie dienen der Zeit,'* sagte er
von den Zeitungen. Und dieses ewige grosse Marchen ginge
die Leute von heute nichts an, ginge fiinftausend und abermals
fiinitausend Deutsche nTchts an, Glieder des Volkes, „das dem
Christentum seine grdsste geistige Anregung verdankt" ? Publikum
ist schwankend, kurzsinnig und launisch; das Volk ist alt und
weise, ein Riesenleib, der wohl die Nahrung kennt, die ihm
bekommt. Es versteht und empf&ngt in einer grossen Weise
und teilt das heiligste seines Besitzes den Einzelnen mit, die
rein und bewusst aus ihm hervortreten.
Ein menschliches Marchen ist dies, in christlichem Gewande.
Das Verhaltnis ist schwer zu fassen, und so bemiihe ich bier zum
letzten Mai den grossen Mann, dessen tiefblickende Belehrung ich
immer dankbaren Sinnes aufnehme : „Es gab Zeiten, (< schreibt
Immermann auf einem andern Blatt seiner tiefen, reinsinnigen
Aufzeichnungen, „wo die Unfertigkeit des Menschlichen, welche
sich jetzt in tauter kleinen Streitpunkten von Talent, Gelegenheit,
Nerveniibeln, Vermogen, Bildung und Gesellschaft, Reisen und
Hausleben, Absichten und Zufallen zersplittert zeigt, an einem
grossen Gegensatz erschien, an dem zwischen dem Irdisch-
fltichtigen und der ewigen Seligkeit. Das Geschlecht war damals
auch in seinen Geschaften unsicher, die Last des Daseins ruhte
auch auf ihm; aber es war doch von ihr eine Erldsung zu hoffen.
Wohltuend war es mir also, als ich mit einem Stoffe Bekanntschaft
machte, worin das gottliche Licht und jenes glorreiche Gefuhl
einer tapferen Vergangenheit noch gewaltig hindur chleuchtete . ‘ ‘
Das Wohltuende fur den Dichter liegt darin, unsaglich ge-
brochenen Zustanden ein ungebrochenesWeltverhdltnis gegeniiber-
zustellen, das doch in der innersten Wesenheit mit jenem identisch
ist. So spricht er aus, was hier ausgesprochen werden kann,
in isthetischem Betracht ebensowohl als im politischen; ich
meine, indem man jenes alte Spiel zu erneuem bemuht war,
als indem man es vor unsere Zeitgenossen brachte.
/
<
Ein Buch nicht fiber, sondem von Rodin wird bald erscheinen
(Auguste Rodin, Die Kunst. Gesprache des Meisters. Gesammelt von
Paul Gsell, im Leipziger Verlag von Ernst Rowohlt). Man erkennt wieder,
wie wertvoll alle Aeusserungen bedeutender Menschen fiber das, was sie
ganz personlich ergreift, sind, mag nun die literarische Form ein wenig
fester, sicherer sein Oder nicht, Ubrigens sieht man auch diesmal wieder,
dass der „Nicht-Schriftsteller << , wenn er nur klug oder stark genug ist,
dem Reiz zu widerstehen als L i t e r a t wirken zu wollen, ein ausge-
zeichneter Schriftsteller isti Denn wahrend es immer eine Reihe Leute
gibt, die geschickt oder hfibsch schreiben oder reden konnen, sind die
zu zShlen, deren Ausserungen eine ganz eigene, eben nur dieser einen
Natur erwachsende Kraft innewohnt, Deshalb sind die Gespr&che, die
Rodin, der Meister, mit seinen j ungen Freunden geffihrt hat, mir mehr
wert als feine Analysen seiner Werke oder Nachrichten fiber sein Leben
oder was man in Monographien eben so findet. Denn das Leben eines
Kfinstlers ist sein Werk u n d die Ausstrahlung seiner Personlichkeit
auf jene, die ihm nahe, in seiner Atmosphere heimisch sind. Was ein
Meister durch seine reifen und zur letzten Form gelangten Arbeiten nicht
ausdrficken kann, weil der Kampf mit dem Material ihn zur Beschr&nkung
zwingt (was man dann wohl „stilisieren u nennt), alle grosse Kunst
sparsam ist, sich von blasser Theorie und Geschwatzigkeit fern h< — ,
davon befreit er sich in PISnen, Skizzen, Gesprachsfetzen, hohnischen
und zynischen Worten oder den tausend Gleichgfiltigkeiten des Alltags. Und
seines Wesens Marke ist dem allem eingepr>. So ein Buch wie Rodins
Gespr&che darf man dann nicht daraufhin lesen, was an Tatsachlichem,
Anekdotenkram drinsteht, man muss sie nehmen wie rasche Feder-
zeichnungen, Notizen. Dann wird man mehr empfangen als Erf ahrungen
und Gedanken fiber Zeichnung und Farbe und Bewegung, fibers Metier :
eine reiche und bedeutende Menschlichkeit teilt sich einem unmittelbar mit.
i
180
Lied des S tubenmadch ens im Hotel
Lied des Stubenmadchens im Hotel
Von MAX BROD
Ich trete in das Zimmer ein,
Hier waren sie allein,
Die junge Frau und der schdne Mann.
An den Kissen
Liegt noch ihre Hitze dran.
Sie sind so zerschmissen,
Dass ich sie kaum ordnen kann.
Ich muss iilih um fiinf Uhr aufstehn,
Da ist es noch kalt.
Meinen Schatz hab ich in Przemysl stehn
Bei der Festungsartillerie.
Inzwischen macht mich das Arbeiten mfid und alt,
Und er vergisst mich bald.
Der schbne Mann und die junge Frau
Gingen zum Kaffee.
Wie ihre Augen glanzten, das tat mir weh.
Und wie sie sich streicheln lftsst, schau!
Sie sind so reich und reisen
Von hier weiter liber den See
In die Berge, in den Schnee,
Dann nach Italien hinein.
So eine Hochzeitsreise muss doch schon sein.
Ich bleibe ewig hier
Und hab nichts, was mich freut,
Nur Arbeit.
Manche Hotelgaste sind zudringlich zu mir
Und manche zanken.
I
Wenn sie mir zwei Kronen geben, so muss ich mich bedanken.
Der Bund mit Italien
Von HEINRICH FRIED JUNG
Das romische Recht unterscheidet bei der Bemessung des aus
Geschaften moglichen Nachteils treffend zwischen der Einbusse
des Gewinns, dem lucrum cessans, und dem erwachsenden
Schaden, dem damnum emergens. Die Gegner des Biindnisses
mit Italien, deren Zahl in Deutschland wachst und deren Ge-
wicht durch den Beitritt des osterreichischen Thronfolgers ganz
erheblich gestiegen ist, wirken durch das Argument : welcher
Gewinn denn den Zentrahn&chten aus dem Bestand der Allianz
zugefallen sei ? Hat Italien bei der marokkanischen Verwick-
lung zu Deutschland gestanden? Konnte Oesterreich w&hrend
der Anne xionskrise auch nur auf die diplomatische Unterstiitzung
Italiens, geschweige denn aui dessen militdrische Hilfe rechnen ?
Man addiert alle Unzuverlassigkeiten des rdmischen Kabinetts,
man rechnet auch die irredentistische Volksstrbmung hierzu,
zieht dann die Summe zusammen und kommt so zu dem Schlusse,
dass unser Bundesgenosse nur Vorteile ziehen und keinen Gegen-
dienst leisten will. So mochte man beweisen, dass die Nichterneue-
rung des Biindnisses geboten sei.
Dabei vergisst man aber den durch die Losung des Biindnisses
mit Sicherheit erwachsenden Nacbteil. Ein Streit daruber, dass
das romische Kabinett sich seit Jahren mehrfach iiber seine
PfUchten den Bundesgenossen gegenisber hinwegsetzte, ist kaum
moglich. Es fragt sich nur, was gesehehen diirfte, wenn der
Dreibund zerfallen sollte.
Italien kann nicht allein stehen, es wird also offen und
unbedingt der Triple - Entente beitreten. Das wird nun nicht
gerade eine Katastrophe bedeuten, da auf dem Kontinent
doch allgemein Bediirfnis nach Frieden herrscht, und nur
in England bei einem Bruchteil der obersten Zehntausend der
Gedanke erwogen wird, Deutschland niederzuwerfen, bevor es den
Briten als Seemacht oder auch nur als Handelsmacht ebenbiirtig
ist. Sicher aber ist, dass die also entstandene Vierer-Freund-
schaft einen noch stdrkeren Drttck auf Mitteleuropa ausiiben
wird als es jetzt schon durch den Bund „der drei Gewaltigen**
geschieht. Der Traum Konig Eduards VII., Deutschland vollig
einzukreisen, wire seiner Erfiillung naher gerdckt. Herrischer
noch als bisher wiirde Grossbritannien den Ansprucfa erheben,
alien anderen Staaten Inhalt und Grenzen der Kolonialpohtik
vorzuschreiben. Frankreicb hegte wabrend der Marokkokrise
den aufrichtigen Wunsch, selbst ran den Preis gewisser Opfer
13
Der Bundmitltalien
iBZ
zur Einigung mit Deutschland zu gelangen , und auch Italien wird
nicht im Handumdrehen zu einem Ueberfall auf einen so gut
gewappneten Gegner wie die Donau-Monarchie bereit zu finden
sein. Aber an alle M&chte der Vierer-Freundschaft wird die Ver-
suchung herantreten, ihr Interesse mit steigender Riicksichts-
losigkeit zu verfolgen. Europa wird nicht mehr in zwei diplo-
matische Halften geteilt sein, sondern zwei Kabinette werden
vier anderen gegeniiberstehen.
Kann man dieses Ergebnis wollen, sollen die Mittelmachte
diese Kombination selbst herbeifiihren ? Diese Frage wird zu
verneinen sein.
Anders wenn die Tatsache sich vollzieht, ohne von der
Diplomatic Deutschlands und Oesterreich-Ungarns herbeigefiihrt
wordenzu sein. Dann werden wir den Ereignissen ruhig in die
Augen sehen. Dann wird ein Griff axis Schwert an der Zeit sein,
und wie schon oft in den letzten vierzig Jahren, diirfte die Drohung
mit dem Appell an die Gewalt in den meisten Ffillen ausreichen,
um die Randvolker Europas zu bestimmen, mit den Reichen der
Mitte in Frieden zu leben. Es diirfte dann an der Zeit sein,
ausser mit Rumanien auch mit einem anderen Balkanstaat,
der Tiirkei oder Bulgarien, in em festes Biindxus zu treten.
Deutschland wird die Pforte vor ziehen, weil sie, als Nachbarin
des Suezkanals, auf die Verbindungen Englands mit Indien
driicken kann ; Oesterreich-Ungarn kdnnte ebenso mit Bulgarien
abschliessen und so den Balkanbund vorbereiten, in dem es
auf Grund seines bosnischen und dalmatinischen Besitzes von
Haus aus ein Mitglied ware. Doch das sind zu weit ausgesponnene
Kombinationen : sicher ist, dass wir den Uebergang Italians zur
Triple-Entente nicht als Schreckbild nehmen miiss ten.
Nur sollte kein Staatsmann Deutschlands oder Oesterreich-
Ungarns die Verantwortung auf sich nehmen, diese neue Ver-
wicklung • herbeigefiihrt zu haben. Die Denkschrift des Reichs-'
kanzlers iiber die Marokko-Verhandlung hat bestsltigt, dass
Chamberlain 1899 die Aufteilung Marokkos zwischen Frank-
reich, Deutschland und Spanien im Auge hatte, und dass noch
Rouvier 1905 zur Ueberlassung eines marokkanischen Land-
striches an das Deutsche Reich bereit gewesen wire. Beide
Gelegenheiten wurden von der deutschen Diplomatic vers&umt,
so dass es erst dadurch zu dem englisch-franzdsischen Einver-
st&ndnisse gekommen ist. Es wire ein Fehler, Italien dieser
Gruppe in die Arme zu treiben ; denn wenn es als Bundesgenosse
auch nicht so viel leistete, als man erwarten durfte, so ware es
doch nicht wiinschenswert, es in den Reihen der Gegner zu sehen.
Zu den unbekannten Grossen, mit denen die nicht Einge-<
Der Bund mit Italien
weihten rechnen miissen, gehort der Inhalt des Biindnisvertrages
mit Italien. Zu dem wenigen, was daruber bekannt geworden
ist, gehort die Verpflichtung gegensei tiger Hilfeleistung, die zu
erfolgen hatte, wenn Deutschland oder Italien von Frankreich
angegriffen werden sollte. Heutzutage denkt in Italien niemand
daran, den Deutschen in einem solchen Falle zu Hilfe zu kommen.
Seitdem die durch die Besetzung von Tunis entstandene Be-
fiirchtung eines Angriffes der Franzosen auf Italien vollig ge-
wichen ist, seitdem die beiden lateinischen Nationen vielmehr
Marokko und Tripolis untereinander aufgeteilt haben, haben sich
die betreffenden Bestimmungen des deutsch-italienischen Btindnis-
vertrages vollig verfliichtigt. Weder Deutschland, noch seine
Gegner rechnen mit ihrer Verwirklichung. Denkt man weiter
an die Moglichkeit eines Zusammenstosses Deutschlands mit
England, so ist eine Beteiligung Italiens noch unwahrschein-
licher. Schon seit der Wende des Jahrhunderts besteht zwischen
England und Italien eine Abmachung, welche fur die kusten-
reiche Halbinsel gewissermassen einen Ruckversicherungsvertrag
bedeutet. Sieht man aber auch von dieser Vereinbarung ab, so
konnte Italien nicht zu einer Leistung verhalten werden, welche
dieses Land den grossten Gefahren aussetzt, ohne ihm einen
Vorteil in Aussicht zu stellen. Die englische und die franzosische
Mittelmeerflotte sind jede fur sich allein, um so mehr zusammen-
genommen, stark genug, um dem Handel und der Seefahrt Italiens
den grossten Schaden zuzufiigen ; Bombardement und Brand-
schatzung seiner Kiistenstadte wurden nicht ausbleiben.
Ebenso schattenhaft ist alles, was man von den Abmachungen
zwischen Oesterreich-Ungarn und Italien weiss. Es ist durch die
Erklarungen der italienischen Minister des Aeussern bekannt ge-
worden, dass die beiden Verbundeten sich in bezug auf Albanien des-
interessiert haben, so zwar, dass der status quo als wiinschens-
wert bezeichnet wurde, wogegen im Falle der Losreissung Alba-
niens vom osmanischen Reiche die Autonomie des Berglandes
anerkannt werden soil. Sonst ist den Alliierten freie Hand ge-
lassen, wovon Italien reichlich Gebrauch gemacht hat. K5nig
Viktor Emanuel hat seinem Schwiegervater, dem jetzigen Konig
von Montenegro, seinerzeit eine Batterie von schweren Geschiitzen
zum Geschenk gemacht, welche seither auf der Hohe des Loozen
stehen, jenes Berges, von dem Montenegro den osterreichischen
Hafen von Cattaro vollstdndig beherrscht. Dieser prachtvolle
Hafen ist infolgedessen fur Oesterreich-Ungarn vollig wertlos.
Noch bedenklicher ist das, was iiber das Verhalten Italiens
wdhrend der Anne xi onskr i se bekannt geworden ist. Man weiss
heute, dass damals auf der Halbinsel eine Mobilisierung vorbereitet
4
P ■
184 Der Bund mit Italien
wurde. Die Befehle hierfiir, bestimmt fiir die Gemeinden des
Kdnigreichs, waren bereits gedruckt ; man hat gerade jetzt diese
Ordres beim Aufgebot der zwei Jahrg&nge zur Riistung fiir den
tripolitanischen Feldzug einfach benutzt. Man begniigte sich,
die Jahreszahl 1909 mit der Jahreszahl 1911 zu iiberschreiben
und zu iiberkleben, und in dieser Form wurden die Riistungs-
befehle ausgesendet. Zettel dieser Art befinden sich in den
H&nden des osterreichischen Generalstabes, und es ist unwider-
sprochen geblieben, dass diese Anordnungen dem Kaiser Franz
Josef vorgelegt worden sind. Nun kann man der Sache eine
mildere Deutung geben und behaupten, Italien habe 1909 bei
der allgemeinen Spannung in Europa fiir alle Falle geriistet,
ohne einen Stoss gegen Oesterreich-Ungarn beabsichtigt zu
haben. Dass aber Italien daran gedacht haben sollte, seinem
Bundesgenossen in der drohendenVerwicklung mit einem Schwert-
streich zu Hilfe zu kommen, wird auch dem naivsten Gemiit
nicht beifallen. Sonach bleibt von dem Biindnisvertrag mit
Italien nichts iibrig, als eine Art moralischer Riickversicherung :
Oesterreich-Ungarn und Italien sind, wenn sie nicht einen offenen
Treubruch iiben wollen, so weit gebunden, dass sie bis zum
Ablauf der Allianz nicht iibereinander herfallen diirfen. Das
ist nicht viel, aber immerhin etwas. Wir leben in einer gewalt-
t&tigen Zeit, und nicht bloss die politischen Alkoholiker, wie
sich Sir Edward Grey auszudriicken beliebte, werden von Zeit
zu Zeit, durch die Besorgnis aufgeschreckt, Ueberf&lle seien
geplant und miissten abgewehrt werden. Das bestehende Biindnis
hatte w&hrend der Annexionskrise den Wert, dass Italien die
Serben und die Montenegriner nicht offen unterstiitzen durfte,
wie auch Oesterreich-Ungarn verhalten ist, wShrend der K&mpfe
in Tripolis eine fiir Italien erwiinschte Neutralit&t zu bewahren.
So lange die Italiener mit der Unterwerfung von Tripolis be-
schaftigt sind, wird es ihnen nicht einfallen, zu einer Losung
des bestehenden Biindnisses Anlass zu geben. Gerade um-
gekehrt. Es ist fur sie von der hdchsten Wichtigkeit, Oesterreich-
Ungarn bei guter Laune zu erhalten und es nicht an die Unzu-
verlassigkeiten der letzten Jahre zu erinnern. Eine Aufstellung
von drei osterreichischen Armeekorps im Siidwesten des Reiches
wire fiir das romische Kabinett die grdsste Verlegenheit. Daher
hat Italien, nach dem ersten Ausfluge der Flotte des Herzogs
der Abbruzzen an die Kiiste von Epirus, infolge des von Wien
aus erfolgten Einspruches sofort auf einen Anschlag an den
Kiisten von Albaniens und Epirus verzichtet. Es zeigte darin
eine Feinfiibtigkeit, die mit der Grosse der drohenden Gefahr
in der richtigen Proportion stand. Moglich, dass der Krieg
Der Bund mit Italien
in Tripolis drei oder sechs Monate, moglich dass er noch ein
oder zwei Jahre dauert. Die Englander haben bekanntlich
von 1899 bis 1902 zu tun gehabt, bevor sie die Buren liber-
waltigen konnten, und sie mussten zu diesem Z we eke 200—300 000
Mann aufbieten, wofiir Kriegskosten in der Hohe von 5400 Mil-
lionen Mark aufgelaufen sind. Nimmt man an, Italien werde
bloss ein Jahr mit der tiirkischen Division und mit den Guerilla-
banden der W iistenar aber zu tun haben, so wird die Wunde
damit nicht geschlossen sein; und wahrend dieser ganzen Zeit
muss die italienische Diplomatic sorgsam bemiiht sein, sich mit
Oesterreich-Ungarn zu vertragen. Unterdessen kommt aber
die Zeit des Ablaufs des Biindnisses.
In der Presse wurde mehrfach behauptet, dass der Drei-
bund im Jahre 1903 erneuert wurde und 1915 ablaufen
solle. Ob diese Fristbestimmung richtig ist oder nicht: es
ist fur Italien noch durch Jahre eine Lebensfrage, dass
seine Eroberungs- und Kolonialpolitik in Tripolis nicht
durch einen Krieg mit Oesterreich - Ungarn gestort werde.
Es ist Sache der osterreichischen Diplomatic, diese Sachlage
auszuniitzen und inzwischen die Stellung der Monarchic auf
der Balkanhalbinsel zu befestigen. Es wire ein schweres Ver-
saumnis Oesterreichs, wenn es die Verlegenheiten Italiens nicht
dazu benutzte, um die gelegentlich der Annexion gebrachten
Opfer, besonders den Verzicht auf den Sandschak, zu kompen-
sieren. Fur Italien ist die Erinnerung an die irredentistische
Agitation, durch welche Oesterreich allerdings mehr gereizt
als beunruhigt wurde, ausserordentlich unangenehm, und es
wird einige Opfer bringen miissen, um sie vergessen zu machen.
Solange Tripolis nicht ein unangefochtener Besitz Italiens ist,
bleibt es fur das Kdnigreich wichtiger, mit den Mittelmachten
im Biindnis zu stehen als mit der Triple-Entente. Denn nur vom
Norden her droht ein Ungewitter, das auch die Schanzen der
Befestigungen in Tripolis wegspulen kann. Mehr als je be-
w&hrt der Satz Nigras, des italienischen Botschafters in Wien,
seine Wahrheit, der sagte: Zwischen Oesterreich-Ungarn und
Italien kann es nur ein Bundnis oder einen Krieg geben. Italien
ist auf die Erneuerung des Dreibundes mehr angewiesen als
das eine Friedenspolitik befolgende Oesterreich, und daher
diirfte es nach dem Ablauf des Vertrages zu einer Erneuerung
bereit sein. Dies natiirlich unter der Voraussetzung, dass nicht
unerwar te t Verwicklungen eintreten, welche die gegenwarlige
Rechnung der Diplomatie umwerfen. Aus all diesen Griinden
ist die Zerreissung des Dreibundes in diesem Augenblick und
in der nfichsten Zeit nicht wahrscheinlich .
'i
Der Tempel des Bismarck 187
so kann man nicht glauben, dass personliche oder unwichtige
Motive im Spiele waren. Und wenn es auch wenig interessant ist,
sich um die kleinen Unrichtigkeiten bei den Preiskonkurrenzen
zu kummern : diesmal scheints, liegen grossere Dinge vor und
der Kampf, der jetztzu Ungunsten der Jury entschieden ist, war
vielleicht nicht ein Kampf zwischen Personen, sondern zwischen
Anschauungen.
D e r , Z w e c k
1
h | 11
H ahn hatte ein Kunstwerk geschaf fen, das geziemend und
liebenswtirdig die Elisenhdhe bei Bingerbriick geschmxickt hatte.
Ein architektonisch-bildhauerisches Werk; die Absicht ganz
-augenscheinlich, den Besucher zu erfreuen, ihm ein Stuck Kunst
zu zeigen. Die Beziehung zu Bismarck ist sehr gering. Ein
nackter J tingling in der Mitte einer S&ulenhalle: Jung Siegfried.
Es ist nicht leicht zu sehen, wie der Spazierginger, der oben
auf die Elisenhohe kam, an Bismarck erinnert werden sollte.
Nur der Name „Bismarckdenkmal“ konnte ihm den grossen Mann
ins Gedachtnis zuriickrufen.
Man nennt zur Erinnerung an bedeutende Manner Strassen
nach ihnen oder gemeinniitzige Institute (Virchow- Kranken-
haus) oder Stdtten, wo es dem Menschen gut geht und wo er sich
wohl fuhlt, wie Parks und G&rten. Viel enger war die Beziehung
bei dem Hahnschen Entwurfe nicht. Auf edle und kiinstlerische
; *
Weise sollte im Lande ein Punkt hervorgehoben werden, und
dem Menschen, der dorthin kam, wurde gesagt: hier ist ein
schones Bildwerk aufgestellt, hier ist ein harmonischer Platz
geschaf fen zur Erinnerung an einen grossen Deutschen. —
Das aber geniigte ganz augenscheinlich dem Volke, dem Publi-
kum und dem Sprachrohr des Publikums, der Presse, nicht.
Die wollten eine Statte der Weihe haben, eine Statte der religiosen
Erhebung. Der Wanderer, der auf die Elisenhdhe kam, sollte
in ein Heiligtum eintreten, sollte von dem Schauer ergriffen
werden, den das Andenken an einen grossen Toten erregt, sollte
ein Ding finden, das ein Sjrmbol der Grosse Bismarcks war.
Dem Menschen, der auf der Elisenhdhe in den Kreiss’schen Kuppel-
bau eintritt, dem sollen die ungeheuren Quadern, die gewaltige
Hohe des Baues eine Erinnerung an die grosse Wirkung des
gewaltigen Mannes geben. Der Bau soil eine Parallele der
Wirkung Bismarcks sein. Der Bau soil, sozusagen, die steinerne
Lebensbeschreibung eines Volksheros sein.
Das sind schone Phrasen, die gut klingen und bpi denen
einem ein leichter Schauer iibers Riickgrat lduft — der Schauer
des leicht geweckten Enthusiasipus : Strohfeuer, Spiesser-
1 88
Der Tempel des Bismarck
temperament. Denn, wenn erst dieser Bau errichtet ist, und wenn
erst in dieser halbd&mmerigen Kuppel das gewaltige Steinbikl
Bismarcks von Lederer geschaffen steben wird, dann mochte
ich die Herren, die diese Phrasen geschrieben haben, hinfiihren
und sie bitten, mir zu erz&hlen, welche Empfindungen sie ge-
habt haben.
Die alien Volker errichteten an solchen Punkten Tempel
oder Statten der Verehrung, stellten in die Mitte Symbole Oder
Statuen der Gotter, die sie anbeteten, und der Grieche, der in
Akragas zum Tempel des Herakles aufstieg, trat in den Tempel
ein nicht um eine romantisch-phantastische Stimmung zu
haben, sondern um ehrlich und redlich zu Herakles, den er fur
einen Gott hielt, zu beten und von Herakles zu verlangen, Hay
er seine machtige Hand uber sein armes Schicksal halten moge.
Der Tempel des Herakles war keine Stimmungsspielerei, keine
bombas tische Phrase, sondern eine Statte des ehrlichen Zweckes.
Religiose Handlungen wurden in diesem Tempel vorgenommen,
Priester betraten ihn, Opfer wurden gebracht. Was aber in
aller Welt wird denn in dieser Kuppelhalle, in diesem Tempel
des Bismarck geschehen? Der Wanderer, der hier eintritt,
wird von einem Mann empfangen werden, der Ansichtspostkarten
verkauft. Ein Kastellan wird ihn hineinfiihren, und der Kastellan
wird ihm erzfihlen, wie ungeheuer teuer dieser Bau gewesen ist,
wie dick die Mauern sind und wie viel die Figur des Ledererschen
Bismarcks in der Hohe misst, wie breit sie ist und wieviel die
ganze Figur wiegt. Und der Kastellan tut wirklich das Ver-
niinftigste, was er tun kann. Denn ich mochte wissen, was der
Besucher in diesem Tempel sonst t&te, wenn er sich nicht durch
imponierende Zahlen unterhalten liesse. Es ist der menschlichen
Natur nicht gegeben, in einen Raum einzutreten, sich hinzu-
stellen und diesen Raum so auf sich wirken zu lessen, dass der
Mensch sagen kann: jetzt bin ich in einer weihevollen Stimmung.
Eine Stimmung kann immer nur die Begleiterscheinung eines
Tuns sein. Gehe ich in den Tempel und bete zu Bismarck, so
konnte mich der Bau, wenn er wirklich gewaltig und nicht nur
gross ist, in meiner religidsen Stimmung bestfirken. Oder gehe
ich in das Theater und lasse die Kunst des Dichters auf mich
wirken und die Kunst des Schauspielers meine Seele fassen,
so kann der umgebende Raum diese Wirkung steigern. Aber
leere Kirchen, sinnlose Bauwerke konnen nur fisthetische
Wirkungen ausuben , niemals weihevolle, niemals religidse,
niemals den Gedanken an einen Mann, zu (lessen Ehre sie errichtet
sind, hervorrufen. — Welch ehrlicher Mann denkt heute in
dem Tempel des Herakles an Herakles ? Wer hat je dort an die
Der Tempel des Bismarck
griechische Gotterwelt gedacht? Man kann nur empfinden,
wie schon diese Saulen einst standen, Wie herrlich der Tempel
ins Land hinausblickte. Der Zweck ist tot, und es ist nichts
geblieben als die asthetische Hiille. Dieser Tempel des Bis-
marck aber hat nie einen Zweck gehabt ; er war stets eine leere
Halle, war stets ein Sarg fur einen toten Gfedanken. Wir konnen
nicbt zu Bismarck beten, bei aller Verehrung und Liebe, die wir fiir
diesen Mann haben — er war ein Mensch, wir konnen seiner
gedenken, und wir werden uns freuen, wenn wir durch irgend
etwas Schones oder Bedeutendes an ihn erinnert werden. Wir
kdnnen ihn ehren, wenn wir einen schdnen Berg nach ihm
nennen, wenn wir den besten Brunnen, den unser grosster
Bildhauer geschaffen hat, den , , Bismarckbr u nnen“ heissen,
wenn wir den schonsten Platz in unserer Stadt Bismarckplatz
taufen, wenn wir an alien schonen Stellen unseres Vaterlandes
Kunstwerke aufrichten und diese Kunstwerke der Erinnerung
Bismarcks weihen. Wir kdnnen ihm auch Statuen errichten,
aber diese Statuen kdnnen durch nichts den Namen Bismarcks
hdher ehren als durch ihre Qualitat. Sind sie gut und sind es
schdne Kunstwerke, so ist Bismarck geehrt, sind sie schlecht,
so haben sie ihren Zweck verfehlt. Deswegen ist die Beweis-
fuhrung, die jetzt beliebt ist, eine so unerhdrt falsche. Weil
Hahns Kunstwerk nicht an Bismarck erinnert, soli es dem
Empfinden des Volkes nicht entsprechen! Dann hat das Volk ein
unkulti viertes , ein falsches Empfinden. Dann will das Volk
statt der wahrhaftigen Schdnheit die Unwahrheit. Die Be-
hauptung darf niemals gelten: Kreiss’ und Lederers Entwurf ist
besser, weil Kreiss und Lederer einen Bau planen, der dem Geiste
Bismarcks homogener ist, als das zierliche Kunstwerk Hahns.
Ist Hahns Entwurf schoner und kiinstlerischer, so ist er besser.
Ist Kreiss' Entwurf kiinstlerisch schlechter, so ist er schlechter.
Der Zweck, den er rort&uscht, den Wanderer zu erheben, eine
Stdtte der Weihe zu sein, ist ein verlogener Zweck.
DasVerfahren
Ist dem so, so musste aber die Entscheidung nach dem Be-
schluss der Jury fallen, oder es musste erkldrt werden, die Jury
ist befangen, ungerecht — oder sie versteht nichts. Nichts Ton
alledem ist gesagt worden. Ein merkwtirdiges kompliziert-
bureaukratisches Verfahren musste hinterriicks das ▼oiiter ge-
wollte Resultat herbeiftihren.
Es ist zu langweiUg, die gesamte Struktur des Preisgerichtes
aufzudecken. Nur einige kurze Andeutungen.
Es existierten :
190 Der Tempel des Bismarck.
I. die Jury ;
II. der Kunstausschuss, zu dem die Juroren gehorten, unge-
fShr 36 M&nner, dann
III. der Entscheidungsausschuss , ich glaube (einige hundert)
aber keine Kiinstler , keine Leute, die Beziehungen zur Kunst
haben.
Die Jury entschied im Januar 29x1 folgenderxnassen Halm
den ersten Preis und die Empfehlung zur Ausfiihrung an erster
Stelle. Der Beschluss wurde einstimmig gefasst.
4 andere wurden pr&miiert.
xo entschadigt.
5 Entwiirfe zum Ankauf empfoblen. Unter den letzteren
befand sich ein Kreiss’scher Entwurf.
Die zweite Phase. Der Entscheidungsausschuss best&tigt
zwar die Pr&miierung, schreibt aber eine neue Konkurrenz
unter den 20 ausgezeichneten Kiinstlern aus. Die Jury bleibt
bestehen.
Es wird bestimmt, dass die Jury wieder abstimmen solle, dass
dann sp&testens am n&chsten Tage der Kunstausschuss und der
Entscheidungsausschuss zusammentreten und die Entscheidung
f alien.
Die dritte Phase. Die Jury entscheidet wie das erstemal. Der
Hahnsche Entwurf wird wieder mit dem ersten Preis gekrdnt,
wieder an erster Stelle zur Ausfiihrung vorgeschlagen. Diesmal
nicht mehr einstimmig, sondem mit 1 1 gegen 5 Stimmen.
Jetzt aber wird gegen das Protokoll der Kunstausschuss und
der Entscheidungsausschuss nicht sofort einberufen, sondem
gegen den Beschluss werden die Sitzungen dieser beiden Korper-
schaften auf den 3. und 4. Dezember, also 3 Wochen spater ,
einberufen. Die pramiierten Entwiirfe werden ausgestellt, der
Presse Gelegenheit gegeben, die Kampagne fur Kreiss fortzu-
setzen, alles gegen die Beschliisse. Geheimrat Kirdorf legt sein
Amt als 1. Vorsitzender des Entscheidungsausschusses nieder.
Prof. Dr. Clemen, der 2. Vorsitzende iibernimmt den Vorsitz.
Vierte Phase. Sitzung des Entscheidimgsausschusses am
Montag, den 3. Dezember in Coin. Mitgliedern der Jury, die
zu der Sitzung des Kunstausschusses erscheinen (die Jurgen
waren eo ipso Mitglieder des Kunstausschusses) wird deut-
lich und unverkennbar gezeigt, dass man ihr Erscheinen nicht
wiinscht, dass man sie als . Eindringlinge betrachtet. Und damn
das seltsamste: Prof. Hahn erhSlt am Sonntag, das heisst einen
Tag vor der Entscheidung, von Herrn Professor Clemen ein
Telegramm, das (nicht wortiich) folgendes sagt: .
,,N ach meiner personlichen Ue be r zeug an g
i
Der Tempel des Bismatf 4 k 191
'assBsaeasasaaBBSsssBSSSssxsBi^^sBaBaass
haben Sie keine Aussicbt, die Ausfuhru n g z u
erhalten. Die grbsste Wahrscheinlichkeit
ist, dass der Kreiss-Lederersche Entwurf ge -
w&hlt wird. Rate Ihnen, sich bereit zu er -
kl&ren, sick an dem Kreiss - Ledererschen
Entwurf durch selbst&ndige bildhauerische
Arbeiten zu beteiligen. Clemen."
Fiinfte Phase. Kreiss und Lederer erhalten den Auftrag.
Die meisten Mitglieder der Jury, an ihrer Spitze Lichtwark,
legen ihr Amt nieder.
Ich habe wenig Verlangen, von Herrn Prof. Clemen wegen
Beleidigung verklagt zu werden, noch weniger wegen formaler
Beleidigung verurteilt zu werden, deshalb unterlasse ich es,
mein Urteil in Worte- zu fassen. Jch firgere mich nicht, ich
wundere mich nur.
Ich wundere mich, wie es m&glich ist, dass anst&ndige
Mfinner zu diesen Mitteln greifen, ich wundere mich iiber die
Stfirke des Hasses, die sonst korrekte Menschen so weit fiihrt,
zu dieser Ungerechtigkeit, zu dieser Brutalisierung einer Reihe
bedeutender Menschen.
Hahns Entwurf ist vielleicht nicht so herrlich — Kreiss*
Arbeit nicht so schlecht, mir scheint, Hahn und Kreiss waren
Hekuba, es ging um etwas anderes, um etwas viel wichtigeres.
Der Gedanke an personliche Protektion ist von der Hand zu
weisen. Niemals h&tte Wohlwollen fiir einen Kiinstler Minner
wie Clemen zu diesem verfiihrt.
I
a. 4 1
Die Nibel ungen
Den Juroren zu Ehren wurde nach den ersten Sitzungen
der Jury am 26. Januar in Diisseldorf im Stadttheater eine Fest-
▼orstellung gegeben. Man spielte den Siegfried von Wagner.
Einer dieser M&nner, der 4 Tage lang die 342 Entwurfe geprttft
hatte, schilderte mir den Eindruck, den die Wagnersche Oper
ihm an diesem Abend machte. Von diesen 342 Kiinstlem hatten
hunderte gigantische Bauwerke aufgetiirmt. Da gab es Bismarcks,
die 50 m hoch waren, da gab es einen hockenden Adler von
ungeheurer Grosse, Turme und Kuppelbauten, von Dimensionen,
die den Erbauern der Pyramiden imponiert h&tte n, da stand
Bismarck als getreuer Eckhardt, als Tor, der Gott der alten
Deutschen, und unter all diesen Kiinstlern, die so riesige Gedanken
gehabt hatten, so fabelhaft grosse Pl&ne erdacht hatten,: waren
so wenige, die imstande gewesen w&ren, . die Form eines Armes
in natiirlicher Grosse zu begreifeir; zu empfinden und zu beleben.
Ein . Hexensabbath des Ef fektes, der Sucht nach dem Grossen,
192 Der Tempel des Bismarck
der Gier nach nie empfundenen Empfindungen erschien es ihm.
Ihm wollte es dfinken, als h&tte ein Haufen Men sc hen, die zu
schwach sind, ein wahres Wort fiber das Leben , das sie umgibt,
zu sprechen, ein Unites Gebrull fiber gewaltige Dinge angestimmt ,
die, ach, so fern und unerreichbar ffir dieses arme kleine Ge-
schlecht sind.
Voll von diesem Eindruck horte er der Wagnerschen Musik
zu, und ihm war es, als kl&nge ihm aus diesen Tonen in praziserer
Form, nicht von einem Stumper gestammelt, sondern von einem
grossen Konner gesprochen, dieselbe Luge ins Ohr. Ihn ekelte
dieser Siegfried, der so m&chtig tat und so naiv war, der mit so
grossen Empfindungen urn sich warf, und dieser Ekel schien ihm
das Verstandnis der Verirrung dieser vielen Kfinstler zu lehren.
Die ungeheure dussere Entwicklung, die unser Leben in dem
letzten Jahrhundert genommen, hat nirgends grossere Um-
wilzungen hervorgerufen als in Deutschland. Aus einem armen
kleinen Lande, mit engen Grenzen und geringen Moglichkeiten,
ist ein grosses, reiches, mdchtiges Gebilde geworden. Die ausseren
Bedingungen des Lebens haben sich nirgends so rasch rerandert
wie bei uns, nirgends haben die Moglichkeiten, es sei denn in
Amerika, sich so vervielfdltigt wie bei uns. Und deshalb zeigen
sich vielleicht in keinem anderen Land so sehr die Krankheiten
des Parvenfitums als in Deutschland. Die geistige Kultur konnte
mit der dusseren nicht Schritt halten. Atemlos und keuchend
rennt der Geist dem davoneilenden Korper nach, sucht ihn durch
Schreien zum Anhalten zu bringen.
Der Mensch kann nicht leben oder wenigstens nicht glficklich
sein, wenn es ihm nicht gelingt, die Dinge der Aussenwelt zu be-
greifen und in Formen zu fassen. Und eines Tages sah der fiber-
raschte Deutsche, dass die fiussere Welt zu gross geworden war,
als dass er sie mit den gewohnten fiberkommenen Mitteln be-
greifen und fassen hatte konnen. Die Tradition der Kunst und
des Denkens hatte der Entwicklung der iusseren Dinge nicht
folgen konnen.
Emsig und innerlich begaben sich Wenige an die Arbeit, die
Mittel des Geistes zu vergrosser n , aber der grossen Menge dauerte
das zu lange, sie wollte rascher ans Ziel gelangen, rascher das
Grosse, was geschah, begriffen, zusammengefasst und ausgedrfiokt
sehen. Und so griff sie zu den alten, l&ngst toten Sy mbolen , die
ihr ganz und stark erschienen, weil sie so fern lagen, weil sie die
Risse in diesen alten Tfirmen nicht sah. Die grosse Protzenlfige
des vergangenen Jahrhunderts ergriff das Volk. Weil die Dichter
n i c h t s fassen konnten, wag ten sie sich an die grossten Plane ,
weil der Architekt kein Bauernhaus bauen konnte, baute er
Das Denkmal des Bismarck
193
riesige Dome und Palaste. Das alte Lied, Hunde, die bellen,
beissen nicht ; der feige Soldat schwadroniert am meisten ; der
gefiihlloseste Schauspieler schreit am lautesten, der kleinlichste
Maler spricht von Monumental! tat und der Bucklige ist am
eitelsten. Der Bombast hat unser ganzes Volk ergriffen, die
Folitik wie die Kunst, Agadir und die Marmortreppen der Berliner
Mietskasernen sind die Kinder derselben Luge.
h_
Der Pyrrhussieg
Zum erstenmal hat sich die geduldige Kulturarbeit der
Wenigen bei diesem Preisgericht organisiert. Sicherlich ist
ihre Entscheidung anfechtbar, denn der Hahnsche Entwurf ist
kein Erfullen unserer Sehnsucht, sondern nur ein Ausweichen vor
dem Laster, und ich bin iiberzeugt, den Juroren war es klar, dass
sie nur deshalb sich dem offenkundigen Willen des ganzen Volkes
widersetzten, weil die antikisierende Kunst Hahns wenigstens
frei ist von der Protzenliige, frei ist vom Bramarbasieren, frei
ist von der Grossmannssucht, von dem VortSuschen gewaltiger
Empfindungen, weil diese Hahnsche Kunst, wenn sie auch nicht
gross genug ist, um unsere Zeit in Symbole zu fassen, doch
wenigstens redlich, still und einfach ist.
Hahn mag ein Schwacher sein, aber Kreiss ist ein Bramarbas.
Die Anderen haben gesiegt, aber dass sie nur siegen konnten,
indem sie zu hasslichen Mitteln griffen, das ist das Trostliche an
diesem Kampf. Es war ein Pyrrhussieg.
Dass Hahns Entwurf nicht ausgefiihrt wird, ist kein Ungliick,
weder fur ihn noch fur Deutschland ; er kann andere Werke
schaffen und Deutschland ist zu gross, als dass die Verschandelung
der Elisenhohe bei Bingerbriick viel bedeutete, aber ein Gliick ist,
dass zz gute Manner bei ihrer guten Meinung blieben.
La veritd est en marche. PAUL CASSIRER
4
Weihnachtsbficher
WEIHNACHTSBOCHER
Da ’s nun einmal das Bequemste und gebildet ist, schenken wir zu
Weihnachten BQcher. Die kann man wenigstens umtauschen, wenn sie
schlecht gew&hlt sind, da ja der gleiche Laden Raum f fir die guten Aus-
gaben wertvoller Dichtungen und die Schundliteratur hat ; wie aber soft*
mans anfangen, geschmackvolle Nippes aus dem Galanteriewaren-Rayon ,
etwa jenes Miniatur WCals Aschenbecher, das der Triumph diesj&hriger
internationaler „Scherzartikel“-Erzeugung ist— die gewissenTotenschSdel-
Biertople sind damit verglichen Appetitlichkeiten, eben altmodisch —
an seinem Erstehungsort gegen eine japanische Lackdose umzutauschen ?
Solange also Scheckbiicher noch seltene Geschenke sind, mQssen wir
notieren, was von den anderen Biichem unter den deutschen Weihnachts-
baum gehort. Nein, ich spotte gar nicht, sondem erinnere mich, wieviel
Millionen in diesen Wochen fQr Literatur ausgegeben werden und merke
an, was so ungeffthr in unserem Sinne richtig gew&hlte WeihnachtsbQcher
w&ren.
Der Zwei-Mark- Hofmannsthal (des Inselverlags) fttr alle jene, die
den Dichter lieben, seiner friihen Kunst immer treue Bewunderung
schenken, wohin ihn auch sp&tere Entwicklung fQhren mag; vor allem
natQrlich fttr die, die ihn nicht kennen. Sie bekommen fQr zwanzig
Groschen unendlich viel Schones : „Tor und der Tod**, „Gestem“, das
edle Knabenwerk, die sQsse „Frau am Fenster**, prachtvolle Gedichte.
Das Buch ist euch zu billig ? Nehmt Kellermanns JapanbQcher dazu,
den „Spaziergang“ imd „Sassa 70 Yama“ (Paul Cassirer Verlag) , die
hQbschen lockenden Tanzm&dchengeschichten mit den lieben Studien
▼on Karl Walser. Erinnert euch bei dieser Gelegenheit an Lafcadio Hearn,
dem wir viel Kenntnis der ,,Japs“ danken und viel Sehnsucht nach dem
Osten. Bei RQtten und Loning ist auch zur rechten Zeit eine Auswahl
seiner Schilderungen srschienen.
„Es soli was Grdsseres’sein !“ wollt ihr dem Sortimenter sagen, und
er hat keine Zeit euch zu orientieren ? Die Goethe- und Schiller-Bande
der grossen MQUerschen Ausgaben mit den ausgeze i chneten Bilder- Supple-
mentbSnden, die ,, Klassiker des Altertums" des gleichen Verlages. Die
j ungen Leute jetzt habens gut. Wir bekamen die Werke der Grossen
in so abscheulichem Druck und so eklen rohen Leinenbftnden, natQrlich
mit Goldpressung, dass Germanisten und Philologen sich in der Schale
gar nicht sehr anstrengen mussten, um uns fQr Jahre diese LektQre zu
verleiden. Wir wollen aber nicht vergessen, dass unsere Zeit ihre eigenen
Klassiker hat, Menschen, mit denen wir gelebt haben, und solche, die wir uns
neu gef unden haben. Zuerst etwas von diisen: Balzac, die Romane in der
Insel-Ausgabe, die „Physiologie des eleganten Lebens" (mit Gavarnis !) ■
bei Georg MQller, Dickens in der Meyrinkschen Uebertragtmg bei Albert
Langen. Von den uns zeitlich Ndheren : Ibsen und Bjomson. Vom S.
Fischerschen Verlag in grossen oder einfacheren Ausgaben durch Elias
herausgegeben , sind sie zum eisemen Bestande jeder Bibliothek eines
Menschen, der 1911, bald 1922 schreibt, bestimmt. Dazu die Briefe.
Die Ibsens herber, die Bjomsons heiterer ; der eben erschienene Band
, , Briefe aus Aulestad", die der alte ,,Freimd-Vater“ an das Kind BergHot,
Weihnachtsbiicher
195
die dann des jungen Ibsen Frau wurde, schrieb, fast unerwartet reich
an Herzlichkeit, Lustigkeit, WSrme. Entziickend, wenn der Vater das
junge M&dchen formlich aufmuntert von ihren LieblingssUnden nicht
abzulassen.
Romane ? NatQrlich die von Paul Ernst (im Inselverlag) heraus-
gegebene , r Bibliothek der Romane' 1 . Aber neue? Noch nicht. Zuerst
muss ich die klugen BSnde Bleis uber Rokoko und Manches sonst (Georg
Mfiller, Miinchen) sehr herzlich empfehlen und das ausserordentlich
interessante Buck Emil Ludwigs iiber Bismarck. Ein psychologischer Ver-
such und zwar ein gegliickter. Werke verschiedener Temperamente und
Genetationen, aber gleicher Valeur (zum Teufel, wie man sich jetzt in
acht nehmen muss, um nicht „Kultur" zu sagen!). Noch rasch ein paar
Briefbucher : Feuerbachs Briefe an seine Mutter (inMeyer tmd J essensVerlag,
der auch ,,Das Leben und die Abenteuer des armen Mannes von Tokken-
burg von ihm selbst erzihlt", schon neugedruckt hat, ein Lebensbuch
aus der Goethezeit, dem Revolutionsjahre 1789); Joachims (Julius Bard),
vor allem aber Bergmanns Erinnerungen, diese Bekenntnisse eines alten
Arztes, der sich noch erlaubte, ein Mensch zu sein.
Aber das Buch des Jahres ? Es gibt keins. Es gibt eine Reihe schoner
Sachen. Auf ,, Bayreuth" von Anna Bahr-Mildenburg und Hermann Bahr,
(ein kleines Buch bei Ernst Rowohlt in Leipzig jetzt erschienen) machen
wir aufmerksam, damit die Leute nicht immer nur denken : „Ach Bahr,
das ist der, dessen Stuck so zum lachen war . . oder : ,,Das ist der
Oesterreicher, der so gut auf Wien schimpfen kann". Also : Bahr ist — und
zwar nicht „nur", sondem vor allem — ein Mensch, der stark empfindet
und lieben kann, der sein Gefiihl vom Leben scharf auf seine eigene
Art ausdrttckt, dem zuzuhSren es sich immer verlohnt. Und seine Frau
ist der erste grosse Typtis der Singerin, die nicht nur mit dem Instrument
der Stimme, sondem mit der Hingabe ihrer ganzen Natur wirkt. Sie
spricht von dem, was sie wie keine sonst kann. Und das Buch soli man nicht
kaufen ? Ja, was wollt ihr denn eigentlich ? Nur gelangweilte, aus Routine
tmd Verdrossenheit gezeugte Literatur? Kunst ? Liebermanns ,,Zeich-
nungen" (Julius Bard), Strucks „Graphisches Werk" mit den rtihrenden
J udenbildem (Paul Cassirer). Aber Romane? WShrend ich auf den
Tischen krame : Hanns Heinz Ewers „Alraune“, Geschichte eines leben-
den Wesens (wieder bei Muller), Victor Fleischer „Wendelin und das
Dorf" (Meyer und Jessen), Rudolf Lothar „Der Herr von Berlin" (Con-
cordia, Deutsches Verlagshaus), — Lebensbilder, geflossen aus den ver-
schiedensten Temperamenten, KrSften ; ktinstlerische oder nur papier ene
Reflexe all der vielen Stromungen, Schichtungen , Stauungen, Storungen
der Existenz, Reifes, Versprechendes, Fluchtiges, Junges, Verstaubtes,
das nie recht gebltlht hat, und Gewolltes, das nicht gekonnt ist, neben
Gekonntem, aber nur Gekonntem — , das alles gibt es, gibt es in reichem
Segen. Was n i c h t da ist : Das Buch des Jahres. Das Buch, das „tnan“
kauft. Mir tut’s leid — denn ich kann mir nicht helfen, wenn ich diese
grossen Erfolge, die sonst fast jedes Jahr fflr e i n e n Roman da waren,
fiberdenke, ist mir das Gluck des Verfassers nSher als die Frage nach dem
kfinstlerischen Wert des einen Werkes. Ich erlebe mit ihm die Resonanz,
die Wirkung; ffihle, wie ihm Geld und Ruhm und Lust und neue Arbeits-
Weibnachtsbiicher
196
freude zufliesst; und an der Vorstellung, dass hier einmaJ ein Buch nicht
fiir fiinfhundert oder zweitausend Menschen nur existiert, sondern weite
Kreise von seinem Inhalt, seinem Ton ergriffen werden, aus Literatur
wieder Leben wird, zerschellt meine kritische Lust. Mag sein, dass die
Bucher des Jahres gar nicht die sein konnen, die ich liebe. Mag sein,
dass die Kunstwerke, die ,,uns“ was angehen, erst nach Jahren jene
Massenerfolge haben konnen, die wahrhaftig aus einem Buch lebende, ins
Weite und Breite wirkende Kraft machen. Einmal ist’s eben Jettchen
Gebert, in die ich verliebt bin, einmal der odeFrenssen, einmal begreift man
nicht, weshalb die Leute die schonsten Bucher durchaus nicht wollen —
wie immer, diesmal ist’s unnotig, sich liber die Psychologie des literarischen
Massenerfolges Gedanken zu machen. Der Roman des Jahres ist nicht
da. Viele gute, ein paar ausgezeichnete und noch abertausend „wert-
volle“ Bucher kampfen miteinander, und wenn man die Stapel sieht,
glaubt man ausgestreckte Arme zu sehen, die nach Kaufern, Lesem
flehen . . . Grosse und kleine Dichter, torichte und viel zu kluge Literaten,
Altes und Neues — der Weihnachtsjahrmarkt der Eitelkeiten. F.
Wir bitten, Mitteilungen und Beitrage nur:
An die Redaktion, Berlin W. 10, Victoriastrasse S, zu adressieren.
Bei umfangreicheren Zusendungen ist vorherige Anfrage notwendig.
Sprechstunde: An Werktagen, mit Ausnahme des Montags, 1 — 3 Uhr,
Berlin W., Victoriastrasse 5.
Verantwortlich fur die Redaktion : Albert Danun, Berlin-Wilmersdorf.
Gedruckt bei Imberg & Lefson G. m. b. H. in Berlin SW. 68.
i
Em Idyll
197
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Kin
Von LEO TOLSTOI
Einzig autorisierte Uebertragung von August Scholz
Peter Eustratjewitsch ist heute ein bejahrter Mann, er ist
Gutsinspektor, hat zwei Giiter unter sich und kommandiert auf
ihnen wie ein richtiger Herr. Ein Sohn ist Kaufmann, ein zwei ter
Beamter ; seiner Tochter soil er funftausend Rubel mitgegeben
haben, und er selbst lebt einen guten Tag und schickt nocb jedes
Jahr Geld nach Moskau auf die Bank. Er ist von schlichter, biir-
gerlicher Herkunft, ein Sohn des Eustrat Tregubow. Das heisst,
eigentlich ist er gar nicht der Sohn dieses Eustrat, er wird nur
so nach gutem Brauche als Eustrats Sohn mitgezahlt. In Wirk-
lichkeit aber liegt die Sache ganz anders, und das eben ist es,
was wir hier erzahlen wollen.
Auf hdchst merkwtirdige Weise trug diese Siinde sich zu, und
die Leute wunderten sich damals nicht wenig dariiber. Es war
dazumal alles viel einfacher als heute, und darum erregten solche
Geschichten immer grosse Verwunderung.
Grossmutter Malanja, die Mutter von Peter Eustratjewitsch,
ist noch heute am Leben, sie wohnt bei ihrem Bruder Romascha.
Der Sohn hat sie schon hundertmal gebeten, doch zu ihm zu
ziehen, aber sie tut es nicht.
„Ich bin als B&uerin geboren , 44 sagt sie, „und will auch als
Bauerin sterben, die Siinde ist dann geringer. So lange meine
Kraft noch zureicht, will ich dem Bruder behilflich sein, will
seine Enkelchen wiegen und ein bisschen im Haushalt zugreifen.
Mein Petruschka ist ein grosser Mann geworden, und wenn man
sich imter die Grossen mischt, wird auch die Siinde grosser . 44
So lebt sie denn still fiir sich, bekommt vom Sohne Unter-
stiitzungen und schickt ihm dafiir brieflich ihren Segen. Ihre
ganze Freude und Abwechslung besteht darin, dass sie sich am
Feiertag ein weisses Kopftuch umbindet, sich hiibsch sauber
putzt, ihren Kriickstock nimmt und zur Friihmesse geht, und
nach dem Miitagessen ruft sie dann irgend jemanden zu sich,
Diese unverdffentlichte Novelle ist von Tolstoi noch vor Auf-
hebung der Leibeigenschaft und seinen anderen Werken geschrieben
worden. Tolstois Frau hat die Publikation fast ffinfzig Jahre lang
verhindert. Nun erst kann sie erscheinen : in einer russischen Ausgabe
und dem im n&chsten Monat herauskommenden dritten Bande der
, .Nachgelassenen Werke“ (Berlin, J. Ladyschnikow).
*4
198 Ein Idyll
*
*
der ihr etwas vorliest. Gewohnlich lasst sie sich aus einem
kleinen Biichelchen vorlesen, das ihr einmal eine durchziehende
Pilgerin geschenkt hat, und das sich ,,Der Traum der aller-
seligsten Jungfrau" nennt ; noch lieber freilich hat sie es, wenn
man etwas aus dem Psalter liest. Mit Almosen kargt sie nicht,
und wenn ein miider Wanderer um ein Nachtlager bittet, ver-
weigert sie es nicht. Daher wird sie im Dorfe nicht nur um
ihres reichen Sohnes willen, sondern auch ihrer Tugend wegen
von alt und jung geachtet.
Was doch so ein bisschen Jugend bedeutet ! Wenn Gross-
mutter Malan ja sich jetzt selber so s&he, wie sie vor vierzig J ahren
gewesen , sie wiirde sich nicht wiedererkennen. Damals hiess
sie natiirlich auch nicht Grossmutter Malanja, sondern Malan jka
DunaYcha, weil sie n&mlich die beste Reigenspielerin und Tdnzerin
im Dorfe war. Schlimmes konnte ihr auch damals, bis zu dieser
Geschichte namlich, niemand nachsagen, sie war eben nur so ein
munteres, keckes Weibchen. Sie stammte nicht aus unserem Dorfe,
sondern aus Majowka; weshalb Eustrats Vater gerade sie fiir seinen
Sohn ausw&hlte, ob aus Mangel an Br&uten im eigenen Dorfe
oder aus sonstigen Griinden, weiss man nicht, jedenfalls war sie
eine Fremde. Der Alte war selbst noch riistig und nahm fiir
seinen Sohn ein zweites Stuck Land zu ; es war eine hiibsche
Wirtschaft, acht Pferde, die Fiillen mitgerechnet, zwei Kiihe
im Stalle und Bienenstocke, die auch heute noch auf dem Hofe
gehalten werden. Der Frondienst war ertraglich, niemand arbei-
tete sich zu Tode, und die Schwiegermutter war eine richtige
Wirtin, die allein fur drei schaffte ; ausserdem war noch eine
Soldatenfrau, eine Schwester der Wirtin, zur Aushilfe da, so dass
das junge Frauchen nichts auszustehen hatte.
Nach altem Brauch hatte man Malanja schon mit fiinfzehn
Jahren verheiratet. Sie war noch ganz ein Kind. Wenn
sie in der ersten Zeit mit der Soldatenfrau nach Wasser ging,
schwankte sie mit den Eimern hin und her wie eine Gerte. Ihren
Mann hatte sie nicht ein bisschen lieb, nur Angst hatte sie vor
ihm. Wenn er sich ihr naherte, begann sie zu weinen und kniff
und biss ihn sogar. Ueberall an den Schultern und Armen hatte
er in der ersten Zeit blaue Flecke. Das dauerte so wohl an die
zwei Jahre. Weil sie aber ein hubsches, ruhiges Weibchen und
aus gutem Hause war, zwang man sie zu keiner schweren Arbeit,
und so gewohnte sie sich nach und nach ein, wurde grosser und
starker, bekam rote Backen, hatte auch keine Angst mehr vor
ihrem Manne, sondern wurde immer zutraulicher und vergoss
sogar Tranen um ihn, als der Vater ihn auf Arbeit nach der Stadt
schickte.
199
Ein Idyll
Eines Tages kam der Spassmacher Petra zu ihnen in die Stube
und meinte : ,,Nun seht bloss, jetzt weint sie gar um den
sommersprossigen Teufel !“ Und er versuchte, ihr ein bisschen
schon zu tun.
„Und wenn er zehnmal sommersprossig ist — hiibscher als
du ist er immer noch, und du wirst ihn jedenfalls nicht aus-
stechen !“ sagte sie und machte ihm eine lange Nase.
Sie durfte sich gar nicht mehr zeigen : jeder meinte, ein Recht
zu haben, mit ihr zu scherzen und zu schdkern, selbst die Alten
liessen sie nicht in Ruhe. Sie lachte mit alien, hielt aber ihrem
Manne die Treue, wiewohl er nur selten einmal nach Hause kam.
Bei der Arbeit war sie alien voran : ob es ans M&hen ging oder
ans Einfahren, iiberall sah man sie wacker zugreifen, und wenn
die andern miide und abgehetzt waren, ging sie singend nach
Hause und fiihrte dann noch den Reigen an.
„Es war eigentlich Zeit, dass du ein Kindchen bekamest,
lange genug hast du herumgeflitzt,“ sagte die alte Schwieger-
mutter zuweilen zu ihr. „Konntest mir wirklich die Freude
machen, dass ich noch ein Enkelchen wiegen darf.“
„Ich mocht’s ja selbst auch ganz gern,“ sagte sie, „ich scham
mich schon vor den Leuten. Dieser Tage sah ich die jungen
Mutter aus der Kirche kommen, vom Aussegnen — im zweiten
Jahr sind sie erst verheiratet und haben schon Kinder. Aber
freilich, bei denen lebt der Mann im Hause. “
So oft sie an ihren Mann dachte, weinte und klagte sie. Ein
Jahr oder auch zwei hat es schliesslich nichts auf sich; wenn
aber eine stattliche, krdftige Frau auch spdter keine Kinder
bekommt, dann lachen die Leute.
Darum eben war Malanjka so betriibt daruber, dass der
Schwiegervater ihren Mann aus dem Hause gab. Der Alte war
ein tuchtiger Stellmacher und hatte eine gute Kundschdft.
Auch Eustrat hatte dieses Handwerk gelernt, und wie er es erst
richtig konnte, schickte der Vater ihn fort, auf Verdienst.
In jenem Sommer nun, in dem die Siinde geschah, hatte er ihn
ganz, ganz weit weggeschickt, fiber hundert Werst, und sich
einen Knecht genommen. Bis zum Ffirbittenfest sollte Eustrat
fortbleiben, und hundertundzwanzig Rubel Lohn bekam er daffir,
wdhrend der Knecht nur zweiunddreissig und ein Paar Hand-
schuhe dazu kostete. Fiir den Alten war es jedenfalls ein gutes
Geschaft.
Recht lange wurde Malanjka die Zeit so ohne ihren Gatten.
Jung war sie, recht in Saft und Kraft, lebte gut und ass Fleisch.
Der macht sich an sie heran, und jener versucht es, doch ver-
geblich ; der Mann aber bleibt ganze sechs Monate weg.
14*
200
Ein Idyll
Kommt sie des Abends nach Hause, dann isst sie ihr Abend-
brot, nimmt ihr Bettzeug und geht zur Soldatenfrau in die
Kammer.
„Schrecklich ist’s mir, Nastasjuschka, so allein zu sein,“ sagt
sie und bittet die Soldatenfrau, sie an der Wand schlafen zu
lassen ; „es ist mir n&mlich immer, als komme einer heran und
fasse mich an die Beine,'* sagt sie.
II.
Der Peterpaulstag war voriiber. Die Weiber hatten ihre Kopf-
tiicher, Sarafane und gestickten Hemden in die Truhen zuriick-
gelegt und schwangen wieder fleissig am Teiche die Waschbleuel.
Die G&ste, die zu Besuch gekommen, waren fort, der Brannt-
weinverk&ufer sass allein in seiner Schenke, und die Bauern, die
wieder niichtern geworden, hatten bereits am Abend oder auch
erst am Morgen ihre Sensen gedengelt. Jetzt zogen sie, die
Schleifsteine am Gtirtel, zum Mfihen aufs Feld hinaus, wie die
Bienen aus dem Stocke. Ueberall auf den Wegen und Rainen
spiegelte sich die Sonne in dem blanken Stahl der Sensen. Es
war ein pr&chtiges Wetter. Drei Tage vor dem Feste war der
Mond als schmale Sichel wieder am Himmel erschienen — „er
hatte sich gewaschen", und nun waren die schonen Tage an
der Reihe.
Die Zeit der Ernte ist auch heute noch eine lustige Zeit und
war es in fruheren Tagen noch weit mehr. Die Frauen und
Madchen schmficken sich, gehen singend an die Arbeit und
kehren singend wieder heim. Zuweilen wird Branntwein mitge-
nommen, und unter Jubel und Tanz werden die kurzen Nacht-
stunden im Freien verbracht.
Um diese Zeit war es, dass der Dorf<este die Bauern besuchte,
um zu bestimmen, wer zur Arbeit auf die Gutsfelder sollte.
Dorfaltester war damals MicheYtsch, ein noch junger Bauer,
zwar verheiratet, doch ein grosser Weiberfreund. Er war ein
stattlicher, kraftiger Mann von frischer Gesichtsfarbe, wohl-
beleibt und ein Stutzer, was Stiefel und Hut betraf. Malanjka
war ganz allein im Hause, als er die Stube betrat. Sie war bar fuss,
im schlichten Hausrock und machte sich gerade am Ofenzu
schaffen. Der Alte war mit den Knechten auf dem Hofe, die
Alte hatte das Vieh ausgetrieben, und die Soldatenfrau war mit
der Wasche am Teiche.
MicheYtsch nahm die Gelegenheit wahr und machte sich an
Malanjka heran.
„Ich werde dich nicht zur Arbeit schicken,“ begann er.
i
Ein Idyll
301
„Warum denn nicht ?“ sagte sie. „Ich gehe gern zur Arbeit
aufs Gut. Da ist man mit andern zusammen und kann lustig
sein. Und hier zu Hause sitze ich allein, und der Alte lisst mich
nicht feiern.“
,,Ich werde dir ein schdnes Tuch kau£en,“ sagte Micheitsch.
,,Mein Mann wird mir eins mitbringen," versetzte sie.
„Ich werde mit dem Verwalter sprechen, dass er deinen Mann
auf Pacht setzen soil — dann steht er sich doch besser.“
,,Wir wollen gar nicht auf Pacht kommen, wir stehen uns so
ganz gut. 14
,,Nun sag mal, Malanjka — was ist denn das ? Wie lange willst
du mich noch qu&len ?“
Er schaute um sich, ob ihn nicht etwa jemand sah, und ging
ganz nahe an sie heran.
„Gib acht, Micheitsch, dass du nicht anrennst 1“ sagte sie,
nahm die Topf gabel und hielt sie ihm lachend entgegen. „Das
geht doch jetzt nicht — denk nur, wenn der Wirt hereinkommt !“
, , Wann geht’s denn sonst ? Vielleicht, wenn du von der Arbeit
heimgehst ?“
„Gewiss, dann gehts am besten ; sowie die Leute nach Hause
gehen, verstecken wir uns beide im Gebiisch, damit deine Frau
nichts sieht,“ so spricht sie schelmisch und lacht dabei, dass es
in der Stube widerhallt. „ Sonst kdnnte sie am Ende noch bdse
werden, deine Marfa, 11 fiigt sie hinzu.
Er wusste nicht, ob sie im Ernst sprach Oder sich fiber ihn
lustig machte. Und ehe er noch weiter in sie dringen konnte,
kam der Schwiegervater herein, um sich die Stiefel anzuziehen.
Da blieb ihm denn nichts weiter iibrig, als so zu tun, als sei er
nur gekommen, um die Hofarbeit anzusagen : die Weiber sollten
das Heu zusammenrechen und die MSnner es einfahren, sagte er,
nahm seinen Stock und ging weiter, nach den andern Bauern-
hiusern. Er schickt zur Arbeit, wen er will; selbst solche,
die nicht zu gehen brauchen; auch wer ihn mit Branntwein
traktiert, bleibt nicht verschont. Nur Malanjka wollte er ganz
auslassen oder ihr doch moglichst leichte Arbeit geben. Sie aber
denkt nicht daran, deshalb freundlicher gegen ihn zu sein, sondern
lacht ihn nur aus : ,,Gewiss, ich komme," sagt sie, wenn er sie
dahin oder dorthin bestellt und geht doch nicht hin. Und ebenso
macht sie es mit den andern. So oft hatte sie Gelegenheit in
diesem Sommer, dass sie selbst schon sagte : , , Solch einen
Sommer hab ich noch nicht erlebt !“ Voll Kraft ist sie, voll
bliihender Gesundheit, kennt keine Mfidigkeit und ist immer
munter. Zur Heuemte geht sie, wann es ihr passt — um die
Friihstiickszeit, wenn die Sonne schon fiber dem Walde herauf
202
Ein Idyll
ist. Mit der Soldatenfrau zusaxnmen lauft sie zur Wiese und
singt ibr frohliches Lied.
So ging sie eines schonen Morgens durch den Hain nach der
Wiese in Kalinowo, die gerade gemaht wurde. Es war ein pr&ch-
tiger Morgen, die Sonne war eben aufgegangen, der Tau lag
auf den Grasern, und ein leichter, kiihler Hauch wehte durch
den Wald. Die Vdgel schmetterten ihre Lieder in die Luft, sie
aber iibertont sie alle. Im roten Tucb und im gestickten Hemd
geht sie daher, bar fuss, die Schuhe an der Seite ; die weissen
Beine schimmern, und uber die Schultern zuckt es nur so. Aus dem
Haine kam sie aufs herrschaftliche Feld, das die Bauern eben
pflugten. Wohl an die zwanzig Pfliige waren auf dem zehn Dess**
jatinen grossen Felde im Gange. Als letzter am Wege ging
Grischka Bolchin hinter seinem Pflug, ein pfiffiger Bauer, der gern
seinen Spass machte. Wie er Malanjka erblickte, band er den
Ziigel am Pfluge fest und kam auf sie zu, um Scherz mit ihr
zu treiben. Auch die andern liefen herbei, und sie lachte und
scherzte ganz vergniigt mit alien. Bis zum Fruhstiick hfitten sie
so ihre Kurzweil getrieben, wenn nicht der Verwalter ihnen auf
seinem Gaul auf den Hals gekommen w&re.
„Was fillt euch ein, ihr Teufelskerle ? Reigenspiele werden
sie hier am friihen Morgen auffuhren 1 Hoi euch dieser und
jener 1" rief er und sprengte auf sie los, dass die schwarze Erde
nur so unter den Hufen seines Gaules bebte. Er. war nSmlich
ein grosser, schwerer Mann, der Verwalter. ,Nun seh einer das
Weibsbild — um die Friihstiickszeit geht sie ins Heu 1 Ich
werde dich lehren !“
Sobald er jedoch Malanjka erkannt hatte, verging sein Zorn,
und er lachte sie an.
„Wart mal,“ sagte er, „wenn du mir die Bauern von der
Arbeit abhdltst, musst du selber an den Pflug. “
„Warum nicht ? 4< sagte sie, „gib mir nur einen Pflug, ich
mach die Sache besser, als deine Bauern."
„Nun, gut schon, gut schon! Mach, dass du jetzt ins Heu
kommst — es ist Zeit, es umzuwenden. Ach, diese Weiber, diese
Weiber 1" fugte er l&chelnd hinzu. Ganz anders war er ge worden.
So wie sie auf die Wiese kam und sich in die Reihe stellte,
war sie bald alien andern voran, dass die kaum mitkommen
konnten. Der Verwalter hatte seine Freude daran, die andern
Weiber aber fichzten und schimpften, dass sie sie ganz in Schweiss
bringe. Als aber die Mittagszeit herankam und sie nach Hause
wollten, schickten sie doch keine andere als die Malanjka
zum Verwalter, er mochte endlich aufhoren lassen, die Weiber
Em Idyll
203
seien mtide. Und sie wusste es schon so einzurichten, dass er
sie laufen liess.
Einmal spielte sie dem Verwalter einen lustigen Streich. Man
war gerade dabei, die Heuschober auf Zurich ten, und weil das
Wetter unsicher war, hiess es eilen, damit die Arbeit bis zum
Abend fertig wiirde. Ohne Mittagspause wurde durchgearbeitet,
auch das Hofgesinde musste mit heran. Der Verwalter war
dageblieben und hatte sich sein Mittagessen hinauskommen
lessen. Er sass mit den Weibern zusammen unter den Birken,
ass, und wie er fertig war, meinte er zu Malanjka :
„Sag mal, Gevatterin Malanjka, “ sie hatten beide zusammen
Gevatter gestanden, „willst du nicht ein kleines Schl&fchen
machen ?“
„Nein — warum denn ?“
„Du konntest mir ein bisschen den Kopf krauen, Malan-
juschka," meinte er.
Er streckte sich neben ihr hin, und sie lachte. Die andern
Weiber schlummerten ein bisschen, und auch Malanjka wurde
schl&frig. Sie guckt und guckt auf ihn, wie er so rot und
schwitzend daliegt, und Miidigkeit uberkommt sie. Da sieht sie,
wie er aufsteht und sie mit gerbteten Augen gross anstarrt —
so breit und plump steht er vor ihr da.
„Du hast mich ganz bezaubert, du Teufelsweib,“ sagt er.
Und so gross und stark, wie er ist, packt er sie mit beiden
Armen und will sie ins nahe Gebiisch ziehen.
,,Was fillt dir ein, Andrej Uitsch,“ sagte sie, ,,das geht doch
jetzt nicht — die Schande, wenn die Leute erwachen ! Komm
lieber dann, nach der Arbeit. Lass sie friiher nach Hause gehen,
und ich bleibe da.'*
Er liess sich denn auch bereden. Wie er aber die Leute friiher
als sonst entliess, war sie die erste, die nach Hause lief. Ein
Junge, der zuriickblieb, erzfihlte hinterher, Andrej Ilitsch habe
sich noch eine ganze Weile hinter dem Heuschober herum-
gedriickt.
Das machte ihr iiberhaupt den grossten Spass : jemandem
Hoffnungen zu machen und ihn dann auszulachen. Gerade zu
Peter und Paul war's, als der gnftdige Herr aufs Land kam und
mit ihm sein Kammerdiener, ein ganz ▼erschmitzter Bursche,
mit alien Hunden gehetzt. Er prahlte formlich damit, wie er
seinen Herrn bestahl und betrog. Doch das wire nicht wetter
schlimm gewesen — hundsgemein aber war er gegen die
Weiber, einfach nicht zu sagen. Die Bauern waren so aufgebracht
gegen ihn, dass sie ihn gehdrig verprugelt bitten, wenn er
noch lfinger im Dorfe geblieben ware. Ganz besonders hatte
204
Ein Idyll
h
er es auf Malanjka abgesehen : auf Schritt und Tritt folgte er
ihr, bot ihr einen Silberrubel, dann einen blauen Schein und
endlich gar einen roten.
„Nein,“ sagte sie, „ich will nicht."
Da versuchte er es mit einer List. Er steckte sich hinter den
Dorfdltesten und traktierte ihn ; gegen Ende des Fruhlings
war's, und die Leute waren beim Dreschen.
„Hor mal,“ sagte er zum Aeltesten, als es zu dunkeln begann,
„ich will auf den Getreideschober klettem, und du schick eine
hin, dass sie die Gar ben zurechtlege. Die Malanjka kannst du
vielleicht schicken."
„Meinetwegen,“ sagte der Aelteste.
Als nun Malanjkafauf den Schoberjgeklettert war, machte er
sich Jsogleich an sie heran.
„Wart mal, so istVf nicht bequem," sagte sie, begann die
Gar ben dahin und dorthin zu legen, machte eine Grube und
stiess ihn hinein, wihrend sie selbst rasch hinunterkletterte.
Unten angekommen, zog sie die Leiter fort und lehnte sie an
den Nachbarschober. Dann erzahlte sie den andern Weibern,
wer da oben sei, und die liefen nach dem Schober und fingen
ein lautes Gel&chter an. Wie er herunterkletterte, zogen sie ihm
die Hosen ab, stopften sie voll Stroh und zwangen ihn, sie so
wieder anzuziehen.
Das kiihlte sein heisses Blut aber doch nicht ab, und er bat
den Aeltesten, Malanjka zum Wegereinigen in den Park zu
schicken. Hier nun traf sie der gnidige Herr noch vor dem
Kanunerdiener. Man hatte nie vorher etwas davon gehort,
dass der Gutsherr in diesen Dingen sundig ware, Malanjka aber
tat es ihm sogleich an. Muss schon ein schmuckes Weibchen ge-
wesen sein !
.
„Ich sehe, wie er ankommt," erzdhlte sie dann selbst „so
htsslich, und so mager, und alles an ihm so sonderbar. Er geht
voruber, und ich bin fleissig bei der Arbeit und kratze und fege.
Wie ich dann einen Augenblick mich verpusten will, seh’ ich,
wie er wieder auf demselben Wege daherkommt. Dichtes Busch -
werk war zu bei den Seiten. Ich denke, er muss wohl hier zu
turi haben, wenn er so auf und ab geht — wie ich aber von der
Seite nach ihm hihschiele, seh* ich, dass er mich nur so mit den
Augen verschlingt. Bis zum Mittagessen liess er mir keine Ruhe,
ging immer auf und ab und guckte mich an. Zu 13s tig war mir
die Sache, beim Heumachen gefiel mir’s zehnmal besser. Und
dabei kommt er gar nicht heran, sondern guckt und guckt nur.
Ich denke, er hat sonst . nichts zu tun und sieht nach meiner
Ein Idyll
205
Arbeit — und da beeilte ich mich so, dass ich ganz allein den
ganzen Parkweg fertig machte."
Und nun erzahlte sie weiter, wie auf einmal der Kammerdiener
auf sie zukam.
„Du hast dem gnadigen Herrn sehr gut gefallen,“ sagte er zu
ihr, „und er lasst dir sagen, du sollst am Abend in die Orangerie
kommen."
,,Wart,“ denkt sie, ,,dir will ich’s anstreichen: das ist doch
wieder nur eine List yon dir !" Und laut fUgte sie hinzu: „Gut,
ich werde kommen."
„Erlaub dir aber keine Spasse mit ihm !“
„Wenn ich’s sage, komme ich/'
Am Abend nahm sie ihr Kratzeisen und ging nach Hause.
Sie erzihlte der Soldatenfrau, dass der Gn&dige sie nach der
Orangerie bestellt habe, und sie beschlossen, hinzugehen und
heimlich nachzusehen, ob er wirklich da sei. Hinten herum
eilten sie rasch hin und sahen ihn im Dunkeln auf und ab gehen,
Da verstellte die Bauernfrau ihre Stimme, dass sie wie eine
M&nnerstimme klang — sie verstand das ausgezeichnet — und
rief ganz laut :
„Wer ist da ?"
Der gnddige Herr nahm Reissaus. Die Weiber lachten, dass
sie sich den Bauch hielten, zu Hause noch schuttelten sie sich
▼or Lachen und erzdhlten es alien.
Am n&chsten Tage ging Malanjka wieder in den Park auf
Arbeit. Diesmal kam der Koch auf sie zu und meinte: „So,
so, du hast wohl dem Kammerdiener nicht geglaubt? Jetzt
schickt er mich und l&sst dir sagen, du hast ihm gefallen und
sollst auf jeden Fall kommen."
,,Ist’s auch wahr ?" sagte sie; „ich dachte, der Kammerdiener
will mich zum Narren haben, und da hab ich mir den Spass
gemacht. DieSmal aber komm ich wirklich."
irifAls sie die Arbeit beendet hatte, ging sie ohne weiteres zur
Herrschaft ins Haus, die Magdetreppe hinauf.
„Was willst du ?" fragte man sie.
„Der gnadige Herr hat befohlen, dass ich herkommen soil."
Die gnadige Frau kam heraus.
,,Was willst du ?" fragte sie. „Wie hiibsch du bist ! Warum
hat der gnadige Herr dich kommen lassen ?"
„Ich weiss es nicht."
Sie liess ihren Mann holen, und der kam an, ganz feuerrot im
Gesicht.
„Komm dann spater — mit deinem Vater," sagte er, „ich habe
jetzt keine Zeit."
t
206
Em Idyll
Ein einzigesmal noch kam er an sie heran und begann solches
Zeug zu reden, dass sie kein Wort verstand. Und wie er sie dann
bei der Hand nehmen wollte, lief sie rascb davon und liess ihn
stehen. So suchte sie sich zu helfen, so gut sie konnte, bald mit
List und Betrug, bald mit Gewalt.
Einmal waren Soldaten bei ihnen im Quartier. Man brachte
sie unter so gut es ging, auch in der Stube schliefen etliche
mit. Ein Junker war dabei, der machte den Schwiegervater
betrunken, und wie das Licht ausgeloscht war, wollte er sich
an Malanjka heranmachen. Sie trieb's ihm aber griindlich aus:
wie er aufstand, hatte er ein blaugeschlagenes Auge und wollte
sich sogar beschweren.
Ein andermal lag ein Offizier im Quartier bei ihnen. Der
redete so lange auf sie ein, bis sie ihm ein Stelldichein gab. Wie
dann aber die Nacht hereinbrach, schob sie ihm die Soldatenfrau
unter.
III.
So blieb keiner von ihr ungefoppt. Und schliesslich fand sie
Vergniigen an der Sache, b&ndelte selbst mit solchen an, die
sie in Ruhe liessen, und wenn sie ihnen so recht warm gemacht
hatte, lachte sie sie aus.
„Du wirst noch mal ganz gehorig anlaufen, du lockere Fliege!* 4
sagte ihr der und jener.
„Was kann ich denn dafiir, dass sie mich alle so gern haben ?“
antwortete sie. „Soll ich darum weinen ? Warum soil ich mich
nicht iiber sie lustig machen?“
In jenem Sommer hatten sie einen Knecht, Andrej mit Namen,
aus Toljatinki geburtig, ein Sohn der Matrona Karawaicha war’s.
Jetzt ist er ein wohlhabender Mann, damals aber war der Hof
seiner Mutter wohl der armste in der ganzen Umgegend. Weil
sie den Jungen nicht erndhren konnte, hatte sie ihn als Knecht
aus dem Hause gegeben und schlug sich recht und schlecht durch.
Andrjuschka war ein Junge von sechzehn, siebzehn Jahren,
lang aufgeschossen und mager wie eine Bohnenstange. Man
konnte ihn stossen, wohin man wollte, nicht ein bisschen Kraft
hatte er. Wie er seine Arbeit fertig brachte, wusste nur Gott
allein. Dabei war er willig und still und fiirchtete sich vor
dem Hauswirt schlimmer als vor dem Polizeimeister. Jedem
Slteren Bauern gegenfiber war er voll Respekt, und wenn ihn
jemand, sei’s auch ein Fremder, am Feiertag nach Branntwein
schickte, lief er sogleich hin. Dass er sich mit den Weibern Oder
M&dchen — ach, was fur M&dchen gab es bei uns ! — eingelassen
hatte, das kam bei ihm nicht vor. Scherzte einmal ein Weibchen
Ein Idyll
207
mit ihm, dann wurde er rot wie eine Jungfrau und wusste kein
Wort zu antworten. Von Angesicht war er nett und sauber, hatte
helle, blaue Augen und dunkelblondes Haar ; aber so hiibsch er
auch war, so bUeb er doch immer ein Knecht und ein griiner
Junge, und seine Tracht war nicht eben gross ar tig: ein geflickter
Rock, ein zerrissenes Hemd, dazu ein alter Hut, den ihm irgend-
ein Kutscher angedreht hatte und selbstgefertigte Bastschuhe,
wenn er nicht barfuss ging.
Doch auch dem armen Jungen liess die bose Malanjka keine
Ruhe, sondern verdrehte ihm ganz und gar den Kopf.
„Ich kam ins Haus,“ erz&hlte er selbst dariiber, „und hatte
solche Angst, solche Angst ! Der Wirt war ja gut zu mir, er zeigte
mir alles, sagte, was ich zu tun hatte, schickte mich manchmal
aufs Gut zur Arbeit, nahm mich mit, wenn er m&hte oder sonst
was vorhatte, trieb mich nicht an, tibte Nachsicht und gab
mir zu essen, was er selber ass ; auch die Alte behandelte mich.
gut und gab mir dfter Milch zu trinken ; so gewohnte ich mich
nach und nach — nur vor der jungen Frau hatte ich eine Heiden-
angst. Gott weiss, was sie von mir wollte. Wenn ich den Wagen
anspanne oder in der Scheune Stroh fur das Vieh hole, kommt
sie gleich gelaufen und reisst mir alles aus der Hand. ,Nun seht
doch,* sagt sie, ,diesen Trottel aus Teljatinki- ! Nichts fasst er
richtig an !‘ Und gleich macht sie sich selbst an die Arbeit,
und so rasch und hurtig geht das bei ihr — , und ist sie fertig,
dann l&uft sie lachend davon. Sitzen wir, beim Mittagessen oder
beim Abendbrot, dann hab ich solche Angst und wage nicht die
Augen aufzuheben ; sehe ich sie an, blinzelt sie einmal, zweimal
und lacht. Geht sie voriiber, dann kneift sie mich und macht
dazu ein Gesicht, als ob gar nichts ware. Geht sie mit der Soldaten-
frau auf den Speicher, um sich schlafen zu legen, so rufen sie :
,Andrjuschka — heda, Andrjuschka !‘
Ich gehe hin und frage : ,Was gibt’s ?*
,Wer hat dich denn gerufen ?* sagen sie und schutteln sich
▼or Lachen.
Einmal hatte ich mich im Schlitten auf dem Hofe hingelegt
und war eingeschlafen. Auf einmal erwache ich : die beiden
Weiber stehen vor mir, gucken mich an und Jachen.
,Seht doch,* rufen sie, ,am hellichten Tage schlaft er ! Lauf
rasch, der Wirt hat dich gerufen !*
Ich komme hin.
,Was willst du denn ?* sagt er, ,wie siehst du denn aus ? Ganz
schwarz wie ein Teufel, das Vieh wird vor dir erschrecken. Geh
und wasch dich !*
Ein Idyll
so8
Ich sehe in den Spiegel : ganz schwarz haben sie mir mit
Kienruss das Gesicht gemacht.“
So erz&hlte Andrjuschka. Und ein andermal schickte ihn der
Wirt mit den Weibern nach Kotschak, wo er Heu holen sollte.
Sie rechten das Heu zusammen und begannen die Schober auf-
zurichten. Malanjka ist alien voran, springt dahin und dorthin
mit der Heugabel, nimmt bis zu drei Pud auf einmal hoch, und
Andrjuschka bemiiht sich, es ihr nachzutun. Ganz in Hitze und
Schweiss geraten sie, und bald ist das letzte Heu aufgeschichtet,
und Andrjuschka klettert hinauf, um den Schober festzustampfen.
„Sag mal — gibst du dich gar nicht mit den Weibern ab ?“
fragt ihn Malanjka.
„Nein, ich hab keine Zeit dazu. Lass mich den Schober zurecht-
machen."
„Du weisst wohl mit ihnen nicht umzugehen ?“
„Nein.*‘
„Willst du, dass ich es dich lehre ?“
Er schweigt. Da fasste sie ihn, warf ihn nieder ins Heu und
begann ihn gehbrig zu walken; die Soldatenfrau aber deckte
sie beide ganz mit Heu zu und warf sich dann selbst liber sie.
„Alle auf den Haufen “ rief sie laut.
Andrjuschka entwand sich ihnen, packte Malanjka beim Kopfe
und begann sie zu kiissen — so wild und keck war er geworden.
„Nun seht doch den Bengel, den dummen Knecht. Nimmt
sich heraus, mich zu kiissen !“
Sie sprang auf und begann so zu schimpfen, dass Andrjuschka
nicht wusste, was er sagen sollte. Ganz kopflos kam er nach
Hause, und als der Wirt ihm etwas befahl, verstand er ihn gar
nicht. Der Wirt war sonst gut zu ihm, weil er so fleissig und
still war, und wunderte sich sehr fiber ihn.
„Was ist denn mit dem Andrjuschka ?“ fragte er, „der sieht
ja aus, als wollte er gleich sterben !“
„Der denkt nicht ans Sterben — mit jungen Weibern treibt
er seinen Mutwillen," meinte Malanjka und schimpfte von neuem
auf ihn los.
Er wusste nicht, wie ihm war, wenn er gleich ihr Schimpfen
nicht ernst nahm. Am liebsten wire er fortgelaufen vom Hofe,
doch fiihlte er nicht die Kraft dazu. Wie behest war er seit
jenem Tage. Er fiirchtete sich, sie anzusehen und brannte doch
i nur darauf, es zu tun. In der Nacht fand er keinen Schlaf, und
am Tage war er wie benommen und lief nur immer hinter ihr her.
(Schluss in der nfichsten Nummer)
Auf der Landagitation
209
1
Auf der Landagitation
Von LUDWIG FRANK
Vor kleinen Kuhbauem, Waldarbeitem und Stallknechten
zu predigen, ist gar keine leichte Sache. Verwohnte Leute will
ich warnen. Man muss bei Regen und Sturm auf holprigen
Wegen wandem oder in offenen Wdgelein fahren. Viel Schwarten-
magen und Schweizerk&s wird gegessen und saurer Markgr&fler-
wein getrunken. Die niederen Wirtstuben sind gefullt von
qualmenden Gestalten, und der deutschnationale Tabak, der
aus uralten Pfeifen geraucht wird, ist ein grausiges Gewdchs.
Wer aber diese Miihen nicht scheut, wird bald mehr Freude an
den landlichen Versammlungen haben, als an den m&chtigen
Meetings der Grossstadt. Hier liefem nicht tausend Gesinnungs~
genossen den sicheren Resonnanzboden, der Redner ist ganz auf
sich gestellt, wenn er den breiten Wall von Unwissenheit
und Vorurteil durchbrechen will. Alle Fremdworter muss er
daheimlassen. Keinen politischen, philosophischen, geschicht-
lichen Begriff darf er als bekannt voraussetzen , und wenn er
etwas erklaren will, kann er Bilder und Vergleiche nur aus der
engen Vorstellungswelt seiner Horer nehmen. Wer das fertig
bringt, findet dankbaren Beifall. In einem Schwarzwalddorf
weigerte sich die brave Wirtin, die paar Pfennige fur meine
Bretzel und fiir mein Glas Bier anzunehmen. Den Musikanten
und dergleichen fahrenden Leuten wird bei guten Leistungen eben
die Zeche geschenkt. Am besten wirkt immer der Anschauungs-
unterricht. Ich erz&hle, dass der Antrag, die Altersrente statt
nach dem 70. schon nach dem 65. Lebensjahre zu gew&hren,
von den riickschrittlichen Parteien abgelehnt worden ist, und
fordere die iiber 65 Jahre alten Anwesenden auf, sich zu erheben.
Oder ich stelle fest, dass die Erbanfallsteuer die Erbschaften
unter 20 000 Mark nicht getroffen hatte, und bitte dann, dass
alle vortreten sollen, die schon an einem Nachlass uber dieser
Grenze beteiligt gewesen sind. Den tiefsten Eindruck machen
auch jetzt noch , wie in den Tagen von Florian Geyer und Thomas
Mfinzer, mammonfeindliche Bibelstellen. Das Evangelium kann
aufreizender wirken als das kommunistische Manifest. Jede
k&mpfende Klasse holt sich aus Gottes Wort die Waffen. Der
B i s c h o f , als Schfitzer des Besitzes , ruft : „W er Knecht
ist, soli Knecht bleiben!" Der arme Mann trostet
sich : „Eher geht ein Kamel durch ein Nadel-
6 h r , denn ein Reicher in den Himme 1 .“ Die
Religion ist ein geistiger Garungsstoff fur viele im Lande.
Das Gleiche gilt fiir die nationalistischen Ideen, die durch Schule
210
Auf der Landagitation
und Militarvereine verbreitet warden.' Ich wnrde an einem
Abend gefragt, warum Deutschland nicht Frankreich durch
einen Krieg gezwungen h&tte, Marokko herauszugeben. Ich
frug zunachst wieder, ob man einfach dem Nachbar Land weg-
nehmen diirfe, sobald man es brauche. Die Antwort war sehr
klar : der Einzelne diirfe es nicht, aber ein Volk habe das Recht
dazu. Nun wollte ich wissen, ob ein Krieg nicht furchtbares
Elend liber die beteiligten Nationen bringe, und ob es nicht
richtiger ware, ohne Blutvergiessen das ndtige Land zu er-
werben. Als dies bejaht wurde, war es leicht, die Enteignung
der deutschen Junker, der ostelbischen und siiddeutschen Gross-
grundbesitzer ▼orzuschlagen , auf deren Giitem Hunderttausende
▼on Bauern und Landarbeitem genossenschaftlich wirtschaften
konnten. Die letzten Zweifel wurden beseitigt durch das Ver-
sprechen, dass die Grafen und Barone in aller Freundschaft
pensioniert werden sollten, und dass die Pensionen etwa so hoch
sein sollten, wie die Invalidenrenten der Landarbeiter . . .
Der Wahl tag wird zeigen, dass Demokratie und Sozialismus
auf dem platten Lande Heimatrecht erworben haben. Vor
funf Jahren redete ich zum ersten Male in einem abgelegenen
Pf&lzerdorf . Ein enges Nebenstubchen war uns vom Wirt gegeben
worden, die paar Besucher schlichen sich scheu hinein, und nur
Wenige wagten es, angstlich, mit den HSnden unterm Tisch,
Beifall zu klatschen. Vorige Woche war ich wieder in dieser
Gemeinde und traf einen grossen, dichtbesetzten Saal und be-
geisterte Zuhorer. Und am Schluss gab es fiir mich eine Ueber-
raschung. Der Vorsitzende befahl : .,Die S&nger antr&tte 1“
Und der vor wenigen Monaten gegriindete Arbeitergesangverein
trug die ,,Internationale“ vor. „C’est la lutte finale 1 *, das wilde
Lied, das ich so oft in Amsterdam und Brussel und Paris von
entflammten Massen hatte singen und pfeifen horen, hier wurde
es mit ruhrender Andacht und tiefem Ernst, wie ein Choral,
gesungen :
„Du Volk verbriiderter Millionen,
Du Arbeitsbund der ganzen Welt !
Nur den, der schafft, soil Gluck belohnen,
Der Miissiggang verliert das Feld.
Hinweg, die uns am Fleische hangen !
Schon scheucht die Angst sie weit und breit !
Sie flattem auf in Todesbangen, —
O, steig empor, du Sonnenzeit !“
Was die fleissige Hand des deutschen Proletariats beruhrt,
wird zur Organisation, zur O r d n u n g. Auch der Kampf um
die Freiheit ! Und deshalb wird der Kampf siegreich sein.
211
Stemgesprach
Stemgesprach
Von MAX DAUTHENDEY
Ich und ein Stern wir sind im dunkeln Zimmer,
Sein ' starker Lichtpunkt steht im Fensterrahmen ,
Und fernher spricht sein tausendjahriger Schimmer
Von alien Augen, die schon zu ihm kamen.
,,Wie seltsam kurz ist Menschenzeit bemessenl"
Sprech’ ich zu ihm und seiner ewigen Helle.
„Ist mat die ganze Menschheit l&ngst vergessen,
Stehts du des Abends noch an gleicher Stelle
Und siehst auf Berge, die einst Menschen trugen,
Auf Fliisse, wo die Menschenschiffe fuhren,
Und findest yon dem Zwerggeschlecht, dem klugen,
Vielleicht versteinert nur noch Fingerspuren.
Unheimlich Starker du, sag, ob du leidest,
Sag, ob du liebst wie wir, die sterblich leben!
Der du dich mit dem Dunkel gem umkleidest,
Damit die N&chte dich den Augen geben,
Sag, ob du’s fuhlst, wenn ich dich still beschaue!
Du zitterst, oder zittern meine Sinne,
Weil ich mich vor dir hellem Wesen graue? —
Allmahlich wird mir vor euch Sternen inne,
Die da mit Ewigkeiten masslos prahlen:
Gluck ist doch immer zeitlos ohne Ende!
Nicht Zeit ist Gliick, nicht Gliick der Jahre Zahlen,
Gluck f&llt uns aus Sekunden in die H&nde.
Im Liebesgliick wir uns unsterblich spiiren,
Lieb ich, erleb ich Sternen-Ewigkeiten.
Wenn mich der Liebsten Lippen heiss beriihren,
Durchflieg ich, Sterne, alle eure Zeiten.“
212 tlber das Bismarckdenkmalstbema
* •
Uber das Bismarckdenkmalsthema
Ein offener Brief
von PAUL CLEMEN
Sehr geehrter Herr Cassirer!
Sie haben in der letzten Nummer des Pan sich mit dem
Bismarck-National-Denkmal eingehend bescb&ftigt und mancher-
lei Nachdenkliches dariiber gesagt. Ihr Aufsatz ist unter denen,
die die gefallene Entscheidung bek&mpfen, der erste, der wirklich
die prinzipiellen Gegens&tze erfasst und diesem Problem wenigstens
von der einen Seite auf den Leib riickt. Ich kann in vielem Grand -
satzlichem beistimmen, in der sachlichen Anwendung weniger.
Fur die Geschichte des Wettbewerbes waren Ihre Informationen
leider in vielen Punkten ungentigende. Sie erwahnen auch meine
Person in Verbindung mit einem Telegramm, das nun schon
eine unbeabsichtigte Popularitat erhalten hat ; dieses Telegramm
lautete wesentlich anders. — Sie h&tten bei Ihrem GewShrsmann,
der Ihnen die Nibelungen-Impression iibermittelte , den Wortlaut
ohne Schwierigkeit erfahren kdnnen oder im Notfalle bei mir ;
wir pedantischen Gelehrten halten einmal darauf, dass man die
Quellen, die man anfiihrt, auch genau zitiert. Sie reihen eine
Anzahl von Fragezeichen an dieses Telegramm, das absolut
ausserhalb der Moglichkeit einer Missdeutung stand. Sie schreiben
von Starke des Hasses, von Ungerechtigkeit, von Brutalisierung.
„Ich argere mich nicht, ich wundere mich nur.“
Die Sache ist abet prinzipiell so bedeutsam fiir Ihr Publikum,
dass es sich wohl lohnt, sie auch noch von der a n d e r e n Seite
zu beleuchten; wir werden uns in nicht wenigem begegnen.
Zunachst zur Geschichte des Wettbewerbes. Das Preis-
ausschreiben, das im Jahre 1910 erlassen war, hatte aus-
drucklich betont, es werde „entscheidendes Gewicht darauf
gelegt, dass das Denkmal vom Rhein a us, so wohl oberbalb, wie
unterbalb der Elisenhohe, zur Geltung konune, es solle auch
gleichzeitig den Denkmalplatz vollkommen beherrschen“. Damit
ward, wie in den Protesten der Berliner Bildhauervereinigungen
und des Kiinstlerverbandes Deutscher Bildhauer gegen die
Entscheidung der Jury mit Recht betont, ausgesprochen, dass
eine bedeutende, im Landschaftsbild weithin sprechende Anlage
mit starker Silhouettenwirkung und mit Entfaltung bedeutender
kiinstlerischer Mittel erwartet ward. Man kann diese Programm-
Formulierung fiir wenig gliicklich halten ; sie ist in zwei grossen
Versammlimgen unter Beteiligung vieler Kiinstler aus ganz
Deutschland festgesetzt worden, und sie musste die Grundlage
tlber das Bismarckdenkmalsthema
2x3
auch fur das Preisgericht bilden. Wenn die Preisrichter in diesem
Punkte anderer Ansicht waren , so batten sie, da ihnen der Wort-
laut den Bestinunungen fiir Ausschreiben von Preisbewerben ge-
m&ss, zur Priifung vorgelegt ward, damals Bedenken aussern
mtissen.
Das Preisgericht hat in seiner ersten Tagung im Januar am
ftinften Tage, nach aufreibender Sichtung und gewissenhaitester
Priitung, dem Bestelmeyer-Hahn’schen Projekt den ersten Preis
gegeben. Es bestand zuerst die Absicht, iiberhaupt keinen ersten
Preis zu verteilen, dann einigte man sich darauf, dass doch in
der erdrttckenden Zahl der in sich zumeist unausgegohrenen
und unausgereiften Entwiirfe der Hahn'sche Entwurf an abso-
luten kunstlerischen Qualit&ten, an Reiie und Vomehmheit
der Durchbiidung so hocb stand, dass man ihm eine Zensur vor
den anderen geben durfte. Es kam hinzu, dass die anmutige
Siegfriedfigur die einzige iiberhaupt durchgefiihrte Plastik der
ganzen Ausstellung darstellte. Eine Minor itSt (4 Stimmen ver-
hielten sich schon bier ablehnend) stimmte dann bei unter der
ausdriicklichen Begriindung, dass es sich eben hier nur um eine
Bewertung des absoluten kunstlerischen Ranges handle. Die
Frage lautete ganz und gar nicht, ob dieser Entwurf nun auch sich
am besten zur Ausfiihrung eigne. Es war dem Preisgericht wie
dem Kunstausschuss bekannt und in der Instruktion des Preis-
gerichts niedergelegt, dass die Vorschlige des Preisgerichtes ein
doppeltes Fegefeuer zu passieren batten. Zun&chst hatte der
Kunstausschuss die Aufgabe, eine Reibe von Projekten auszu-
w&hlen zur engeren Auswahl, unter denen sich nur die Tr tiger der
drei Hauptpreise befinden mussten, und dann konnte der grosse
Entscheidungssausschuss aus diesen, in rei*licher Wtirdigung
aller hier zu wertenden Gesichtspunkte, die definitive Wahl
treffen.
An dieser S telle hat es kaum Wert, zum Ueberdruss darauf
hinzuweisen, welche Antwort dieser Entscheid der Jury in der
Oef fen tlichkeit fand. Dieser Widerspruch war fast einstimmig,
wenn auch die Begriindung eine sehr verschiedene war und ver-
schieden das Mass der Zust&ndigkeit der Sprecher. Wenn man
sich auf die Stimme der Kiinstler beruft, so darf man gebuhrend
anfiihren, dass der Verband der deutschen Architekten imd In-
geneiurvereine die Entscheidung ablehnte, dass jene beiden
grossen Bildhauerveinigungen ausfuhrlich sowohl gegen die
Grundsatze der Preisverteilimg wie gegen den ersten Preis ins-
besondere protestierten, und dass sich der Bund deutscher
Architekten dem anschloss. In Wiesbaden ward im Juni dieses
Sommers einstimmig der Beschluss gefasst, dass eine Neube-
xs
214
ttber das Bismarckdenkmalsthema
arbeitung des Denkmalgedankens vorgenommen warden sollte ;
es wurde dabei der Wunsch ausgesprochen, dass die Gestalt
Bismarcks deutlicher in Erscheinung treten sollte. Man kann auch
an diesem Beschluss als solchem m&keln, er bildete jedenfalls
die Grundlage fur die weiteren Schritte. Mit keinem Wort war
dabei aber jetzt eine Kolossalfigur gefordert von beherrschender
Wirkung gegeniiber den bisherigen architektonischen Losungen,
es ward nur der selbstverstandliche Wunsch ausgesprochen, dass
der Bismarck dem Bismarckdenkmal nicht fehlen dilrfe. Von den
Kiinstlem der Jury ward die Forderung nach plastischea
Modellen noch besonders formuliert.
Und nun kommt das Tragische. Alle die, die aufrichtige Be-
wunderer von Bestelmeyers reifem Konnen und von Hahns
feiner Kunst gewesen, lebten der Hoffnung, dass jetzt eine
Losung entstehen werde, die wirklich das ersehnte grosse und
befreiende Kunstwerk bringen wurde. Es schien sehr wohl
moglich, dass, auch wenn das Dolmenmotiv auf der Spitze des
felsigen Riickens beibehalten ward, die ganze Anlage nun nach
dem Bergriicken zu rythmisch gesteigert ward und dass der
Schwerpunkt der ganzen Anlage nach hinten verlegt ward.
Ausdriicklich war in dem Preisausschreiben gesagt, es solle dem
Kiinstler iiberlassen bleiben, wohin er auf dem angewiesenen
Gelande den Schwerpunkt der Denkmalanlage verlegen wolle.
Wie Fischer das in der geschickten und bedeutenden Neu-
bearbeitung seines Projektes getan, konnte die Platzanlage sich
symmetrisch erweitem und entwickeln, das Bismarckthema
konnte dann hinten oder in der Mitte bedeutsam ausklingen.
Die beiden Kiinstler Bestelmeyer und Hahn haben diesen Weg
beschritten und ein griindlich durchgearbeitetes, ausgereiftes
Projekt vorgelegt, das einen ungegliederten Festplatz in unmittel-
barem Anschluss an den Dolmen vorsah und als Abschluss
eine machtige cyklopische Mauer mit einem riesigen, zo Meter
hohen Bismarckrelief. Und diesen Entwurf, den die Kiinstler
selbst als einen gelungenen bezeichnen, von dem sie eine Wirkung
mit elementarer Wucht erhofften, hat die Jury einstimmig ab-
gelehnt und verworfen, sie hat ihn nicht einmal als Grundlage
gelten lassen zu weiterer Bearbeitung, auch nicht mit dem
Feueraltar, der in Anlehnung an einen anderen Miinchener
Entwurf (von Bleecker und Kurz) entstanden war und mit Weg-
lassung der Gestalt des Jungsiegfried. Man muss mit tiefer
Trauer zugestehen, dass die Jury bei ihrer Ablehnung im vollen
Rechte war, denn das Projekt war unmbglich; es brachte koine
Einheit und zerriss die Denkmalanlage, und vor allem war der
riesige Reiter alles andere als monumental, ungeschlacht und un-
Ober das Bi smarckdenkmalsth ema
bedeutend zugleich. Und nun kam die Jury auf den alten Entwurf
zuriick und empfahl diesen mit Zweidri ttel - Ma j oritat (iz gegen
5 Stimmen) als Grundlage zur Ausfiihrung. Wenn man das
alles zusammennimmt, so war der Erfolg von Bestelmeyer und
Hahn bei dieser zweiten Prufung doch eher eine Niederlage als
ein Sieg. Es ward im Kunstausschuss mit Recht betont, dass bei
dieser architektonischen Frage die Architekten zunachst das
Wort hatten; von diesen haben zwei fur Hahn und zwei da-
gegen (und fur Kreiss) gestimmt. Bei der letzten Abstimmung,
•ob das Kreiss’sche Pro jekt in die Reihe der vier, dem Entscheidungs-
ausschuss vorzuschlagenden aufgenommen werden solle, hatten
sich drei von den vier Architekten fiir Kreiss ausgesprochen.
Der weitere Gang ist rasch erzahlt. Der Kunstausschuss hat
durchaus korrekt auftraggemass eine Reihe von Projekten zur
engeren Auswahl dem Entscheidungsausschuss prasentiert. Der
Kunstausschuss hat aus diesen neun Projekten dann wieder die
drei von Kreiss, Hahn und Brantzky in vorderer Reihe hervor-
gehoben, und der Entscheidungsausschuss hat nach stunden-
langen Redekampfen das Projekt von Kreiss gewfihlt. Es handeit
sich weder um einen Rechtsbruch, noch um eine Rechtsbeugung.
Es lag durchaus kein Beschluss der Wiesbadener Versammlung
vor, dass Preisgericht, Kunstausschuss und Entscheidungs-
ausschuss unmittelbar hintereinander tagen sollten, sondern nur
eine Anregung aus dem Plenum. Dem widersprach nach Ansicht
des Presidiums und des geschdftsfuhrenden Ausschusses die
Unvereinbarkeit der Forderung der Jury, sich zu aussern , bevor
die Oeffentlichkeit Zutritt gehabt habe und die selbstverstand-
liche Forderung des Hauptausschusses, erst zusammenzutreten,
nachdem die offentliche Meinung sich geaussert habe. Es lagen
zwei ausfiihrlich motivierte Antrage vor, die eine noch weiter-
gehende Differenzierung wunschten: dass Jury, Kunstausschuss
und Entscheidungsausschuss gesondert, mit mehrwdchent-
lichen Pausen tagen imd dass die beiden ersten Instanzen aus-
fuhtlich begriindete Gutachten erstatten sollten. Sicherlich ware
der letzte Weg der gewesen , der die beste Moglichkeit zum
Nachdenken, zum Beraten, zum Ausreifen der Beschlusse ge-
bracht hatte, — nur wdren dann die Opfer an Zeit und Kraft
der Mitglieder noch hdhere gewesen. Der erste Vorsitzende,
Herr Geheimrat Kirdorf, hat keineswegs wegen dieser kom-
plizierten Einladung, wie es nach dem Artikel im Pan fast
scheint, seinen Vorsitz niedergelegt, sondern ehe iiberhaupt die
Einberufung der Jury verhandelt ward. Da er niemanden in
Kenntnis gesetzt hatte, dass er auch aus dem Kunstausschuss
und dem Preisgericht austreten wolle, so entstand eine nicht
* 5 *
2x6
t)ber das Bismar ckdenkmalsthem a.
geringe Verwimmg. £s liegt mir fern, die Organisation zu loben
und als preiswurdig zu riihmen; es bestehen 8 grosse Ausschiisse
mit einer Unzahl von Mitgliedem und eine Menge Unter- und
Lokalausschiisse. Der grosse Ausschuss, der wieder seine Dele-
gierten in den Entscheidungsausschuss sendet, umfasst fiber,
xooo Personen, die sich meist, wie es bei solchen Ausschiissen
herzugehen pflegt, um die Dinge nicht uberm&ssig kiimmern ;
an dieser Vielkopfigkeit krankt die Sache wie die Leitung. Es
ist aber nicht iiblich, Minnem, die sicher aufopfernd ihr Bestes
getan, die Absicht von Schiebungen vorzuwerfen. Nachdem.
die Jury einstimmig den neuen Entwurf von Hahn abgelehnt hatte,
hatte sie auch eigentlich fiber Hahn selbst das Urteil gesprochen.
Mit Trauer sahen wir die Moglichkeit entschwinden, dieses
Kunstwerk an der gewahlten Stelle emporzuwachsen zu sehen.
Das Hauptwort bei diesem Entwurf hatte der Bildhauer ge-
sprochen, und nun erschien es als ein Akt der Gerechtigkeit, dem
Bildhauer, der zweimal von der Jury auszeichnend genannt war,
wenigstens die Mbglichkeit der Mitarbeit zu geben, wie auch die
Entscheidung fallen wiirde. Bei so grossen Aufgaben, wie der
vorliegenden, die vielleicht ein ganzes Jahrzehnt in Anspruch
nehmen wiirde, ergaben sich bedeutsame plastische Aufgaben
genug, die zur Mitarbeit locken mussten. Ich kann mich sogar
nicht einmal riihmen, der Vater dieses Gedankens zu sein, der
ebenso gut und politisch klug, wie gerecht und ehrlich war ; es
war ein hervorragender, modemer Architekt, der lebhaft fiir
das Hahnsche Projekt eingetreten war, der diesen Gedanken zu-
erst ausgesprochen hatte (er hat sich selbst im Kunstausschuss
zu dieser Vaterschaft bekannt). Die Jury selbst konnte sich ja
gar keine Illusionen iiber die geringen Aussichten von Hahns
erstem Projekt mac hen,
so ist in der letzten Sitzung der Jury
der Gedanke einer solchen Kreuzung und Zusammenarbeit von
Architekt und Bildhauer offen erortert und als guter Ausweg an-
gesehen worden. Es handelt sich zunichst um Brantzky, der,
wenn Hahn fiele, die meiste Aussicht zu haben schiene, und so
habe ich zuerst an Brantzky die vertrauliche, personliche Frage
gerichtet, ob er eventuell bereit wire, mit anderen Bildhauem
(es waren die gleichen Namen Hahn und Lederer genannt) zu-
sammen zu arbeiten. Brantzky begriisste diesen Gedanken durch-
aus als einen gliicklichen Ausweg und fand nichts weniger als
etwas Krinkendes darin. Bis zuletzt standen Brantzky und Kreiss
als Favoriten wohl ungefahr gleich mit ihren Ansichten ; als sich
dann am Tage der letzten Sitzung ergab, dass Kreiss die grossere
Aussicht zu haben schien, habe ich an Hahn das folgende Tele-
gramm gerichtet :
4
217
t)ber das Bismarckdenkmalsthema
„Nach den Vorbesprechungen wegen der Entscheidung iiber
das Bismarckdenkmal scheint keine Aussicht zu sein, iiir Ihr und
Bestelmeyers Projekt eine Majorit&t zu finden. Eine Reihe von
Bewunderern Ihrer Kunst mochte fur den Fall, dass die Ent-
scheidung anders ausfdllt, fur Sie die Teilnahme an dem bild-
hauerischen Teil des zu wihlenden Projekts ausbedingen. Natiir-
lich miisste es sich hier um bedeutsame selbstandige Arbeiten
handeln. Ich bitte, diesen in Ihrem Inter esse gemachten Vor-
schlag wohlwollend zu erw&gen und mir auf die durchaus ver-
trauliche und unverbindliche personliche Anfrage bis heute
Nachmittag 5 Uhr nach Koln, Hotel Disch, zu telegraphieren, ob
Sie grundsatzlich bereit w&ren, innerhalb des Projekts von Kreiss
und Lederer, das die grosste Aussicht zu haben scheint, selbst&n-
dige plastische Arbeiten zu iibemehmen ; die n&heren Bestim-
mungen wiirden fiir den Fall, dass dieser Entwurf durchgehen
sollte, weiteren Verhandlungen vorzubehalten sein. Professor
C 1 e m e n.“
Dieses Telegramm gab sich ausdriicklich als durchaus ver-
trauliche, unverbindliche, personliche Anfrage, es sprach von
wirklich aufrichtig gemeinter Bewunderung fiir seine Kunst,
und Missverstandnisse scheinen ausgeschlossen. Wdre die Zeit
nicht so knapp gewesen, so hatte ich irgend einen der Miinchener
Freunde Hahns aus dem Preisgericht oder dem Kunstausschuss
gebeten, vertraulich bei ihm anzufragen, aber alle Entschliessun-
gen des Entscheidungsausschusses iiber Heranziehung von
Kunstlern waren hinfallig gewesen, wenn nicht eben vorher ver-
traulich festgestellt worden wire, dass die betreffenden Kiinstler
auch geneigt waren, auf etwaige Propositionen einzugehen.
Jede Moglichkeit eines Missverstdndnisses ist hier vollig aus-
geschlossen. Mein ganzes Bestreben in dieser verzwickten Aff&re
war darauf gerichtet, einen Ausgleich zu schaffen. An der
Lauterkeit dieses, von einem allzu verst&ndlichen Gerechtigkeits-
gefiihl eingegebenen Gedankens kann doch iiberhaupt kein Zweifel
sein ; es ist mir v&llig unverstandlich, was man eigentlich aus
diesem Telegramm anders folgern will. Ich habe mich an die
Stim gefasst und mich gefragt, was hatte dieses Telegramm denn
nur irgend anderes bezwecken konnen ? Seinem Wortlaut nach
war es so verbindlich wie nur moglich. Dass dem Kiinstler die
Aussicht, mit seinem Entwurf nicht angenommen zu werden,
eine schmerzliche war, war ja verstdndlich, das konnte er sich
aber schon seit der Ablehnung seines neuen Projektes sagen, und
menschlich begreiflich ist auch die Erregung des in seinen
schonsten Hoffnungen getauschten Bildhauers, aber zur ent-
riisteten Abweisung lag doch absolut keine Veranlassung vor.
2x8 Uber das Bismarckdenkmalsthema
Hatte Hahn auch nur eine Mittelsperson (er hat dann an drei
Mitglieder des Knnstausschusses telegraphiert) zu einer Aeusse-
rung autorisiert, so wiirde ein Antrag und eine Peschlussfassung
moglich gewesen sein dahingehend, mit ihm in Unterhandlungen
einzutreten ; so musste das natfirlich unterbleiben. Ich wiirde
auch heute noch glauben, dass eine solche Losung die gliicklichste
gewesen ware und noch ware. Das Brantzkysche Projekt sah
ausdrticklich zwei ganz isolierte plastische Hauptaufgaben vor,
und auch beim Kreiss’schen handelt es sich um verschiedene be-
deutsame Dinge nebeneinander, vielleicht umfangreicher, als
an dem letzten Dolmenmotiv. In Athen und Olympia, in Florenz
und Rom haben die grdssten Bildhauer ihrer Zeit zusammen an
grossen monumentalen Aufgaben gearbeitet, und neben Lederer
zu stehen, das scheint mir fur Hahn eher eineEhre als eine Schande.
Und nun schreiben Sie sehr kluge und beachtenswerte Worte
fiber den Zweck des Hahnschen Denkmals. Er hatce ein Kunst-
werk geschaffen, das geziemend und liebenswfirdig die Elisenhdhe
geschmfickt hatte, mit der ganz augenscheinlichen Absicht, den
Besucher zu erfreuen, ihm ein Stuck Kunst zu zeigen. Die Be-
ziehung zu Bismarck erscheine sehr gering, es sei nicht leicht,
zu sehen, wie der SpaziergSnger, der oben auf die Elisenhohe
komme, an Bismarck erinnert werden sollte. Das mochte ich
alles wortlich unterschreiben. Ich halte das, was Bestelmeyer
und Hahn hier im engen Zusammenschluss gefunden haben, ffir
ein hochst glfickliches und vomehmes Kunstwerk, das sich ausser-
ordentlich geschickt in die Landschaft einfugt ; es spricht nicht
sehr stark, fdllt nicht weithin auf. Handelte es sich darum, dieser
lachenden Landschaft hier einen heiteren anmutigen Schmuck
einzuffigen, so ware die Aufgabe glanzend gelost. Aber das
Thema lautet eben anders, und daran ISsst sich doch nicht
rutteln, und alle Dialektik hi 1ft nicht darfiber hinweg ; ein Bis-
marckdenkmal war gefordert, kein idealer kfinstlerischerSchmuck.
Das Preisausschreiben besagt nicht, dass hier ein architektoni-
scfaes, bildhauerisches Kunstwerk von dekorativer Wirkung auf-
gestellt werden sollte, sondern eben ein Denkmal Bismarcks, und
auch die Parallele mit der Benennung irgendwelcher Berghohen,
Strassen oder Platze nach berfihmten Mannern trafe hier nicht
zu. Handelte es sich nur darum, hier ein Stfick gute Kunst auf-
zustellen, so hatte man mit demselben Recht etwa einen stehenden
Akt von Hildebrand oder Tuaillons ,,Amazone“ hier aufstellen
kdnnen, oder man hatte hier das von Meier-Graefe so heiss er-
sehnte Mardes-Museum schaffen konnen und nur fiber die Tfir
schreiben : Zur Erinnerung an Bismarcks hundertsten Geburts-
tag dem deutschen Volke gestiftet.
Ober das Bismarckdenkmalsthema
Nun ist mit vielen klugen Reden gesagt worden, welche Be-
ziebung diese Siegfriedfigur zu Bismarck h&tte. Aber das liegt
doch alles ausserhalb des eigentlich Kunstlerischen ; ist das
nicht gerade das, was man in der grossen Kunst Literatur nennt ?
Dieser lachende Held soil uns Bismarcks Kraft und Lebenstat
als Symbol vorffihren. Wenn ein Symbol allein als Tr&ger einer
Denkmalsidee auftritt, so wird man von ihm wenigstens ver-
langen, dass es diese Idee pr&gnant zum Ausdruck bringt und un-
zweideutig, es genfigt hier nicht, dass man sich an dem schonen
und klaren Standmotiv und dem reichen Kontrapost des jugend-
lichen Helden freut. Dieser des Schwertes Scharfe priifende
J ungsiegf ried kann ffir alle Helden der Vergangenheit heran-
gezogen werden, viel besser wurde er gerade am Rhein fiir den
Freiherrn von Stein sprechen, der ein Rheinl&nder war, oder fiir
Gneisenau, oder fiir Roon. Man stelle sich diesen J ungsiegfried
einmal vor als Symbol fiir den alten Fritz, auf den er, wenn man
diesem literarischen Gedanken weiter folgen will, besser passt,
als fiir Bismarck — und man wird das Unmdgliche dieser ganzen
Gleichung empfinden. Das ist das Negative.
Nun mochte man fragen, wie es psychologisch kam, dass so
viele und so feine ernste Kiinstler fiir dieses Projekt sich erwarmt
haben. Es sprach ersichtlich eine hohe und eine ganz bestimmte
Kultur aus diesem Beschluss. Man darf sich vielleicht die Ent-
wicklung unserer ganzen Denkmalsktmst bis zum heutigen Tage
vor Augen halten. Ein Vierteljahrhundert haben wir jetzt eine
Bewegung gehabt, die immer mehr auf Massenanhaufung und
ein kiinstlerisches Philosophieren mit dem Hammer hinausging.
Otto Rieth mit seinen genialen und phantastischen Skizzen hat
hier die weitesten Perspektiven gezeigt, und Bruno Schmitz ist
unter alien denen, die diesen Weg gegangen sind, derjenige, der
am konsequentesten nach dieser neuen Form gesucht hat. Es
war die Zeit der Wald- und Felsendenkmfiler, die nicht mit dem
bescheidenen Massstabe von Menschen und menschlichen Be-
hausungen rechnen durften, sondern mit Bergeshohen und
Felsschroffen die gef&hrliche Konkurrenz eingehen mussten.
Vielleicht war das ganze Beginnen ein bedenkliches, aber es ist
zuletzt ein alter Sehnsuchtstraum einer jeden Kunstepoche, und
von der Sgyptischen Kunst fiber die Kolosse des Barock ffihrt ein
deutlich erkennbarer Weg in unsere Zeit. Die ganze Entwick-
lung hatte gezeigt, dass eine Wirkung mit solchen Massen nur
bei starker Formvereinfachung moglich sei. Es ist wohl kein
Zweifel, dass diese erste Periode der grossen Denkmalkunst sich
fiber lebt hat ; das VSlkerschlachtsdenkmal von Bruno Schmitz
wird vielleicht der grosste und geschlossenste Ausdruck dieser
320 Ober das Bismarckdenkmalsthema
. Kunstanschauung , vielleicht aber auch das letzte Beispisl dieser
Art von Massenbewaltigung sein. Und nun wird man veriolgen
konnen, wie im letzten Jahrzehnt eine leise Gegenstromung gegen
diese Gattung der Denkmalkunst eingesetzt hat. Der Ausgangs-
punkt war Miinchen mit seiner von jeher dem Schweren entgegen-
gesetzten, leichteren, man mdchte sagen; heiteren Kunst. Eine
Reaktion m u s s t e kommen, — es gab aber noch einen anderen
*Weg, und den sind norddeutsche Kiinstler gegangen : durch eine
grossere, strengere Formvereinfachung, eine herbere, knappere
Sprache der Architektur, ein starkeres Zusammenziehen des
ganzen Organismus. Fur jene Miinchener Kunst mdchte man
als Typus Theodor Fischers Bismarckdenkmal am Starnberger
See setzen , fizr diese nordiscbe etwa Wilhelm Kreis’ Burschen-
schaftsdenkmal bei Eisenach und Fritz Schumachers eben voll-
endetes Krematorium in Dresden.
Die Ausstellung der eingesandten Entwiirfe fur den grossen
Bismarckdenkmal-Wettbewerb im Friihjahr hatte erschreckend
gezeigt, dass die grosse Aufgabe, die Hdhe der Summe sehr vielen
Kiinstlern vollig den Massstab verschoben hatte, und dass sie in
das Ungeheuerliche hineingehen wollten. Das war zum Teil ein
wirkliches Bramarbasieren, mit einem Riesenbaukasten batten
hier grosse Kinder gespielt und in phantastischen Entwiirfen, in
Heiligtiimern, Gralsburgen, monumentalen Forts, Domen und
Wartturmen geschwelgt. Die ganze Konkurrenz bot trotzdem
unendlich viel starkere kun«tlerische Arbeit als etwa jenes erste
Ausschreiben fur das Kaiser- Wilhelm-Denkmal in Berlin, — aber
was uns immer mehr zur inneren Erkenntnis ward angesichts
dieses Chaos, das war, dass unsere Denkmalkunst eben in einer
Zeit der GSrung und der inneren Reinigung sich befand. Es
sind nicht wenige kluge Stimmen gewesen, die angesichts dieses
Umstandes da von abgeraten haben, jetzt an die schwierige Auf-
gabe heranzugehen, und die den Vorschlag machten, lieber ein
Jahrzehnt zu warten, bis diese Katharsis wirklich eingetreten
ware, — wenn das nur eben bei der ganzen Organisation moglich
gewesen wdre. Und nun gab es zwei Wege. Man konnte ein-
mal sagen : weil diese monumentale Kunst mit ihren grossen
Massen sich tot gelaufen hat, verldsst man diesen Weg jetzt
ganz und sucht mit den alten, leichteren Kunstmitteln auszu-
kommen, — oder man hatte das Zutrauen, dass die Entwicklung
hier nicht plotzlich abbrechen wiirde, sondern dass eben eine
Reinigung und Veredlung dieses Zweiges moglich sei und dass wohl
in dieser Richtung das Ziel lag. Die Majoritat ist diesem, ich mdchte
sagen, silddeutschen Programm gefolgt, dieMinoritit hatte das Ver-
trauen in die Entwicklungsf&higkeit des alten Denkmalgedankens.
Ober das Bismarckdenkmalsthema
Sie sagen ganz rich tig, der Hahnsche Entwurf sei keine Er-
fiillung unserer Sehnsucht, sondern nur ein Ausweichen vor dem
Laster ; aber das ist dann iiberhaupt keine Losung, sondern nur
ein Ausweg, ich will es nicht einen Verlegenheitsausweg nennen,
aber einen Ausweg der Resignation. Sicherlich ist die Hahn'sche
Kunst redlich , still und einfach und sie ist dariiber noch manches
hinaus, von einer wundervollen Reife und Abgeklartheit. Das ist
das Erbe der Hildebrandschule, in deren Schatten Hermann Hahn
mit so vielen der jungen Miinchener steht, aber seine ieine und
liebenswiirdige Kunst war vielleicht am wenigsten vorbestimmt ,
gerade diese Aufgabe zu Ibsen. Fur seinen Jungsiegfried schwebte
ihm als echtem Plastiker eine Bewegungevorstellung vor, sie
haftete so tiei in seiner Phantasie, dass sie ihm auch bei dem
Entwurf fur sein Goethe-Denkmal in Chicago fast ganz iiberein-
stimmend wieder in die tonknetenden Finger geflossen ist. Aber
niemand hat sich ohne weiteres diesen Jungsiegfried als eine
Mohumentalfigur vorstellen konnen ; doppelte Lebensgrosse, das
schien das richtige, bei einer Uebersetzung in eine Hohe von mehr
als 8 Metem wiirde man eher eine ganz strenge und im Umriss ge-
schlossene Form verlangen. Und dass das Monumentale Hahn
nicht lag, das zeigte zur Evidenz sein Entwurf ffir den Bismarck-
reiter ! Man stelle dem Hahns entzuckenden Bronzereiter gegen-
iiber (den leider noch keine grosse Stadt und kein Kunstmuseum
sich gesichert hat) , und man wird sehen, wo seine Starke liegt.
Nicht umsonst ist Hahn einer unserer ersten Medaillenkunstler ;
das ist keine Minderung seiner kiinstlerischen Bedeutung, nur
eine Fixierung der Stelle, die er einnimmt. Es ist nicht notig,
dass ein grosser Lyriker gleichzeitig die epische Sprache be-
herrscht.
Ist der Gegensatz hierzu nun aber nur die Protzenliige, das
Bramarbasieren, die Grossmannssucht ? Ich glaube, nein. Das
Motiv, das Bestelmeyer-Hahn gewahlt, das Dolmenmotiv, war ge-
wiss an sich monumental, die megalith ischen Cromlechs wirken
in der flachen Landschaft mit Uberraschender Wucht. Es ist
charakteristisch, dass mehr als ein Dutzend mal dieses Motiv
unter den Denkmalentwiirfen wiederkehrt, aber kraftiger,
massiger — nur Bestelmeyer hatte es aus diesem Wuchtigen ins
Leichte und Luftige, Munchnerische iibersetzt ; trotz des grossen,
des allzu grossen Massstabes wirkt das Ganze eben zierlich , wie eine
Pergola. Um diesen dunnen Steinkranz zu fiillen, brauchten
die Kunstler in ihren Schaubildem vier grosse, den Dolmen selbst
iiberragende und iiberschneidende Laubbbume ; da diese Zeit
zum Wachsen brauchen, die grossere Halfte des Jahres unbelaubt
stehen, dazu schwerlich auf diesem Felsplateau, von den Winden
Ober das Bismarckdenkmal sthema
gezaust, allzu gut gedeihen wurden , war das ein schwacher
Notbehelf.
Nun stelle man sich die Aufgabe noch einmal vor : dieser
Platz auf der Hohe war gegeben und in diesem Moment war nicht
mehr daran zu riitteln, und mit seiner Femsicht, der geringen
Elevation aus dem Rheintal, mit dem dahinter noch aufsteigenden
weichen Bergriicken war er sicher kein schlechter Punkt fiir ein
architektonisches Denkmal. Wenn das heroische Thema von
vielen falsch gespielt war, wenn die notwendige starke In-
strumentierung missverstanden, nur mit Milit&rmusik und Pauken
gegeben war, so spricht das doch nicht dagegen, dass eben tiber-
haupt ein monumentaler heroischer Stil hier moglich ist, der fiir
die Grosse seiner Aufgabe sich auch eine gesteigerte Kunst-
sprache suchen muss. Gerade weil wir heute die Gefahr, die
unserer Denkmalskunst droht, so deutlich sehen, scheint die
Reinigung eher moglich. Der Irrtum lag darin, dass die Begriffe
monumental und kolossal von vornherein scheinbar gleichgesetzt
waren. Es gehort zuletzt zu den Imponderabilien, iiber die sich
nicht diskutieren lasst, wenn man sagt, dass die Grosse einer Auf-
gabe eben auch eine angemessene starke Sprache fordere und dass
das Bismarckthema nicht wohl in lyrisch-theokritischem Gewande
auftreten konne. Die Eroika kann man schlecht in ein Flotensolo
transponieren. Wollte man nicht dem alten Grundirrtum dieser
Hohendenkmaler ver fallen und die Figur selbst ins Ungeheure
steiger n, so musste man der Architektur als der fuhrenden Kunst
das Wort lassen. Die etwa 500 Kiinstler, die bei dem Wettbewerbe
mitwirkten (380 Projekte, die meisten in gemeinschaftlicher
Arbeit von Architekt und Bildhauer geschaffen), haben zu
drei Vierteln die Aufgabe in diesem Sinne erfasst ; es waren unsere
besten Namen darunter : sollten diese sich nicht in das Prinzipielle
des Themas auch griindlich vertieft haben, sollten sie nicht den
Platz und seine Wirkung immer und immer wieder erprobt
haben ? Und nun bekampfen sich eben in der J ury diese beiden
Anschauungen, die eine, die bei geschlossenem, grossem Umriss
eine architektonische Losung von einer gewissen bedeutenden
Hohenentwicklung fur das Richtige und das Gegebene hielt und
damit auch eine starke Massenbewaltigung in entsprechender
For menspr ache, die andere, die in den mehr historischen
Formen und uberlieferten Massstaben das Ziel sah und nur eine
Entwicklung in die Breite fur moglich hielt. Es gehorte zuletzt
fiir die Minorit&t mehr Mut dazu, ihrem Gewissen und ihrer Pflicht
zu folgen — sehr viel bequemer wfire es, das diirfen Sie mir
glauben, fiir uns gewesen, mit der Majoritdt in Schonheit zu
sterben. Beide Anschauungen standen als Ausdruck zweier
Ober das Bismarckdenkmalsthema
grossen, kiinstlerischen Richtungen einander gleichberech tigt
gegentiber, es war ein Zufall, dass in der Jury die eine iiberwog.
Der Spruch eines jeden Preisgerichtes entsteht doch nur durch die
Addition der Einzel-Urteile von einer Reihe hervorragender
kunstlerischer Intelligenzen; sobald es sich um prinzipielle
Dinge handelt, wird es eben bei anderer Zusammensetzung auch
aul ein anderes Urteil herauskommen. Die Namen Kreiss und
Hahn tun gar nichts zur Sache — sie gaben nur Beispiele ab.
Dazu waren diese Typen vielleicht nicht ejnmal ganz in der Lage,
die beiden Prinzipien zu erschopfen : man h&tte hierzu Kreiss
gern ausgereifter, Hahn kraftvoller gewiinscht.
Das alles bestreiten Sie aber natiirlich gar nicht, sondem Sie
finden dieses eine vorliegende, jetzt gewdhlte Projekt schlecht
und ungeniigend, iibertrieben und grob. Da kann ich nur mein
Urteil neben das Ihre oder gegen das Ihre stellen. Es handelt sich
einfach um Wertbegriffe. Ich weiss nicht, ob Sie den neuen
Kreiss’schen Entwurf selbst gesehen haben. Dieses neue Projekt
ist namlich ganz wesentlich anders, als das alte ; der alte Kuppel-
bau war 55 Meter hoch, immerhin noch zo Meter niedriger als die
Befreiungshalle bei Kelheim, die von Gartner und Klenze auf
ganz ahnlichem Terrain erbaut war und die in der Landschaft
ausserordentlich wirkt. Diese ersten Projekte von Kreiss waren
im Massstab wirklich zu gewaltig, niemand hat das scheinbar
klarer eingesehen als der Kiinstler selbst. Kreiss mag, wie so viele
andere, von dem Schaffensrausch dieser scheinbar unermess-
lichen Aufgabe fortgerissen sein und sich Rodins Balzac gefiihlt
haben. Diese Kuppel ist jetzt auf 32 Meter emiedrigt, und der
Entscheidungsausschuss hat furs erste beschlossen, zunachst die
Wirkung in der Landschaft sorgsam zu er pro ben, auch durch ein
grosses Gerustmodell. Vielleicht wird die ganze Losung an-
gesichts dieser Versuche noch eine wesentlich andere. Unter alien
denen, die das Thema eines solchen Kuppelbaues variiert haben,
war aber die Losung von Kreiss die bedeutendste, die geschlossenste,
die am konsequentesten durchgefiihrte. Seine ganze Kunst
Seine ganze
geht auf mdglichste Vereinfachung der Formensprache und auf
eine schwere Strenge aus, sie ist stark, aber nicht laut. In diesem
einen halben Jahr hat dieses im Fruhjahr zuerst vorgestellte
Projekt sehr viel an innererKlarheit gewonnen, ist im Aufbau ge-
schlossener, knapper geworden, in der inneren Durchbildung von
einer reifen Schonheit, die allzu wuchtige Detailierung von einst
ist ganz geschwunden und hat einer ruhigen Aufteilung Platz
gemacht. Grossmannssucht ist alles andere, die schmuckt sich
mit falschem Bombast und ISrmt ; hier ist eher eine stille Grosse
vertreten. Dass das Projekt im Werden ist, dass der Entwurf nur
P
224
Ober das Bismarckdenkmalsthema
als Grundlage gewihlt ist, wer leugnet das? Aber gerade, dass
der Kunstler so vide Zwischenstadien vorlegte , zeigte, auf
welchem Weg der inneren Reinigung er ist ; sein Projekt ist im
hochsten Sinne entwicklungsfahig : das von Bestelmeyer-Hahn
erwies sich gar nicht als entwicklungsf&hig, es ist in sich vollendet,
— das ist sein kunstlerischer Vorzug, aber auch sein Mangel und
seine Armut. Man denke, welchen Weg das Volkersch lachtdenk-
mal durchgemacht hat von den ersten Entwiirfen bis zu der heute
ausgefiihrten Form.
Und nun fragen Sie, was man mit diesem Bau solle? Sie
sehen in ihm einen Tempel, warum nicht ? Ist denn diese Form
des arcbitektonischen Denkmals eine so vollig neue und iiber-
raschende? Ich habe schon die Befreiungshalle bei Kelheim
erwahnt, man konnte auch das Grant-Memorial in New- York
nennen, das sich 45 Meter hoch als Kuppelbau am Ufer des
Hudson erhebt, oder das Garfield- Monument in Cleveland. Und
soli man nicht an die beiden denkwiir digen grossen Konkur-
renzen um das Kaiser Wilhelm-Nationaldenkmal in Berlin und
das Volkerschlachtsdenkmal in Leipzig erinnem? Bei jener
Berliner Konkurrenz brachten gerade die interessantesten Ent-
wiirfe architektonische Losungen mit Kuppelanlagen, darunter
die damals viel bewunderte aber allzu larmende Halle von Pfann
und Rettich, die malerisch reiche Kuppel von Theodor Fischer
und den unvergleichlich schonen ernsten Tempelbau von Adolf
Hildebrand. Und bei dem Volkerschlachtsdenkmal brachten
die meisten Hauptpreistrager Kuppeln: Wilhelm Kreiss, der als
23jahriger damals den ersten Preis erhielt, wie Bruno Schmitz,
in dessen H&nde die Ausfuhrung gelegt ward. Seit den Monu-
menten von Halikarnass und Adamklissi ist das doch eine
Denkmalsform, die l&ngst ihre innere Berechtigimg erwiesen hat.
Sie nennen das Kreiss'sche Projekt Tempel, ich nenne es Ge-
dachtnishalle. Was man darin soil ? Was man vor jedem Denkmal
soil: der kiinstlerisch Empfindende soil das Kunstwerk moglichst
isoliert auf sich wirken lassen, der den Dargestellten sucht, sich
diesem voll Verehrung nahen. Es ist kein duster er, ungeheuer-
licher Bau mit einem Gotzenbild, sondern eine nach drei Seiten
offene Halle, in die von oben das Himmelslicht hineinf&llt, das
ganze eben auch eine Denkmalsform fur sich und eine jedenfalls
diesem Platz angepasste. Warum soli denn ein Dolmen, eine
Arena, eine Burg, eine Barockkirche, ein dorischer Tempel, ein
Leuchtturm, alle die Motive, die die Jury gekront hat, geeigneter
sein fur diese Stelle wie gerade diese Losung?
Die Architektur hat hier eben mitzuwirken, nicht bloss als
Stimmungstr ager , nicht bloss um den Rahmen und den Unter-
t)ber das Bismarckdenkmalsthema 225
bau zu schaffen. Und wenn ein Hundsriickbauerlein in den
Kuppelbau eintritt und bier verdutzt, wie in der Kirche, seine
Miitze zieht vor der mSchtigen Erscheinung vor ihm: ist das
nicht eine Wirkung, die man jedem grossen Denkmal gerne
wiinschen mochte ? Fur den Ledererschen Bismarck liegt vor-
derhand nur eine flotte Skizze vor, aber schon diese Skizze
zeigt eine Figur von so m&chtiger und imponierender Wirkung,
das Sitzbild ist so geschlossen in den Umrissen, mit einfachen
Mitteln gegeben, obne all das scblimme Pathos und ohne das
falsche Antikisieren, das die meisten Bismarckfiguren hatten.
Kein anderer plastischer Versuch erreichte diesen in ernster,
schlichter, eindringlicher Wirkung. Dieses Bild soil keineswegs
ungeheuerlich sein, ganz im Gegensatz zu der, falsche Mass-
stS.be suchenden Grossplastik, nur 4% Meter hoch, dabei nur
leicht stilisiert. In dieser Bismarckfigur liegt viel mehr innere
Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit als in der falschen Nibelungen-
symbolik, selbst wenn sie in so anmutigem Gewande wie Hahns
Jungsiegfried auftritt. Und zuletzt, und darauf kommt es ja
doch in letzter Linie heraus: ich und viele andere sehen in der
Kunst von Kreiss und Lederer ein Stuck ernster, grosser Kunst
und in der von Bestelmeyer-Hahn eine feine, grazile, aber fiir die
vorliegende Aufgabe schwachliche Kunst. Die Wahl gerade
dieses Entwurfes durch die MajoritcLt der Jury war zuletzt nur
ein Kompromiss, ein Ausweichen vor dem starken Wagen — ■
andere haben es die Angst vor der Kraft genannt, das iibrige ist
in Gotter, Helden und Wieland nachzulesen. Ich verstehe diese
engbriistige Imagination, wie sie Goethe nennt, ganz gut, aber
ich teile sie nicht. Sie werden mir zugeben, dass sich die Sache
auch von dieser Seite ansehen lasst. Und nun sollte man den
Kiinstlern das Wort lassen, nicht den ungenannten grossen Mengen,
nicht dem Preisgericht, . weder der Majorit&t noch der Minorit&t,
sondern den zwei Kiinstlern Kreiss und Lederer. Schaffen sie
etwas, das Bestand hat und das eine grosse, emste Denkmals-
kunst bringt, die dem Thema gerecht wird, so habe ich recht,
gelingt ihnen dieses prometheische Beginnen nicht, so haben
Sie recht. Mit aller Hochachtung Paul Clemen.
Herr Professor Clemen hat nns „den dringenden Wunsch 41 mitgeteilt, den An*
schauungen Paul Cassirers fiber den „Tempel des Bismarck", ,4n denen sehr vieles
ist, dem ich prinziplell wie in dem speziellen Falle zusthnme", seine gegenfiberzustellen.
Wir lassen inn dies, wie man sieht, recht ausffihrlich und ohnejeae Beschrfinkung
tun. Seiner Darstellung gegen fiber mfissen wir aber auch hier wiederum, gestfitzt
auf die Mitteilungen Professor Flossmanns, Wilhelm Schaefers und anderer Beteiligter
und Unterrichteter feststellen: Der erste Beschluss des Preisgericht es entschied ein-
stimmig ffir Hahn, die Entscheidung vom 26. Juni 1910 gab einstimmig dem Hahn*
sehen Werk nicht etwa nur eine „Cen8ur“ f sondern sprach sich ffir die Ausf fihrung
dieses Werkes vor alien anderen a us. Die zweite Jury beharrte mit B / a -MaJoritfit auf
ihrem Beschluss, und zwar wiederum die Ausffihrung verlangend. Und alle
Kfinstler, ausser zwei Architekten, sthnmten s o. Die Red*
226
Der moderne Volkswirt
Der moderne Volkswirt
Die Entstehung des modernen Volkswirts, den nur Leutnants
und junge Damen mit dem Bier-, Land- oder Hauswirt zu ver-
wechseln pflegen, entsprach einem dreifachen Bedurfnis.
Zum ersten machte seit geraumer Zeit die Praxis sich allzu
breit und der alteingewurzelten Theorie eine durchaus unlautere
Konkurrenz. Die rohe Praxis schrie nacb Gleichberechtigung.
Da machte die feine Theorie aus der Not eine Tugend und aus
der Praxis selber eine Theorie. Die Praxis wird uberhaupt erst
durch die Theorie zu einer richtigen Praxis und entbehrt ohne
die Theorie gleich einer Dame ohne Unterleib der Fruchtbarkeit
und der Existenzberechtigung. Die neue Theorie der Praxis
brauchte natiirlich Theoretiker der Praxis, und diese nannte
man Volkswirte, auch Nationalokonomen, meistens aber General -
sekretare.
Zweitens verdienten die verbiindeten Kaufleute und Juristen
machtig viel Geld, ohne dass sie dem ,,objektiv“ Denkenden
dazu ganz berechtigt erscheinen konnten. Denn dem Kauf-
mann fehlt die akademische Bildung, und dem Juristen ist die
Weltfremdheit die erste Standespflicht. Schon wollten diese
Stande den pietatlosen Weg der Selbsthilfe beschreiten, aber
gerade das Couleurtragen auf den Handelshochschulen und die
fahnenfliichtige Beteuerung mancher Juristen, „sie wollten
nicht mehr weltfremd sein“ , legte den Finger in die of f ene Wunde,
um die sich dann der volkswirtschaftliche Verband schlingen
konnte. Der moderne Volkswirt aber ist fur die „Objektiven“ das
Gegenteil von weltfremd, und seine akademische Bildung ist
durch den Doktortitel behordlich abgestempelt.
Das dritte war die Dekadenz der allgemeinen Bildung. Ehe
man den modernen Volkswirt erfand, gab es eigentlich gar keine
allgemeine Bildung mehr. Literatur, Kunst, Kultur u. a. waren
den Frauen als {Compensation fur den Verzicht auf fernere
Emanzipationsgeliiste zum Alleinvertrieb iiberantwortet worden.
Die alten Sprachen schaden der jugendlichen Gesundheit, und
die Wissenschaft schiitzt sich immer mehr durch haarscharfe
Spezialisierung gegen die missbrauchliche und degradierende
Verwechslung mit allgemeiner Bildung. Die Lehre von der
aexuellen Aufklarung schien eine Zeit lang den Ersatz bringen
Der moderne Volkswirt
zu wollen, erreichte jedoch ihren Zweck zu rasch, um auf die
Dauer alien Anspriichen geniigen zu kdnnen. So stand man denn,
wollte man einer gef&hrlichen Nivellierung der Stande entgehen,
geradezu vor der Aufgabe, eine neue allgemeine Bildung ins
Leben zu rufen. Den Weg wiesen Literatur und Kunst, die
durch die Entdeckung der Schonheit des HSsslichen neuer Bltite
anheimgefallen waren. Man erfand die Schwierigkeit des Selbst-
verstandlichen und das Geheimnis des Alltaglichen. Warum
verdient ein Arbeiter weniger als ein Bankier? Gibt es einen
Wert ; und warum ? Hat die Luftschif fahrt eine Zukunft ; und
warum nicht? Auf alle diese und ungezahlte andere Fragen
gibt die Volkswirtschaftslehre bzw. ihr Hohepriester, der Volks-
wirt, gelehrte und schwerverstandliche Antworten. Und von
dieser Lehre einen Hauch verspiirt zu haben, ward zur neuen
allgemeinen Bildung. Worte wie Angebot und Nachfrage,
Wohnungsenquete, Arbeitsteilung, haben mit Erfolg die ver-
alteten Schopenhauer- und Nietzsche-Zitate ersetzt, die friiher
als Passepartouts der allgemeinen Bildung verwendet wurden.
Acht Semester saugt im Durchschnitt der junge Volkswirt an
den Briisten seiner Alma mater die allgemeine Bildung. Dann
ist er so gesattigt, dass er nie mehr nachzuftillen braucht und
noch aufs reichlichste anderen davon mitteilen kann. Fragen
Sie ihn fiber „Glaube und Heimat" ! Sofort wird er die letzte
Konfessionsstatistik des Deutschen Reiches von sich geben.
ErwShnen Sie eine Novelle ! Er wird nicht unerwhhnt lassen,
dass die neueste Novelle zur Gewerbeordnung nicht lange die
neueste bleiben werde. Reden Sie liber Liszt oder Wagner !
Erziehungszoll und Kathedersozialismus wird sein Schlachtruf
sein. Der Mitwelt schenkt er, ehe er zum Generalsekret&r wird,
ein monumentales Werk liber die Frage der Einffihrung des
Bimetallisms in der Danziger Goldwasserindustrie oder die
Lage der Heimarbeiter in der Panzerplattenfabrikation. Dann
betatigt er sich den Rest seines Lebens als Praktiker mit der
Griindung neuer Interessenverbande und der Stillung sonstiger
dringender Bedfirfnisse.
Seit wir den modernen Volkswirt haben, ist es eine Lust zu
leben und eine Lust zu sterben; denn immer sind wir sicher,
einen wichtigen Bestandteil in viel hundert Statistiken zu bilden.
Am besten dienen wir der Wissenschaft, wenn wir schon im
zarten S&uglingsalter dahinfahren, natfirlich nur, wenn das eine
volkswirtschaftliche Statistik ergibt, nach der die sozialen Ver-
haltnisse unsere Eltern zur Vermehrung der Sauglingssterbli ch-
keit berechtigen, ja gewissermassen verpflichten. A. H.
Der Staat als Kftufer
Der Staat als Kaufer
h
Durch die Vergebung der grossen Lieferungen konnen die
Staatsverwaltungen auf unser gesamtes Wirtschaftsleben einen
nachhaltigeren Einfluss ausiiben, als durch die Handhabung der
meisten alten und durch Schaffung vieler neuer Gesetze. Das
trifft besonders fttr Deutschland zu, da das Reich und die Einzel-
staaten nicht nur die Anschaffungen fiir das Heer und die Marine
zu machen haben, sondern auch riesige Wirtschaftsorganisati-
onen wie die Post, die Eisenbahnen und Bergwerke, betreiben.
Merkwurdig ist nun, dass in unseren meisten Parlamenten die
Diskussionen uber die Staatsbestellungen einen sehr bescheidenen
Raum einnehmen, und noch merkwurdiger war es, dass sich
eine der bedeutendsten Debatten uber diese Frage gerade im
preussischen Herrenhaus entspann ...
Der Staat macht Bestellungen fiir die Eisenbahnen, die sich
auf Hunderte von Millionen belaufen, er vergibt sie zu teuren
Preisen, wenn die Industrie mit Arbeiten iiberhauft ist. Aber
just dann wird die Industrie nicht beschaftigt, wenn sie dringend
der Beschaftigung bedarf. In einer Zeit, in der keine Maschinen-
fabrik in Deutschland eine Lokomotive in kurzerer Zeit als zo
Monaten liefern konnte, bestellte der preussische Fiskus Loko-
motiven, was zur Folge haben musste, dass bei ruhigem Ge-
sch&ftsgang die friiher forcierten Staatsauf tr age um so empfind-
licher entbehrt wurden . . . Diesen Angriff gegen die Geschafts-
gebarung der preussischen Verwaltungen unternahm der Direktor
der Deutschen Bank von G winner in seiner Eigenschaft als
Gesetzgeber auf Lebenszeit. Seinen Ausfiihrungen trat der da-
malige preussische Finanzminister von Rheinbaben mit erregten,
aber wenig beweiskraftigen Worten entgegen.
Als Herr von Gwinner, gleichviel aus welchen Motiven, diese
Anklagen gegen die Repr&sentanten des preussischen Fiskus
richtete, waren Lieferungsvertr&ge abgelaufen, die Preussen im
Jahre 1907 mit dem Stahlwerksverband und dem Kohlen-
syndikat abgeschlossen hatte. In diesen Kontrakten hatte sich
der preussische Fiskus zu Bedingungen verstanden, aus denen
man entweder auf ein unerkl&rliches Entgegenkommen an das
Syndikatskapital oder auf eine grandiose Unf&higkeit schliessen
musste. Zur Zeit des Abschlusses bestand kaum noch ein Zweifel
daran, dass ein Konjunkturwechsel nahte, die Preise auf dem
Weltmarkte begannen abzubrockeln, immer drohendere Wolken
erschienen am Wirtschaftshimmel. Nichtsdestoweniger verstand
Der Staat als Kaufer
sich der preussische Fiskus zu Erhohungen des Grundpreises
ffir Schienen von 1x2 auf 120 Mark und fur Schwellen von 105
auf xxx Mark fur die Tonne. Nocb auffalliger wurde diese Ver-
gebung dadurch, dass sie nicht, wie bisher, auf 2 Jahre, sondern
gleich auf 3 Jahre erfolgte. Kaum waren die enormen Eisen-
quantit&ten der preussischen Bahnverwaltung an den Stahl-
werksverband und die Lieferungen nicht weniger grosser Kohlen-
mengen an das Koblensyndikat zu einem um 1,25 Mark fur die
Tonne h o h e r e n Preise vergeben, da setzte auch die Krise schon
mit Donnergepolter ein. Alle Welt konnte Eisen und Kohlen
zu billigeren Preisen beziehen als in den vorangegangenen
Jahren; nur der preussische Fiskus, als der grosste Eisen- und
Kohlenkonsument, opferte willig dem kartellierten Montan-
kapital hdhere Tribute und zwar auf Jahre hinaus.
Dutzende von Millionen Mehrbelastung nahm die preussische
Verwaltung auf sich, sie zwang aber auch die anderen Bundes-
staaten als die kleineren und wehrlosereh Konsumenten zu der
Gew&hrung hoherer Eisenpreise an den Stahlwerksverband,
dessen Preisdiktatur alsdann noch zum Schaden der weiter-
▼erarbeitenden Industrie gerade in deri kritischen Wirtschafts-
zeiten bedenklich gestiitzt wurde. Aehnliche Wirkungen hatten
die Lieferungsvertrdge mit dem rheinisch-westfalischen Kohlen-
syndikat und der oberschlesischen Kohlenkonvention. Nicht
weniger bedenklich waren und sind viele Abschlusse mit Krupp,
dem Pulverring und verschiedenen Gewehrfabriken, denen sach-
lich unbegriindet hohe Monopolpreise zugrunde liegen. Nur
selten fiihren derartige Vertr&ge zu Skandalen, wie in den Fallen
Tippelskirch-Podbielski, Woermann usw. Aber gebessert hat
auch die ausgiebige offentliche Behandlung dieser Lieferanten-
aff&ren wenig; sie hat vielleicht die unerfreuliche Nebenwirkung
gehabt, in weiten Kreisen den Glauben zu erwecken, dass jetzt
bei Staatslieferungen stets die peinlichste und sachverstdndigste
Kontrolle geiibt werde, und schandbare Uebervorteilungen des
Reiches und der Einzelstaaten zu den Unmdglichkeiten gehoren.
Wiewiist es aber nach wie vor die besonders hochmogenden Kartelle
in ihren Preisforderungen gegenfiber den Staatsverwaltungen
treiben, kann daraus ersehen werden, dass der Marinesekret&r
vor gar nicht langer Zeit dem Kohlensyndikat mit Kdufen eng-
lischer Kohle drohte, und der friihere Kolonialsekretdr Dern-
burg die Absicht ankiindigte, Schienen filr die Kolonien von
russischen Eisenwerken zu kaufen, weil die deutschen Verbftnde
Liebhaberpreise verlangten.
Der Staat in seiner Stellung als K&ufer kann nicht die Auf-
gabe haben, den grossen Industrien ubermftssig hohe Gewinne
230
Der Staat als K&ufer
zu verschaffen, die aus allgemeinen Mitteln gezahlt werden*
Damit soli aber keineswegs detn Staate gegeniiber die Forderung
der Preisdriickerei erhoben werden, wenngleich nicht verkannt
werden darf, dass bei dem grossen Konsum der fiskalischen Ver-
waltungen das Zugestandnis besonders giinstiger Kaufbedin-
gungen durchaus gerechtfertigt wire. Mit der Anerkennung dieses
Prinzips miisste den Regierungen auch die Verpflichtung auf-
erlegt werden, die Vergebung ihrer Arbeiten besser als bisher
den Kon j unkturzeiten anzupassen. Wenn bei der Vergebung
der grossen und umfassenden Arbeiten und Lieferungen durch
Reich, Staat und Gemeindeverbande systematised und konse-
quent so verfahren wurde, dass man dem Gewerbe die Arbeiten
nicht erst dann iiberweist, wenn es ihnen auf den Nlgeln
brennt, sondern man sich bemiiht, die fiskalischen Arbeiten nach
Moglichkeit dann zu vergeben, wenn unserer Gewerbetatigkeit
ein Mehr an Auftr&gen erwunscht ist, und sie dadurch nicht
zur ungesunden Erweiterung ihrer Anlagen gezwungen wird,
so diirfte damit fur unsere wirtschaftliche Entwicklung und
die Bekampfung der Krisen und Arbeitslosigkeit sehr viel
getan sein. So schrieb in ihrem letzten Jahresbericht die
Essener Handelskammer, deren sachverstandiges Urteil man in
dieser Frage wohl anerkennen darf. Dass von Regierungs-
vertretern die Moglichkeit einer verstandigen Disposition bei der
Verteilung von Staatsauftragen meist bestritten wird, beweist
nUr ein Ueberwiegen der kurzsichtigen Bureaukratie in den Ver-
waltungen der grossen staatlichen Unternehmungen, in denen
der Mangel an kaufmannischer Beweglichkeit sich von Tag zu
Tag mehr fiihlbar macht.
Nicht nur als Produzenten, sondern auch als Besteller besitzen
die Staatsverwaltungen fernerhin wirksame Mittel, die Arbeits-
und Lohnverhaltnisse entscheidend zu beeinflussen. Aller dings
machen die meisten Regierungen von dieser Machtftille zugunsten
der Arbeitnehmer leider nur einen Verschwindend geringen oder
gar keinen Gebrauch. Weder sind die Staatsbetriebe Muster-
betriebe, noch enthalten die staatlichen Lieferungskontrakte
Bedingungen zum Schutze der Angestellten und Arbeiter jener
Betriebe, die aus allgemeinen Mitteln besondere Vorteile ziehen.
Die Pflicht des Staates, die Angestellten und Arbeiter in den
von ihm beschdftigten Betrieben zu schutzen, ist um so zwingen-
der, da die Grossindustrie in vielen Fallen nicht nur die tarifliche
Festiegung der Lohn- und Arbeitsbedingungen ablehnt, sondern
allzuhaufig sich anmasst, der Arbeiterschaft und den Angestellten
Ebbe und Flut
331
schaft bet&tigt das Grossunternehmertum diese Willkur gegen-
•flber den Ingenieuren und technischen Angestellten, wobei ihm
der Staat nicht entgegentritt, sondern eher Helfersdienste leistet.
Darum erweist si ch die Vergebung von Staatsarbeiten als eine
hervorragend wichtige politische Angelegenheit, die schliess-
Uch nur mit politischen Mitteln gelost werden kann. Eine
Zuriickdr&ngung des politischen Einflusses des Grossgrund-
besitzes und der kartellierten Grossindustrie auf die gesamte
Staatsverwaltung ist die Voraussetzung einer Erfiillung der Ge-
meinpflichten des Staates auch in seiner Stellung als K&ufer.
K RITES
EBBE UND FLUT
*
Die Gezeiten der Weltmeere haben im Vttlkerleben ihren Widerschein,
was besonders fftr uns kurbrandenburgisch - preussisch - Deutsche wichtig
isL Denn (dr uns Ist dieser ewige Kreislauf in der Natur sehr bezeichnend.
Allerdings wechseln hier die Gezeiten nur in fOnfzig Jahren, nicht in
seeks Stunden ab.
J410. Um diese Zeit herrschte in der Mark Brandenburg unter den Raub-
rittem eine starke Ebbe.
1460. Wirtschaftliche Flut unter Friedrich II., zu der Friedrich I. schon
beigetragen hatte.
1510. Ebbe unter Joachim I., der nicht nur die Reformation bedrtngte,
sondern auch das Land durch Erbfolge zerstdckelte.
1560. Flut unter Joachim II.
1610. Ebbe, denn Joachim Friedrich (1598 — 1608), Johann Sigismund
(1(08 — 1619) steuerten bergab. Audi Georg Wilhelm (16x9 — 1640)
war RQckschrittler.
1660. Flut unter dem Grossen Kurftkrsten.
1710. Ebbe unter Friedrich I., der einerseits sehr prachtliebend und
verschwenderisch, andererseits recht gegen verdienst-
volle M&nner war.
1760. Flut unter dem alten Fritz, dem einzigsten wahren „Grossen“
unter den Hohenzollem.
1810. Ebbe unter Friedrich Wilhelm III. Da diese Zeit zu bekannt ist,
bedarf es keiner ErlSuterung.
i860. Flut. Kommentar unnotig, siehe die tagt&gliche Literatur.
1910. Wegen besonderer Gesetzesparagraphen bleibt der Kommentar
der Nachwelt vorbehalten.
THEODOR
239
Unglaubliches
UNGLAUBLICHES
Der Lokalanzeiger hat einen guten Artikel veroffentlicht, In dem'ge-
wisse ber liner Zustfinde scharf, mit talentierten Augen und ohne RQck-
sichten besehen werden. Natfirlich stand solches nicht auf dem Ehrenplatz, '
wo sonst A. H. fiber Geras Oper Bedeutsames und so eigenartig Aus-
gedrficktes mitteilt, sondem im „Sprechsaal“, ffir den die Redaktion jede
Verantwortung ablehnt. Und darum wollen wir einige Sfitze herausheben
und ihnen zu wfirdiger Publikation verhelfen, aus einem Brief e, In dem
„Eine mfide Arbeitersfrau und kummervolle Mutter 4 * ihr Herz fiber
ihre Tochter ausschuttet. Denn da eine andere Mutter bekanntlich auch
ein Kind hat, wird die Zuschrift aus dem Publikum zur Gesellschaftskritik.
„Ich habe drei Stfick von die Sorte M&chens, die so furchterlich grosse
Hiite aufm Koppe tragen und so enge Humpelrocke, wodrunter nicht mat
ein Anstandsrock drunter geht. Wenn mein selichter Mann noch lebte,
ja na der haute die M&chens einfachst jede ein paar runter, da.« die Hfite
mit eins weg w&ren. Aber mir lachen die Fr&uleins man bloss aus und
sagen : sei bloss stille, Mutter, wir verdienen’s uns ja, und du verstehst
nichts von die Neuzeit. Ja, das stimmt ja, aber ist es nicht doll ? Alles,
partout alles, was die Machens verdienen, fliegt ffir den Staat raus, ffir’n
Magen muss Mutter sorgen. Wenn sie auch dabei sehr bescheiden sind
in Essen und Trinken, kost’ doch genug, aber sie sind schon satt, wenn sie
sich bloss m&chtig aufputzen und in das Tanzlokal scherbeln gehen
konnen. . . . Ach, das nichtswfirdige Tanzen, das ist wohl an alles schuld.
Da bl&hn sie sich auf und zeigen ihre feine Kle idling, ihre Riesenhfite und
ekt zetera so weiter. Und wenn sie nachtens nach Hause kommen, d«nn
stellen sie sich alle drei vor den Spiegel und begucken sich und schmeissen
noch mal die Beine, wie das denn ausgesehen hat. Und das schlimmste ist,
dass unsereins von Mutter dagegen ganz machtlos ist, jetzt, wo sie meine
Haue entwachsen sind, haben sie ’n grossen Mund und lessen sich nichts
sagen. Allen und jeden Sonntag zum Tanz, und Bekanntschaften ange-
bandelt. Ist das ’n Sache ? Ach Jotte doch, die armen Manner, die die
mal kriegen. Nun, so dumm wird wohl ein anstindiger Mann nicht sein,
meine Dochter und solche andem heiraten, die nichts anderes konnen|[als
falsche Haare tragen und wie man sagt, unten nicks un oben nicks . . .“
Wer argwohnte, ein literarisches Talent h&tte sich eine Mystifikation
des ,,L.-A.‘ < erlaubt, sei belehrt : Am nftchsten Sonntag antworteten
andere Matter Weises, Naives, Mildes, Dummes . . .
\ t
DER HEILIGE KIENTOPP UND DAS OLYMPISCHE
MIRAKEL
Da man auch ffir die bessersituierten Kreise sorgen muss, denen der
Tod nicht durch Bficklinge, Fischgift und fihnliche Asylweihnachtskost
gereicht wird, gab es in einem Kientopp Gelegenheit zu Erstickungstod. ,
In der gleichen Zeit entdeckte ein Gross- Berliner Pfarrer, sicherlich in
Der heilige Kientopp und das olympische Mirakel
233
bester Absicht, die Moglichkeit, den kahlen protestantiscben Gottesdienst
durch Lichtbilder zu beleben. In der neuen evangelischen Gamisonskirche
gab es Festfeier mit bunten Kinemas. Religiose — ach, was fragt ihr ?
stimmungsvolle Gem&lde von Correggio oder auch Firle erstrahlten in
jenen lieblich-kitschigen Farben, die man sonst Idr drollige Kinderszenen ,
Ehebruchsfilms bemuht. Das ist nun einmal die Macht der modemen
Technik, und so leben wir alle Tage. Luther hatte eben keine rechte Be-
ziehung zur Religion, und der Protestantismus des 20. J ahrhunderts zieht
in den Bereich seiner Wirkung, was uralte Tradition des Katholizismus
ist : Empf&nglichkeit, ROhrung, Weihe, den gewissen gesteigerten Lebens-
rhythmus durch Farbenreize, Licht und Dunkel, KlSnge und Kostiime,
mystische Romantik und Messenregie zu erzeugen. Die stirksten und
grossten Theater eindrilcke , die man erleben kann, sind Ostermessen in
St. Peter und sevillanische Kathedralenzeremonien. Bei denen wird ja
auch getanzt. Nur — der Konkurrenzkampf ist eben hart. Und es gibt so
vide schlechte Menschen. Als Reinhardt in Hofmannsthals „Jedermann“
ein „Vater unser“ einlegte, waren nicht alle Berliner Juden sehr erfreut.
Die^Mitbiirger der anderen Konfessionen . . . kurz, die wirkliche katholische
Regieleistung wollte Reinhardt den Berlinem nicht zeigen. Wenigstens
noch nicht. Wir dtirfen nur vernehmen, was das Londoner olympische
Mirakel kostet, wieviel Tiere, Greise, Ktinstler und Heifer notwendig
waren, und dass England jubelt. Dass die Londoner Kritiker zufiieden
sind, „die Firma Baruch und Cie. ( ,Theaterchronik‘ ) den Dombau der
(sonst ftir Radrennen oder Ramschausstdlungen benutzten) , Olympia*
in eine gotische Kirche innerhalb von 14 Tagen ausgefuhrt hat und auch
die ganze Ausstattung in kilrzester Frist durch das Berliner Haus geliefert
wurde — bei der Menge der Kostiime, Waffen und Ger&te eine ansehnliche
Leistimg" (Theaterchronik) , ich will all das glauben — und mehr noch.
Dass z. B. einige Bilder der Pantomime schon waren, Reinhardt wieder
seine Energie bewiesen hat und seinen Reichtum an szenischen EinfSllen.
Aber ohne nach London gefahren zu sein, weiss ich auch, dass die Wirkung
von Dimensionen und Quantitaten verwechselt wurde mit kiinstlerischer
Leistung. Dass der Regierungsbaumeister Demburg statt wirklicher
Kirchen diesmal eine Pantomimengothik geschaffen hat, und die Londoner
wahrscheinlich noch nie so getreu nach den wissenschaftlichen Bilder-
bogen angefertigte Gew&nder gesehen haben, regt mich nicht auf. Dass
das Mirakel mit den Mitteln der romischen Kirche geschah, und jenes
Theater, das solchen Auf wand von Geld, Phantasie, Nervenkraft, Menschen
wert wire, mit all dem nichts zu tun hat, dass dieser Londoner Erfolg
Reinhardts dieLinge des Irrwegs, den er jetzt geht, nur vergrossem wird, —
die Einen wissens, die Andern geht das ganze Treiben nicht viel an ; ihn
selbst aber, um dessen Tun und Sein und Werden wir, die seine Anfflnge
mitgelebt haben, uns sorgen, sollte diese Olympia- Begeisterung aufrhttdn.
Was er da gemacht hat, gefallt den EnglSndem zwischen Christmas und
New Years Day ? Ach, Reinhardt, der Sie ja doch ein KGnstler sind
und ^"mI ein so lieber Mensch waren, Herr Professor Reinhardt,
wissen Sie, gerade Sie nicht mehr, dass nur geistloses, kunst-
f r e m d e s Theater in London Erfolg haben kann?
334
Das Theater geschaft
DAS THEATERGESCHAFT
„Das Theatergesch&ft wird von Tag zu Tag schwerer. Das Metier des
Direktors ist nicht mehr rosig, wenn es fiber haupt jemals rosig war.
Es gibt zu viel Dramatiker und zu wenig Theater. So ist die Situation ;
jetzt, wo das Jahr zu Ende geht. Kein Mensch kann bezweifeln, dass
wir wenigstens drei Theater mehr brauchen. Nur die Grundstfick-
besitzer wissen nicht, dass ein Theater ein gl&nzendes Grundstficks-
geschaft ist. Es gibt immer zehn Leute, die ein Theater haben
wollen, wenn eines frei ist ; deshalb steigt der Wert eines Theaters, je
schlechter es geht. Da die Dinge so liegen, fragt man sich, wes-
halb die Zahl der Theater eigentlich abnimmt ? Mfissen wir wirklich
warten, bis AuslSnder zu uns kommen, um diese einzige Industrie zu
kultivieren, die noch viel Chancen hat ?“ Das schreibt ein Kenner der
Theaterzustande, ein selbst viel aufgeffihrter Dramatiker. In Paris
n&mlich : Pierre Veber. In Berlin sind die Verhaltnisse natfirlich die
gleichen : wir haben viel zu wenig Bfihnen, und der Wert des Theater-
gesch&fts steigt von Sekunde zu Sekunde .... F.
Wir bitten, Mitteilungen und Beitr&ge nur:
An die Redaktion, Berlin W. io, Victoriastrasse 5, zu adressieren.
Bei umfangreicheren Zusendungen ist vorherige Anfrage notwendig.
Sprechstunde: An Werktagen, mit Ausnahme des Montags, 1 — 3 Uhr,
Berlin W., Victoriastrasse 5.
Verantwortlich fiir die Redaktion: Albert Damm, Berlin- Wilmersdorf.
Gedruckt bei Imberg & Lefson G. m. b. H. in Berlin SW. 68.
Politik
PoUtik
AUSSERUNGEN
Wir glaubten beobachtet zu haben, dafi eine ungemein grofie
Zahl jener Mlnner, deren Wirksamkeit auf des Reiches geistige
und materielle Kultur stark und fruchtbar ist, der Politik gegen*
fiber sich passiv verhalt. Wenn auch die einen ihre Stimme
abgeben, die anderen ein paar Mark herschenken filr den Wahl-
fond jener Partei, die ihr durch personliche Oder berufliche
Beziehungen noch am ntchsten steht, — weiter geht die politische
Anteilnahme in den seltensten Fallen gerade bei jenen, deren
Tun bestimmend ist fiir die deutsche Entwicklung. Aktivit&t
gar im Sinne von Initiative, eigenen Kandidaturen oder per*
sonlichem Eintreten fiir die Wahl von Vertretern, die das
Lebensgefiihl krfiftiger Individualitaten, bedeutender Kreise im
Reichstag zur Geltung bringen konnten, scheint, soweit wir sahen,
nur in sozialistisch denkenden und fiihlenden Gruppen sich zu
betatigen. Diese Erscheinung, die sicher viele mit uns erkannt
und bedauert haben, konnte eine ausreichende Erklarung nicht
in der natiirlich auch in dieser Richtung wirkenden Tatsache
finden, dafi es im letzten Reichstag keine Fraktion gab, im
nachsten wohl auch keine geben wird, deren Politik sich diese
Mdnner vollig anschliefien konnten. Denn auch ein „ Wilder**
vermag, wenn auch nicht bestimmte Beschliisse durchzusetzen,
so doch einen Ton in der Debatte anzuschlagen, der wertvoll
und selten genug in dem grofien Hause ware. Wir haben
deshalb an eine kleine Zahl von Mannem der Industrie, Finanz,
Wissenschaft, Kunst und Literatur geschrieben, gefragt, ob sie
diese Auffassung teilen; warum gerade in Deutschland diese
Zustande so pointiert sind; und was wohl eine Anderung
bringen kbnnte; schliefilich, ob von dem Ausfall der Wahlen
die Berufs- und Interessensph&re des Gefragten wesentlich be-
troffen wfirde. Die Antworten, die kamen, gaben uns Recht.
Schon dafi immer wieder gesagt wurde, „wir sollten fiberzeugt
sein, dafi die Bedeutung der angeregten Frage vollauf geschatzt
werde, ausgedehnte berufliche Arbeit hindere aber die Befassung
mit anderen Problemen als denen des Fachs“, dafi „eine un-
uberwindliche Scheu hindere, mit Meinungsaufierungen fiber
Gegenstande aufierhalb des Fachs hervor zutreten' ‘ , dafi ,,es fiir
das Publikum und die Sache als ziemlich belanglos erscheine,
was ein Professor der Philosophie fiber die politische Bet&tigung
3*6 Ein rheinischer Grofiindustrieller:
unserer fiihrenden Geister oder fiber den Ausfall der Wahlen
denke“ — schon diese Aufierungen zweier Philosophen nicht
nur von Namen und Rang, sondem auch von starker Kraft,
denen andere an die Seite zu setzen w&ren, sind bedeutsam.
Auch daB eine Reihe von Mitteilungen uns zwar Interessantes
brachten, die Schreiber aber die Nennung ihres Namens oder
gar die Verdffentlichung uberhaupt ablehnten, war eine prazise
und sinnvolle Antwort. Nun aber lassen wir hier einige Manner,
deren Werk bekannt ist, selbst sprechen.
Ein rheinischer Grossindustrieller, der nicht will, dass sein Name ge-
nannt wird, schreibt aus Mfilheim-Ruhr :
Ihr freundliches Schreiben vom 19. Dezember 1911 habe ich erhalten
und gestatte mir, Ihnen mitzuteilen , dass die Grossindustrie in Deutsch-
land noch sehr jung ist, und die ffihrenden Minner von den Aufgaben, die
sie ihnen stellt, vollst&ndig in Anspruch genommen werden. Sie hat sich
mit geringen Mitteln durch grossen Fleiss und grosse Sparsamkeit zu ihrer
heutigen Hdhe emporarbeiten mfissen. Eine spitere Generation, welche
auf sicherer Gnmdlage arbeiten wird, wird das Vers&umte nachholen mfissen.
' Im allgemeinen wird die Industrie von der Nation und der Regierung
zu wenig gewfirdigt, was man in Sonderheit auch bei fast alien offiziellen
Gelegenheiten findet. Eine Anderung erwarte ich von den Wahlen nicht.
h
Ein Mitglied der Berliner Hautefinanz, unter . dem Vorbehalt, „seine
wertlosen Aeusserungen seien nicht f Hr die Oeffentlichkeit bestimmt", dessen
Namen wir also verschweigen, wenn wir auch seine Meinung mitteilen:
„FQhrende Manner" oder „starke KrSfte", wie es in Ihrer Umfrage
heifit, mfissen an die Moglichkeit glauben, ihren Willen durchsetzen zu
koimen. Diese Gelegenheit wird markanten Personlichkeiten , zu denen
ich mich nicht im entfemtesten zShle, aus geschaftlichen und industriellen
Kreisen auch noch nicht in Jahrzehnten im Parlament gegeben sein; sie
werden um deswegen ihre Zeit ffir erreichbare Ziele verwenden. Die
einzige Partei, welche Chancen hat und welche um deswegen starke
Personlichkeiten, wenn auch nicht aus Handel und Industrie, an sich
heranziehen wird, ist leider nur die Sozialdemokratie* Die Wahlen mogen
die Konstellation der Partei verschieben, aber wie sie auch immer aus*
fallen, werden sie h i e r a n nichts findem.
Richard Dehmel:
„Mehr oder weniger passiv 11 ist in der Politik schliesslich jeder; das
l&uft ungef&hr auf dasselbe hinaus wie mehr oder weniger aktiv. Heute
aber besteht der sdtsame Zustand, dass sich grade zur hdheren
Richard Dehmel:
237
Politik die besten Manner der geistigen Berufskreise, einschliesslich der
Regienmgskreise, so passiv wie irgend moglich verhalten. Einzig der
Stab der katholischen Fanatiker spielt noch eine wirklich aktive Rolle,
vielleicht auch eine kleine Gruppe sozialistischer Enthusiasten.
Warum ? Weil aktive Politik hdchsten Ranges itnmer nur auf Grund
idealer Tendenzen gedeiht, und ffir die bleibt wenig Zeit Obrig in unsrer
ttbervolkerten Schacherwirtschaft, wo selbst die Wissenschaften und
Kfinste raehr und mehr in die Abhfingigkeit von materiellen Interessen
geraten. Auch Bismarcks Politik war gross nur so lange, als die Eini-
gung Deutschlands noch ideale Tendenz war ; nachher zerbrockelte sie
im Klassenkampf urn okonomische Praktiken. I nteressenpolitik ist
stets nur pseudoaktiv, ist opportunistisch bei aller Energie, <««« iusserst
agil sein im Augenblick, wird aber innerst passiv auf die Dauer; sie
muss ja immerfort Konjunkturen ausnutzen, d. h. sich zu Rficksichten
niedrigster Art verstehen, zu kuhhlndlerischen Kompromissen. Drum
ist ihr Ietztfibriges Ideal die rficksichtslose Machthaberei, die kein hoheres
Ziel kennt als ihren Geschiftsbetrieb. Alle Wertschltzung wird ver-
lusserlicht ; die innerlichen Bildungswerte, tun die sich die vomehmsten
Geister bemfihen, warden hdchstens noch in technischer Hinsicht ge-
sch&tzt, als luxuriose Renommierprodukte, als eine Art Reklameressort
fQr unsre famose Maschinenkultur.
Welchen besseren'Mann kann es seelisch reizen, bei solcher Politik
mitzutun ? In der Tat, er hat Besseres zu tun ; er politisiert nur grade
so viel, wie ffir seinen Beruf unerl&sslich ist. Er muss schon in seiner
eigensten Sphfire Zeit und Kraft genug aufwenden, am seinen Cha>
rakter vor der Ansteckung durch den allgemeinen Opportunismus zu
schfitzen. Er schafft im stillen Zukunftswerte ; die Gegenwart Qber-
Msst er den Leuten, die jetzt ffir wertvoll gehalten werden, den Maul-
aufreissem und Gelegenheitsmachem. Er weiss, dass sich dieser Massen*
wahnsinn der Betriebsamkeit um des Betriebes willen erst
grfindlich ausrasen muss, ehe wieder Sinn in die Politik kommen kann.
Wer sich zum Pfadfinder beruf en fflhlt, hat keine Lust, als Strassen*
, reiniger mitzuschuften ; er sagt sich, dass seine Zeit kommen wird,
auch wenner’snicht erleben sollte, und verfolgt einstweilen abseits sein Ziel.
Braucht es noch mehr „Grfinde <4 , um nachzuweisen, dass keinerlei
Wahlrummel diesen Zustand von heute auf morgen Indent kann ?
Vielleicht muss wirklich erst allenthalben das Frauenstimmrecht ein-
geffihrt werden, damit sich die Mannsleute wieder ein bisschen auf die
Menschenseele besinnen lemen. Inzwischen werden die besten Mfinner
aller Berufskreise und Volksschichten aus jeder Wahl nur neuen Anstoss
16 *
238
Pfarrer Jatho und Geh.-Rat v. Leube:
wnpfangai, sich inuner hartn&ckiger auf sich selbst zu besinnen. Wen
es heute in Deutschland schon interessiert, wie sich ein deutscher Dichter
das ▼orstellt, dass ein deutscher Mann sich im Wahlkampf auf sein
bestes Selbst besinnt, der kann es in typischer Form aus meiner Komodie
„Michel Michael" ersehen. Dehmel.
Wenn es wahr sein sollte, dass gerade die ffihrenden Manner unseres
Volkes sich der Politik gegenfiber mehr oder weniger passiv verhalten, so
dOrfte diese Erscheinung ihre Ursache darin haben, dass solche Personlich-
keiten die Unruhe und Aufregung des politischen Lebens scheuen, um ffir
ihre Forscher- und Entdecker&rbeit, fflr das stille Erw&gen und Durch-
denken der grossen Probleme auf dem Gebiete der Weltanschauung, der
Ethik und der Religion die Sanunlung des Geistes und Klarheit des Urteils
nicht zu verlieren. Eine Anderung durfte hier schwer herbeizuffihren sein,
da ein solches Verhalten in der Natur der Dinge und Menschen begrfindet ist.
Was meine Berufs- und Interessensphdre betrifft, so erwarte ich von
dem Ausfall der Wahlen keine direkte Forderung oder Schfidigung der-
selben. Mir liegen die pSdagogischen und kirchlichen Fragen besonders
am Herzen. Auf diese durch gesetzgeberische Massnahmen einzuwirken,
ist dem Reichstag nur indirekt moglich.
Koln, den 21. Dezember 1911. C. Jatho, Pfarrer.
Wird zum Teil richtig sein. Die Ursache sehe ich darin, dass die
„ftihrenden“ Manner der Wissenschaft von ihrer Lebensarbeit, der ihre
ganze Kraft gilt und die ihr ganzes Denken beherrscht, so in Anspruch ge-
nommen sind, dass sie alle davon ablenkenden BeschSftigungen von sich
fern halten und in der Regel auch fern halten mfissen, insofem sie etwas
den kulturellen Fortschritt Hebendes zustandebringen sollen.
Wurzburg. Geheimrat Dr. v. Leube.
Es scheint mir so.
Nur wenn die V olksvertr etung eine wirkliche Macht wire, w&rde man
sich mir ihr beschiftigen und ihr angehoren wollen.
Ich glaube nicht, dass schon die n&chsten Wahlen viel indern konnen.
Nicht einmal angesichts einer' liberal-sozialdemokratischen Mehrheit wird
z. B. die Zensur (da Sie whnschen, dass ich mich auf meine Inter essen-
sphfire beziehe) sich weniger dummdreist benehmen als bisher. Die Re-
gierung war ja schon bisher nicht darum reaktionix ,weil eine Mehrheit sie
dazu zwang, sondem weil s i e es sein w o 1 1 1 e. Sie hStte es 1 angst in der
Hand gehabt, durch eine gleichmassige Einteilung der Wahlkreise der bloss
fiktiven Mehrheit der Schlechtesten ein Ende zu machen. Andererseits
I-
Heinrich Mann and Georg Hermann:
239
wird die Einigkeit der Linken, angenommen sie wire da, die Wahlen
schwerlich lange uberdauem : dafttr sind die politischen Instinkte dieses
BOrgertums zu schwach und zu falsch. Man darf nicht einmal sagen:
n o c h zu schwach und zu falsch, dam es hat Zeiten gegeben, da sie
richtiger und stfirker waren. Faktoren also, die einen Umschwung be-
wirken mQssten, sehe ich nicht. Es muss wohl, damit es besser werden
kann, noch schlimmer kommen.
Heinrich Mann.
Ja. (Wir batten gefragt, ob sich die MSnner, die die stSrksten Kr&fte
unseres Volkes repr&sentieren, der Politik gegenuber mehr oder weniger
passiv verhalten . )
Die fQhrenden Minner sind durch andere eigene Arbeit zu sefar ab-
sorbiert, um zu politischer BetStigung, der wiederum mit halbem Kr&fte-
aufwand nicht gedient ist, die Zeit zu finden. Ausserdem warden sie sich
zwischen den Realien und in dem ewigen, unerfreulichen Kleinkrieg der
Politik sefar unwohl fdhlen, da zum mindesten unter der gegenw&rtigen
Konstdlation wenig Aussicht vorhanden ist, dass ihre WQnsche und Forde-
rungen in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Die MSglichkeit, mit
eigener Arbeit auf die Massen zu wirken und sie materidlen oder ideellen
Erhohungen des Daseins zuzufahren, ist ihnen durch eigene schbpferische
Taten — mag es nun der Bau eines Akkumulators, die Erf indung ones
Serums, die Schaffung von neuen, bedeutenden kUnstlerischen Werten
sdn — gegeben. Ihre Gedanken zur Umformung unseres Gef&ngnis-
wesens oder unserer Volksschule, unseres Wahlrechts z. B.? — sie warden
im besten Fall aus Gedanken nur sich in Wo r t e umformen. Und da
sie nun auf anderer Seite wirklich far die Kultur Bedeutsames schaffen
kfinnen, so ziehen sie es vor, ihre Kr&fte nicht zu verge uden. Ob sie neben-
bei far das politische Leben — da sie nur Pfadfinder, aber keine K&rrner
sind — besonders geeignet w&ren, das ist endlich noch eine Frage, deren
Beantwortung offen gelassen werden muss.
Nein. ( Ob vom Ausfall der Wahlen irgendeine wesentliche Aenderung
far die Berufs- oder Interessensph&re des Gefragten erwartet werde.) Be-
kommen wir ein Uebergewicht des linken FlQgels, so wird es auf ein
Anwachsen der Sozialdemdkratie herauskommen , die — so sehr sie ihre
ethische Berechtigung lusher erwiesen — uns doch den Beweis far ihre
Ssthetische und kultur elle Bedeutung noch schuldig geblieben ist Be*
kommen wir das nicht — wird es beim Alten bleiben. So oder so —
scheint es mir — ist far meinen Beruf nicht viel zu erwarten.
Georg Hermann.
240
Frank Wedekind :
Die allgemeine Teilnahmslosigkeit beruht meines Erachtens uberall
und durchgehends auf Gegenseitigkeit. Auch die namhaftesten Menschen
*
werden im heutigen Getriebe zu Fachleuten und bleiben bei ihren Leisten.
Die allgemeine gegenseitige Teilnahmslosigkeit scheint mir aller dings
nirgends krasser zutage zu treten als im Lager des Liberalismus, des
Freisinns und sogenannten Fortschritts. Von jedem wirklichen Fortschritte
ffihlt sick der Fortschritt schon beinahe ebenso angeekelt wie der Sozial-
demokrat von der Besch&ftigung mit sozialen Problemen. Auf der ganzen
Front wird geschustert, wdhrend jede Ausserung einer Personlichkeit
sofort schallendes Hohngelfichter erweckt, von dem sie rasch und grfindlich
erstickt wird.
Ganz anders verhilt es sich naturlich bei den Parteien, die alten an-
gestammten Besitz zu verteidigen haben, der durch den Fortschritt, nicht
etwa den deutschen, sondem meinetwegen den chinesischen dock immerhin
best&ndig bedroht ist. Von einer Teilnahmslosigkeit fiihrender Manner
bei den Konservativen oder im Zentrum habe ich nie etwas gehort. Aber
diese ftihrenden Manner meinen Sie natfirlich nicht, sondem wohl eher
diejenigen, die auch das Ausland als solche kennt und nennt. Und da
lBsst sich nun wirklich fragen : Welche Teilnahme sollen diese Manner
f Or das offentliche Leben eines Volkes hegen, das sich keine Gelegenheit
entgehen lisst, um ihnen so deutlich wie nur irgend moglich zu beweisen,
wie unendlich gleichgiiltig und wertlos sie ihm sind ?
tfbrigens mag ich Ihre Fragen drehen und wenden, wie ich will, ich
komme nicht darftber hinaus, dass es ihnen an Bestimmtheit fehlt.
Fflhrende Manner, die sich der Politik gegen&ber mehr oder weniger
passiv verhielten, waren Goethe und Ibsen. Hier handelt es sich aber um
die Gegenwart. Wollen Sie mir deshalb erlauben, Ihre drei Fragen, bevor
ich sie beantworte, durch folgende beiden zu vervollkommnen :
z. Welche Manner werden augenblicklich in Deutschland allgemein
ffir die fdhrenden gehalten ?
2. Welches sind tatsAchlich die ffihrenden Manner im heutigen
Deutschland?
Erst die Beantwortung dieser beiden Fragen, die dem „Pan“ ja nicht
schwer fallen kann, wfirde meiner Ansicht nach die Beantwortung der von
Ihnen gestellten drei Fragen gestatten.
Frank Wedekind.
Em Idyll
Em Idyll
Von LEO TOLSTOI
Einzig autorisierte Uebertragung Ton August Scholz
*
Einmal, wie sie wieder auf den berrschaftlichen Wiesen zum
Mfihen waren, gingen sie alle an den Fluss, um zu baden — die
Mftnner an dem einen und die Weiber am andern Ufer. Tischka,
der Schelm, begann, ob er gleicb verheiratet war, seinen Schaber-
nack zu treiben — schwamm zu den Weibern hinuber und
tauchte eine nach der andern.
„Was f&llt dir ein ?“ schrien sie, „lass tuns los, du Satan 1
Willst uns wohl ertr&nken ?“
Mit einemmal taucht Andr juschka neben Tischka auf, wie er
eben die Malanjka untertauchen will.
„Was tauchst du sie ?“ rief Andrjuschka, und ehe man sichs
versah, hatten sich beide an den Kdpfen.
Seither ging er Malanjka immer nach, wenn sie zum Flusse
ging, um zu baden : verbarg sich im Schilfe und sah ihr zu.
Einmal erwischten ihn die Weiber dabei und war fen ihn so, wie
er war, in den Kleidern ins Wasser. Danach war er ruhiger,
sch&mte sich wohl und ging nicht mehr auf ihre Scherze ein,
wenn sie ihn ansprach.
Das Wetter blieb w&hrend der ganzen Erntezeit ausgezeichnet,
und das Heu, das eingebracht wurde, war von der besten Sorte :
richtig wie Tee war es. Was heute gemfiht war, konnte morgen
schon in Schober gebracht werden. Als das herrschaftliche ein-
gebracht war, gingen die Bauern an ihr eigenes Heu. Sie hatten
damals ein ganz hiibsches Stuck Wiesenland, sechs Fuhren wohl
kamen auf jeden, und ausserdem schnitten sie das Gras im Walde
fiir sich, was wieder zwei Fuhren auf jeden ergab. Dann m&hten
sie fur den Herbergswirt noch die Kronswiesen, die er gepachtet
hatte, um den halben Ertrag.
Fiir die Gutsarbeit brauchte man gerade viele H&nde, und so
wurde es so eingerichtet, dass der Schwiegervater mit der Alten
aufs Gut ging, wahrend Andrjuschka, Malanjka und die Soldaten-
frau sich beim Herbergswirt vermieteten.
Die Kronswiesen lagen wohl an die neun Werst vom Dorfe
ab. Die Mfinner waren zum Teil schon am Abend vorausgegangen
Der Anfangim vorigen Heft.
Ein Idyll
und hatten das Gras abgemaht, und am Morgen folgten die
Weiber nach. Wohl an die zwanzig Sensen waren im Gange.
Die Wagen wurden angespannt, Brot, Kwas, Gurken, Griitze
wurden mitgenommen und die Kessel dazu, und nun fuhren sie
los, fur eine ganze Woche. Bis zu zehn Personen sassen auf
einem Wagen, Weiber und Minner durcheinander und sangen
und lachten wahrend der ganzen Fahrt. Andrjuschka hatte den
Schecken vorgespannt, das beste Pferd im ganzen Dorfe war es.
Die Sensen, auch die der andem, die Harken, Kessel und sonstigen
Ger&tschaften hatte er hinten im Wagen untergebracht und sass
mm neben Malanjka zwischen den Weibern, wie ein Konig neben
seiner Kbnigin. Die andem lachten, wie sie ihn so sahen. Als
die Wagen auf die Landstrasse einlekten, begannen sie um die
Wette drauflos zu jagen, und Malanjka sagte zu Andrjuschka :
, , Vorwdrts , fahr zu !“
„Nein,“ sagte er, „der Wirt hat's verboten."
„Seht doch den frommen Popen 1“ spottete sie. „Nun, fahr
schon zu 1“
„Ich bin verantwortlich , und nicht du,“ meinte er.
,,So fahr schon,** dr&ngte sie und nahm ihm die Ziigel aus
der Hand.
„Fahr doch selbst — mach, was du willst,“ sagte er, kletterte
vom Wagen herunter und ging allein zu Fuss weiter. Und was
fur ein bdses Gesicht er dabei machte f
Als die Bauern an Ort und Stelle waren, w&blten sie einen
Aeltesten aus ihrer Mitte. Der suchte eine Stelle aus, wo sie
die Pferde ausspannen konnten, und dann fesselten sie die Pferde,
nahmen die Kisten von den Wagen, umfriedeten den Lagerplatz,
hieben Aeste von den B&umen ab und bauten sich Zelte. Dann
wurde Heu dariiber gestreut, und der Lagerplatz war fertig.
Als Andrej kam, war seine erste Frage :
„Wo ist der Wallach ?“
„Woher soil ich das wissen ? Du bist doch der Knecht, du hast
dich urns Pferd zu kummem.“
„Was soil man mit Weibern erst lange reden, 14 sagte er, wandte
sich ab und ging, um die Bauern zu fragen.
Malanjka war bose auf ihn, sagte jedoch nichts. „Wart, ich
werde dir's schon heimzahlen, 1 * dachte sie.
Die Arbeit ging rasch vonstatten ; die Weiber harken das
Heu in Reihen und singen dabei, w&hrend die M&nner es zu
Haufen aufschichten. Der P&chter kommt an und scherzt mit
den Arbeitem.
„Immer geht recht ins Zeug, meine Lieben,“ spricht der Alte,
„es soil euch nicht leid tun. Wer weiss, ob das Wetter so aushfilt.**
Ein Idyll
•L
„K6nntest einen halben Eimer Branntwein zum besten geben, 44
meinten die Bauern.
„Das soli mir recht sein,“ sagte er.
Es war eine Freude, der Arbeit zuzusehen. Zur Mittagzeit
wurde eine halbe Stunde au6geruht, dann ging es wieder ans
Werk. WSren sie auf Fronarbeit gewesen, dann hatten sie das
in drei Tagen nicht geschafft, was sie hier an einem fertig brachten.
Und so vergniigt sind alle, so lustig miteinander ; nur Andr juschka
ist noch trauriger als sonst.
„Ich verlasse den Dienst,“ dachte er, „ich gehe zu meiner
Mutter zuriick oder vermiet mich anderswo. 44
Dabei sucht sein Blick immer wieder die Malanjka. Dort, wo
die Wiese ansteigt, sieht er sie bergauf gehen, sieht, wie sie mit
Fuss und Harke das Heu aufrafft, wohl zwei Ellen lang jeder
Schwaden, und er hort sie singen und lachen , dass es im Hain
widerhallt. Nicht ein einzigesmal blickt sie zu ihm hin. Immer
triiber wird ihm zumute.
„Nein, ich muss hier fort, 44 sagt er sich, „ich bin gar kein
Mensch mehr. 44 j
Es dunkelte schon, als sie zu den Wagen kamen und sich
lagerten, um ihr Abendbrot zu verzehren und ein Glas Brannt-
wein zu trinken. Nicht ein Wort sagte Malanjka zu Andrjuschka.
Die alteren Leute legten sich schlafen. Die Weiber aber hatte
der Branntwein rebellisch gemacht, und sie dachten nicht an
Schlaf, sondern tanzten einen Reigen. Der alte Pdchter war
mitten unter ihnen, noch einmal schickte er nach Branntwein.
An dr juschka war es so weh, so weh urns Herz. Alle, die er da
sah, waren im Dorfe geboren und kannten sich untereinander —
und nur er allein war ein Fremder. Alle waren, wenn nicht
reich, so doch auch nicht arm, und nur er war ein Knecht und
▼on Haus aus ein armer Schlucker. Branntwein trank er nicht
und wollte sich auch nicht daran gewdhnen. Er nahm seinen
alten Rock vom Wagen, holte ein Stuck Brot hervor und ging
abseits, auf einen Heuhaufen, der unter einer Birke stand. Das
Heu war noch nicht fertig, es war nur zusammengeharkt, damit
es ram Tau nicht nass wurde. Morgen sollte es, je nach dem
Wetter, wieder ausgebreitet werden. Es war noch griin und
feucht und duftete nach Gras.
Er warf die Kuppe des Haufens herunter und breitete seinen
Rock iiber » das duftende Lager. Dann streckte er sich
hin und war so traurig, so traurig. Dort weiter am Walde
tont das Lachen der Weiber, Kinder jagen kreischend hinter
ihnen her. Auch Malanjkas Stimme vernimmt er. Der Wind
trflgt den Rauch von den Lagerfeuern bis zu ihm heran. Der
244
Eui Idyll
Himmel ist rein und wolkenlos, die Sterne schimmern so hell.
Er liegt auf dem Rficken , schaut zu den Stemen auf und findet,
so mfide er auch ist, keinen Schlaf. Stiller und stiller wird’s dort
am Walde, und noch immer flieht ihn der Schlummer. Aus
Langerweile stimmt er ein Liedchen an. Doch — was ist das ?
Der Haufen, auf dem er liegt, scheint sich zu bewegen.
„Wer ist da ?“ ruft er.
Guck einer, die Weiber sind es.
„Was gibt’s?" fragt er unwirsch.
Er hat sie erkannt: die Soldatenfrau ist’s, die eben mit einem
Burschen rasch weiterl&uft, nach den Biischen zu. Und noch
eine ist da — die Malanjka. Ohne ein Wort zu sagen, kommt sie
an ihn heran und setzt sich auf das Heu.
„Ich bin es. Warum hast du aufgehdrt ? Sing weiter,
Andrjuscha!“
So seltsam wird ihm zumute — er mochte wohl singen,
aber die Stimme stockt ihm in der *Kehle.
„Was ist dir denn ? So sing doch!“ Sie zupfte ihn am Aermel.
„Ich hdre dieses Lied so gern. Dort bei den Bauern war's so
langweilig, ich bin von ihnen weggelaufen. Nun, sing doch!“
„Ach . . . lass mich in Ruhel“
„Was fehlt dir denn ? Hast du einen Kummer ?“
Er schweigt.
„Was sollte dir auch Kummer machen? Bei mir ist’s etwas
anderes, ich sehne mich nach meinem Manne — aber du ? Hast
satt zu essen, hast dein Obdach — was fehlt dir noch ?“
„Was soli dir dein Mann, du hast auch ohne ihn keine Lange-
weile.“
„Keiner sonst ist mir lieb, Andrjuscha. Der Gram verzehrt
mich, die Sehnsucht. Ich ertrag’s nicht mehr. Keinen liebe
ich ausser meinem Manne. Und du — warum gibst du dich
gar nicht mit den Weibern ab ?“
„Ich bin ein Fremder, ihr habt genug an euren eignen J ungen. “
„Bist du mir bose ?“
„Nein — weshalb ?“
„Bist so verlassen, armer Junge, so von keinem geliebt . . .
Bist du mir noch gram wegen des Wallachs ?“
„Nein, Malanjuschka, ich bin dir nicht gram . . . Aber lass
mich in Ruhe, was bin ich dir denn ? . . . Ich bin ein Knecht . . .
Ich sah dich frfiher nicht an . . . Und jetzt weiss ich nicht, wie
mir ist . . . Ich bin nicht mehr Herr fiber mich selbst, ganz wirr
ist mir im Kopfe . . . Wirklich, Malanjka, lass mich . . Wenn
ich Kummer habe, so ist’s, weil ich schon lange nicht zu Hause
war. .
Em Idyll
„Wie denn — du sollst wohl bald heiraten ?“
„Gott mag’s wissen.“
„Wenn ich nicht schon einen Mann h&tte, ich wiirde dich
heiraten.
Andrjuschka schwieg. Im Gebiisch liess sich ein Ger&usch
vernehmen, und ein Pfiff ertdnte. Andrjuscha lachte hell auf.
,,Sieh doch, Nastasja hat ihren Herrn gef unden! “ sagte er.
„Wirklich, ich wiirde dich heiraten", wiederholte Malanjka.
Sie stand auf, kniete neben ihm im Heu nieder, nahm sein
Gesicht zwischen beide H&nde und kiisste ihn.
„Keiner liebt mich, keiner hat mich gem," flusterte sie.
Vom Gebiisch her liess sich wieder das Gerkusch vernehmen.
Malanjka sprang auf, um zu der Soldatenfrau hinzueilen.
„Was machst du nur mit mir, Malanjka — was machst du
nur mit mir," sagte Andrjuscha und fasste sie bei der Hand.
Doch sie entriss sich ihm.
„Lass mich — es kann jemand kommen und uns sehen,"
flusterte sie.
Andrjuscha verbrachte die ganze Nacht ohne Schlaf, sie aber
war mit der Soldatenfrau zu den Wagen geeilt, hatte sich dort
mitten zwischen den andern Weibern schlafen gelegt, und war
in einen festen, tiefen Schlaf gesunken. Andrej sass lange auf
seinem Heuhaufen und lauschte in die Nacht hinein. Dann
schlich er eine ganze Weile um die Wagen herum, doch Malanjka
zeigte sich nicht. Sie schlief fest und horte nur im Traume,
wie der Hund auf der Poststation bellte, wie die H&hne krihten
und die erwachenden Vogel zu zwitschern begannen. Die Bauern,
die bei den Pferden Nachtwache hielten, kamen und wurden
durch andere abgelost. KQhler Tau sank herab und bedeckte
die Erde und das Heu.
Ganz, ganz spdt schlief Andrjuscha endlich ein, er wusste selbst
nicht, wie. Als die Sonne aufging, weckte man ihn. Malanjka war
ganz so, wie sie immer gewesen — als ob nichts geschehen w&re.
IV.
Als der Tau getrocknet und das Fruhstiick verzehrt war,
ging alles wieder an die Arbeit. Jetzt kam der lustigste Teil
der Heuernte: das Anfahren des Heues und das Aufrichten des
Schobers. Die einen waren in das WSldchen gefahren, um Stangen
zur Unterlage fur den Schober abzuhauen, die andern spannten die
Wagen an oder warfen die Heuhaufen zum Trocknen auseinander.
Es war ein schwiiler Tag, und die alten Leute meinten, es
sehe ganz danach aus, als wenn das Wetter sich findern wollte.
Ein Idyll
246
Der Tau war sparlich gefallen, der Schnupftabak in der Dose
des P&chters haftete am Deckel, die Schwalben flogen niedrig,
es lag wie ein Nebel in der Lult, und es war so heiss, dass alien
der Schweiss auf die Stihm trat.
Bis zur Mittagsstunde war der erste Scbober schon betr&chtlich
▼orgeschritten, man musste das Heu schon von den Wagen
hinaufreichen, und andere, langere Heugabeln wurden geholt,
weil die mitgebrachten zu kurz waren. Zuerst wurden die
Schober des Pachters fertig gemacht, dann wollten die Bauem
an die ihrigen gehen. Der Pachter selbst hall fleissig mit, er hatte
den Giirtel uber dem feisten Schmerbauch gelockert, und der
Schweiss troff ihm nur so vom Gesichte.
Auch die Weiber mussten beim Anfahren des Heues helfen.
Malanjka und die Soldatenfrau kommen mit einer Fuhre an,
hoch oben im Heu sitzend, und die Bauem beginnen unter lautem
Hallo zu ziehen und zu zerren, um sie xnitsamt dem Heu vom
Wagen herunterzuholen. Malanjka weiss ihnen zu entschliipfen
und springt eben noch hinunter, das eine Mai jedoch gelingt
es ihr nicht, und sie purzelt samt dem Heu unter dem Lachen
der Bauem herab. Andrjuschka reichte mit der Gabel das Heu
hinauf, und obschon seine Seite im Schatten lag, kam er doch
so in Hitze, dass er ganz ausser Atem war. Er wollte vor den
Leuten seinen Mann stehen, namentlich wenn die Weiber hin-
sahen, aber mehr als einmal geschah es doch, dass er zu viel
auf der Gabel nahm und sie nur mit Miihe emporhob, weil die
Gewbhnung und die Kraft ihm noch abging. Er schwankt auf
den Beinen, und das Heu gleitet herunter von der Gabel, und
fallt ihm auf das schweissbedeckte Gesicht, auf dem die trockenen
Grashalme festkleben. Um die Wette geht’s, wo mehr hinauf-
gereicht wird — ob huben oder driiben. Und ein LSrmen und
Lachen und Getiimmel gibt es, und das Heu duftet so kr&ftig,
ganz benommen wird der Kopf. Der Pachter aber treibt und
treibt: schon zeigen sich Wolken am Himmel. Nun, er mag nur
treiben, das ist seine Sache — die Leute tun schon genug, schopfen
ihre letzte Kraft aus. Gegen Mittag ist der erste Schober fertig,
die Kappe ist aufgesetzt, der Strick wird hinuntergelassen, und
die Manner, die oben sind, gleiten herab. Andrjuscha spttrt seine
Arme kaum vor Anstrengung. Nur ein kurzes Schlafchen wird
gemacht, dann geht's an den zweiten Schober. Rasch w&chst
er auf der aus Aesten gefiigten Unterlage empor, hbher und hdher
wird das Heu hinauf gereicht. Aber, o weh — dort ziehen wirklich
schon richtige Wolken heraufl
„Immer zugegriffen, Kinder! Einen Eimer noch geb’ ich
zum besten!**
1
Ein Idyll
247
Da gab es denn ein Hasten und Eilen. N&her and n&her
kommt die Wolke, der Wind erhebt stch. Der P&chter klettert
selbst auf den Schober hinauf, mit wehendem Barte steht er da,
und von unten her fliegen die Heubiischel ihm zu, so rasch, dass
er sich nicht zu erwehren vermag und darunter verschwindet;
kaum hat er sich herausgekrabbelt, ist er gleich wieder zuge-
schiittet.
„Immer her daniit! Immer noch mehr!“
„Nimm’s ab! Los da, ihr Weiber! Immer hoher, hdher!
Tritt’s festl Zupf es oben glatt! Ist noch viel iibrig ?“
„Noch zwei Haufen hinter dem Gebiisch.**
Die Weiber sollen sie holen, wissen aber nicht, wo sie sind.
Andrjuschka steht daneben, ganz ausser Atem vor Anstrengung,
und bebt wie Espenlaub.
„Andrjuschka, hoi' du die zwei Haufen — du weisst wo sie
sind.“
Der Wind weht starker und st&rker, die Wolke kommt immer
n&her, Hemd und Bart des P&chters flattern nur so. Andrjuschka
wischt sich den Schweiss von der Stirn und klettert auf den
Wagen.
„Eins von den Weibern muss mit!“ ruft er.
Die Soldatenfrau ist am Schober besch&ftigt, also muss
Malnjka mit. Sie besteigt den Wagen, greift in die ZU gel und
fahrt los, dass Beine und Busen nur so erzittem. Andrej sitzt
im Wagen wie ein Sack. Ueber die Hugel geht's hin, und bald sind
sie hinter den Biischen. Andrjuschka klettert vom Wagen, um
das Heu heraufzureichen, w&hrend sie oben bleibt und es abnimmt.
Kein Wort spricht sie, sondern sieht ihn immer nur lachend
an und reiht Biischel an Biischel. Da pldtzlich, wie er eben mit
der Heugabel wieder einen m&chtigen Schwaden hinaufreichen
will, schwankt er und sinkt ins Heu zuriick. Eine Schw&che be-
f&llt ihn, und er kann nicht weiter.
1 „Was ist dir ? Willst dich wohl schlafen legen ?“ fragt ihn
Malanjka.
„Ein Ende mach ich mit mir, du Seelenverderberin — das ist
mir. Dich und mich bring' ich um, du bdses Weib.“
Das Weib lacht — er aber ist so bleich wie ein Linnen. Sie
sprang vom Wagen und lief auf ihn zu.
,,Was ist denn mit dir, Andrjuschka — bist du von Sinnen ?
Haben sie dich behext ?“
Er packte sie bei den Armen.
„Qu&le mich nicht, Malanjuschka, ich ertrag's nicht langer.
Jag mich fort aus deiner N&he, sag mir, ich sollte meinem Leben
ein Ende machen — oder erbarm dich meiner, nur eiri klein
Em Idyll
wenig erbarm' dich! Ich weiss ja, dass ich deiner nicht wert bin,
dass du einen braven Bauern zum Mann hast — aber ich bin
meiner selbst nicht mehr m&chtig, ich vergehe vor Liebe zu dir,
du mein Ein und Alles!“ Und er halt sie und lasst sie nicht
; los, und die Tr&nen stiirzen ihm nur so aus den Augen.
„Nun seht dochl" sagt sie — ,,zum Heuaufladen hat er nicht
mehr Kraft genug — und hier h&ngt er sich an mich so fest
wie eine Klette. Was fallt dir denn ein? Lass mich los, oder
ich sag's zu Hause dem Wirt.
„Aber du hast mich doch selbst . . . gekiisst hast du mich
gestern, warum ?“
„Weil es mir gestern Spass machte, und heute heisst es:
an die Arbeitl Nun, so lass mich schon los und steh auf — diese
Nacht soil unser sein.“
, ,Ist's auch wahr, Malanjuschka ?“
„ Warum soli sie’s nicht sein ? Sieb, da f&ngt’s schon an zu
regnen !“
Es bleibt ihm nichts weiter iibrig, als aufzustehen, den Wagen
▼ollzuladen, den Strick dariiber festzubinden und loszufahren.
Ergeht nebenher.
„Wirst du mich auch nicht anfuhren ?“ fragt er.
„Ganz gewiss nicht, “ sagt sie und lacht.
Kaum batten sie das Heu abgeladen, als es auch schon an
zu giessen begann. Alles suchte unter den Wagen Schutz. Das
Heu des P&chters war gliicklich eingebracht, das der Bauern aber
lag noch auf der Wiese. Es war heute nichts mehr zu machen,
und alles ging nach Hause. Malanjka lief neben der Soldatenfrau
▼oraus, und Andrej blieb mit dem Wagen zuriick. Wie sie ein
Stuck Weges gegangen waren, kam Nikifor, der Liebste der
Soldatenfrau, hinter ihnen her und rief dieser zu, sie solle nicht
so eilen. Die beiden gingen nun langsam und Malanjka, die rasch
nach Hause kommen wollte, lief ganz allein weiter.
Der Regen hatte aufgehdrt, und die Sonne guckte wieder
hervor. Der Weg fiihrte durch den Wald. Malanjka hatte die
Schuhe ausgezogen, und den Rock fiber den Kopf genommen — :
das rosige Gesicht guckte heraus, und die schlanken weissen Beine
blinken nur so. Wie sie sich auch anzog: immer war und blieb
sie die hiibsche Malanjka.
Und da sandte nun der Herrgott die Strafe auf sie herab,
fiir Andrjuschka und all die an der n, die sie schon gefoppt hatte.
Der PSchter hatte das Heu an einen Grossh&ndler in der
Stadt verkauft und ihn an eben diesem Tage eingeladen, sich
den Schnitt auf der Wiese anzusehen. Malnjka kommt des Weges
daher, gerade fiber eine Lichtung, und denkt an alles Mdgliche
Ein Idyll
— an die Soldatenfrau und Nikifor, an Andrjuschka, dem sie nun
wieder entwischt ist, und der ihr eigentlich leid tut. Und plotzlich,
sieh: kommt ihr ein Reiter entgegen, in Rock und Kaftan, wie
sie die Kaufleute tragen, und aus dem Kaftan guckt ein Hemd
aus rotgemustertem Baumwollstoff hervor. Die hohen Stiefel
sind von feinem Ziegenleder, das Pferd ist ein schmuckes Tier
aus der Wolgasteppe, und schmuck ist auch der Reiter. Ein
kuhner Adler, mit einem Wort: untersetzt von Gestalt, die Wangen
frisch und rot, die Brauen schwarz wie das lockige Haar und das
BSrtchen, das kaum hervorgesprosst ist. Die kupferbeschlagene
Pfeife rauchend, kommt er dahergeritten und schwingt seine
Peitsche. Ein hiibscher Bursche, weiss der Teufel, dieser Gross-
kaufmann Matwjej Romanowitsch, und, so jung er war, im
ganzen Gouvernement als grosser Schelm bekannt. Malanjka
hatte ihn noch nie gesehen, sonst aber wussten alle, wie er mit
den Weibern umsprang, wie vortrefflich er sich darauf verstand,
krankes Vieh an den Mann zu br ingen, jemanden ein Pferd auf-
zuschwatzen, die Preise fur die Waldbestande zu driicken und
Abstandsgelder einzuheimsen. Ein durchtriebener Junge, wie
gesagt, trotz seiner zwanzig und etlicher Jahre: ein Schelm und
Schalk wie sein Vater.
„Guten Tag, liebes Tantchen — woher und wohin des Weges ?“
ruft er Malanjka zu und pflanzt sich auf seinem Gaul vor ihr hin.
„Nach Hause geh’ ich — so lass mich doch voruber!" sagt
sie und will zur Seite ausweichen.
Er wendet das Pferd und reitet hinter ihr her. Sie wirft ihm
einen Blick zu — „Das ist ein Adler, “ denkt sie, „das ist kein
Andrjuschka!"
„Wie heisst denn du, mein Schltzchen ?“
„Was geht dich das an?"
„Ich moqhte gern wissen, wer hier in der Gegend ein so hiib-
sches Weibchen hat.“
„Wem ich auch gehoren mag — fiir dich bin ich jedenfalls
nicht zu haben.“
„Fiir solch ein Weibchen wdr mir nichts zu teuer. Wie heisst
du denn ?"
„Malanjka heiss’ ich. Willst du sonst noch was wissen?'*
Er ritt ihr wieder in den Weg und schickte sich an, vom Pferde
zu steigen.
„Nimm dich in acht," sagt sie und hebt ihren Rechen hoch
empor.
„Und wie heisst du mit Vatersnamen ?“ f&hrt er unbekummert
fort.
, ,Rodiwonowna."
Ein Idyll
Er war abgestiegen und ging nun neben ihr her.
„Ach Malanjka Rodiwonowna , 44 begann er zu schmeicheln,
„du glaubst nicht, wie lieb ich dich habel So eil’ doch nicht so! 4 *
Malanjka ahnt wohl, dass ein Unheil im Anzug ist, und so
schmeichelhaft und lieb ihr seine Worte auch sind, so wird ihr
doch bang urns Herz, und sie l&uft schneller und schneller.
„Geh deinen Weg, und lass mich den meinigen gehen , 44
sagt sie. ,,Die Bauem konunen hinter uns hergefahren. Mach*,
dass du fortkommst, lass mich nach Hause gehen . 44
„Aber, Malanjka Rodiwonowna , 44 sagte er, „es ist doch so
angenehm, mit dir zusammen zu gehen ! 44 Und er zog ein rotes
Tiichlein aus der Tasche und reichte es ihr.
„Lass mich — ich will nichts von dir haben , 44 meinte sie.
„Meine Liebe, Gute, Schone , 44 sagte er, „verlange, was du
willst: du sollst es haben, aber sei mir ein bisschen gut! Ich
weiss nicht, wie mir wurde, als ich dich sah. Hab mich doch
lieb, mein hiibsches kleines Frauchen ! 44
Und weiss Gott, wie es zuging: sie, die alien anderen so
gern einen Streich spielte — sie war pldtzlich wie umgewandelt.
Sie lSsst den Kopf sinken, schweigt und weiss nicht, was sie
sagen soil. Und er nimmt sie bei der Hand.
„Meine herrliche, siisse, schone Malanjka Rodiwonowna , 44
sagte er, „ich habe dich so von Herzen lieb, dass ich ganz be-
zaubert bin . 44
Und er bittet tmd fleht, und wird dabei bleich wie ein Linnen,
wShrend seine Augen nur so gliihen.
„Malanjka Rodiwonowna , 44 bettelte er und faltet dabei die
Hande, „ich bitte dich um alles in der Welt: erhor* mich, nur
ein Stiindchen lass mich bei dir weilen — tu’s, mein Herzchen!
Gonn* meinem Leibe die Freude, ich bin ein Fremder und nehme
die Schande mit fort ! 44
Sie wusste nicht, wie ihr ward, und sagte nur: „Eben, weil
du ein Fremder bist . . . ich kenne dich doch nicht . .
Doch da nahm er sie schon in seine starken Arme und trug
sie in den Wald.
Sie sagte ihm alles, wo der Hof lag, und wo sie dort schlief,
und er zog seinen Beutel hervor , nahm einen Rubel heraus und
gab ihr den. Da schluchzte sie auf und sagte in flehendem Tone:
„Nur hab’ Erbarmen und bring mich nicht in die Schande ! 44
,,Furcht dich nicht, Herzchen , 44 sprach er, ,,nimm das hier
zum Andenken, und morgen, sobald es dunkel geworden, konun'
ich zu euch auf den Hof und pfeife . 44
Ein Idyll
*
Er geleitete sie bis an den Waldrand, bestieg sein Pferd und
ritt au! und davon.
V.
Sie kam nach Hause. Der Schwiegervater ahnt nichts, und
auch die Alte weiss von nichts — nur soviel sehen sie, dass sie
eine ganz andere geworden ist. Zu nichts hat sie Lust, und ewig
lauft sie irgendwo hin und guckt und spSht. Andrjuschka aber
war noch betriibter als sonst. Einmal kam er zu ihr auf die Tenne,
da schrie sie ihn an wie einen Dieb, ganz rasend wurde sie und
weinte sogar vor Wut.
dxx xuctit ftuicls xxujt Aduud &tifzutu]i I ^SA^&s
willst du hier, du Unversch&mter ? Nicht mal 'nen Scherz wird
man machen diirfenl" sagte sie und schluchzte laut auf, „von
dir ist mir aller Kummer gekommen!"
Andrjuschka wusste nicht, was ihre Worte zu bedeuten
hatten — er fublte nur den Schmerz, den sie ihm bereiteten.
Doch hatte er nicht die Kraft in sich, von dannen zu gehen.
Als seine Mutter ihm sagen liess, sie habe eine bessere Stelle
fur ihn, wo es mehr Lohn gdbe, meinte er, er wolle lieber umsonst
bleiben, wo er sei, als unter Fremde gehen.
Das Wetter war seit jenem Tage umgeschlagen. Es regnete
ununterbrochen, und die Bauem konnten ihre HSlfte Heu nicht
trocken bekommen. Es verfaulte auf den Wiesen, nur da und
dort konnte ein Eckchen abgeemtet werden. Vom friihen Morgen
bis in die Nacht hinein goss es in Strdmen, die Felder verwan-
delten sich in Siimpfe, und wenn die Bauem pflugen wollten,
blieb der Pflug im Moraste stecken.
Eines Tages ging Andrjuschka auf Hofarbeit, nach der Ge-
treidedarre. Wie er mfihsam und immer wieder ausgleitend
zwischen den Pfiitzen hinschreitet, sieht er, wie eine Frau in
einem Kopftuche, eine Gerte in der Hand, mit nackten Beinen
durch den Kot watet: Malanjka ist es, die die Kiihe heimholt.
Den ganzen Tag hatte es wie aus Eimern gegossen, dass die
Hirten das Vieh nicht auf dem Felde halten konnten. Plotzlich
sieht er den Grosshandler daherkommen und sich ihr nShern.
,,Heute also," fliistert er leise zu ihr, und Malanjka neigt den
Kopf.
,, Der also ist es!" denkt Andrej.
Als er nach Hause kam, ging er nicht gleich schlafen, sondern
horchte in die Nacht hinaus. Und plotzlich hort er, wie jemand
binter der Tenne pfeift. Gleich darauf l&uft Malanjka ilber den
Hof.
Andrej kommt in die Scheune und sieht einen fremden Mann.
n
Ein Idyll
„Wer bist du ?" fragt ihn dieser.
„Ich bin der Knecbt."
„Hier hast du einen Zwanziger — aber sag’ nichts.“
Was sollte er machen ? Nun war er aber nicht der einzige,
der dahinter kam — auch sonst war es im Dorfe aufgefallen,
dass der Grossh&ndler so oft kam. Es gab mancherlei Gerede,
aber was reden die Leute nicht allesl Etwas Zuverl&ssiges war
nicht in Erfahrung zu bringen.
Einstmals, zur Nachtzeit, erschien plotzlich Eustrat auf dem
Hofe. Er fragt nach seiner Frau, und man sagt ihm, sie sei auf
der Tenne. Wie er nach der Scheune kommt, ist’s ihm, als hore
er Stimmen: am ganzen Leibe erbebt er. Er guckt in den Schuppen:
ein Paar Stiefel stehen da.
„Heda, wer ist da?" fragt er und schldgt auch schon mit
dem Kniittel drauf los. Der Grossh&ndler schlupft zum Tor
hinaus und nimmt Reissaus.
Malanjka sprang heraus, im blossen Hemde, und will fliehen.
,,Wem gehoren die Stiefel?"
„Verzeih mirl"
,,Gut, komm mit in die Stube."
Er selbst trug die Stiefel nach der Stube. Er legte sich allein.
zu Bett. Am Morgen nam er den Einspannriemen und rief Ma-
lanjka in die Rumpelkammer. Andr juschka hort, wie er ihr den
Text liest, und wie er mit dem Riemen auf sie schlagt — immer
hitziger wird er, je mehr er schlagt.
„Sei nicht liederlich! Sei nicht liederlichl" ruft er.
Dann schleift er sie an den Haaren fiber den Boden. Ein Auge
schlagt er ihr ganz blau, sie aber denkt:„Was einmal im Bauche
sitzt, schl&gst du nicht mehr heraus."
Die Schwiegermutter beginnt fiir sie zu bitten, er aber schreit:
,,Wer will mich belehren, wie ich mit meiner Frau umgehen
soil ?" Da schamte sich die Mutter und bat ihn um Verzeihung.
Dann spannte er an und fuhr mit Andrej aufs Feld, um zu
pfliigen. Er fragte Andr juschka aus, doch der sagte kurz: „Ich
weiss von nichts."
Wie er am Abend heimkommt und ausgespannt hat, findet
er das Abendbrot schon bereit auf dem Tische. Malanjka fliegt
nur so, um ihn zu bedienen. Sie hat sich hubsch sauber ge-
waschen und angezogen; das Auge ist noch ganz blau, und sie
wagt nicht, ihn anzusehen. Sie assen zu Abend, und die Alten
gingen in die Kammer. Eustrat legt sich auf der Pritsche unter-
halb der Stubendecke nieder. Ganz am Rande legt er sich hin
und sagt kein Wort.
,,Losch’ den Kienspan aus," spricht er nach einer Weile.
Ein Idyll
Sie tut, wie er geheissen und denkt: „Was wird nun weiter
sein?“
Sie hort, wie er die Stiefel auszieht. „Es scheint, dass alles
wieder gut ist,“ denkt sie, wie sie am Fenster vorubergeht. Seeks
Monate lang war er nicht zu Hause gewesen, und sie hatte doch
noch gepriigelt: so lieb war sie ihm. Schweigend kroch sie zu
ihm hin und legte sich neben ihm nieder. Sie hob den Kaftan
auf, mit dem er sich zugedeckt hatte, schmiegte sich, im blossen
Hemd, wie eine Katze an ihn und begann ihn zu umarmen und
zu kiissen, dass ihm der Atem verging.
„Wirst du es noch einmal tun ?“ fragte er.
„Sprich nicht mehr davon.
Seit dieser Zeit vergass sie den GrosshSndler ganz und gar.
Die Stiefel verkaufte Eustrat fur fiinf Rubel. Lachend sagte er
oft: „H&tt' ich ihn nur erwischt, ich hatte ihm auch den Kaftan
ausgezogen.“
Andrjuschka blieb noch bis zum Furbittenfest da und ging
dann zu seiner Mutter heim. Lange noch dachte er an das zuriick,
was er auf dem Hofe erlebt hatte. Die Mutter liess sich
Land fiir ihn zuteilen und verheiratete ihn. Als der Friihling kam,
gebar Malanjka einen Sohn, der dem Grossh&ndler wie aus dem
Gesicht geschnitten war. Dieser Slteste Sohn war eben der
Petruschka, von dem wir am Anfang unserer Geschichte ge-
sprochen haben.
Pelze
Wollt ihr, die ihr glaubt, Seals, Skunks und Hermelin wachsen
bei Herpich, Salbach und Gerson etwas von den Abenteuern
hdren, die geschehen mussten, damit begehrliche Blicke durch
die gl&sernen Wande zu den weiten Pelzmanteln, S tolas, Jacken,
Boas, Muffen langen, helle und hiibsche schwarze Silhouetten
in der Hotelhalle und auf der Tauentzienstrasse allerlei Geliiste
reizen? ...
Der Pelz ist ja so ziemlich das sinnlichste Modeding. Ich
konnte einiges erz&hlen. Ich habe mir in diesen Tagen liber
die Bedeutung des Pelzhandels, seine romantische Geschichte,
die Tiere, die fur euch leben und ihre Haut lassen miissen,
viel sagen lassen von einem, der Jahrzehnte selbst im Metier
lebte, mit Eskimos und Kanadiern Haute gehandelt hat, fiinf-
unddreissig Menschenjahre mit der Praxis und Theorie des
„Rauchwarenhandels“ verbracht hat; der weiss, dass die Geschichte
dieses Betriebes so gut die Geschichte waghalsiger Erobererlust
ist wie die Darstellung wechselnder Handelsformen, dass Rassen
von Tieren und Menschen Schicksale und friihen Untergang zu
leiden haben, damit ihr euren Pelz bekommt, und wieder ein-
mal tausend Dinge vom Mittelalter bis zum Bau der Canadian-
Pacific-Bahn geschehen mufiten, damit . . .
Nun, ich glaube ja nicht, dass euch die harten, frostigen K&mpfe
der J&ger, Waldg&nger, die Preiskurven von Silberfuchs und
Grizzly-Bar auch nur so lange interessieren, als die fliichtige
Andeutung all dieser Bcziehungen Kraft hat, durch euer Gehirn
zu huschen. Jene grosse Neugier, die die starkste Quelle der
Macht sowie der tiefsten Leiden der M&nner ist, die uns ebenso
einer j ungen Dame auf dem Wege nacheilen lasst, die Biegung
ihres Leibes zu entdecken, wie sie Erkenntniskritik, kriegerische
Machtproben, Revolutionen zeugt, ist keine Frauensache. Ihr
habt recht, seid kliiger, wenn ihr wisst, wo, wie man am
besten und billigsten den vorj&hrigen Bolero in einen dies-
j&hrigen weiten, weiten Mantel verwandelt; und seid wirklich
Weiber und darum wirklich entziickend, wenn ihr ganz ernst
und fachm&nnisch in die Pelzhaare blast Oder durch das weiche
Fell wiihlt, mit alien Sinnen die Mittel eurer Macht priifend.
Ich gedenke also nicht, lehrreiche Tabellen fiber Ein- und
Emil Brass, Konsul a. D.: Aus dem Reiche der Pelze. Bd. I:
Geschichte des Rauchwarenhandels. Bd. II: Natur geschi chte der Pelz-
tiere. In einem Band mit zahlreichen Abbildungen und Tabellen.
Berlin. Im Verlag der Neuen Pelzwaren-Zeitung.
256
Pelze
Ausfuhr der Rauchwaren vorzulegen. Nur ganz eilig mochte
ich zu der sinnlichen Erinnerung der Finger an das Zobelfell
und den wunderschonen Seal ein paar Bilder geben : vom sibiri-
schen Zobel, dieser kostbarsten Marderart mit dem sonderbar
gespitzten Kopf, den r&uberischen Gewohnbeiten oder dem
guten Seehund, aus dem Zoo bekannt oder dem Varidtd, dessen
Erotik eine Notwendigkeit fur eure Jacken ist.
In der Nacht schleicht der Zobel selbst auf Raub aus, und
die Pelzleute bekommen sein Fell, indem sie einen Baum-
stamm liber den Bach legen, liber den er springen will ; er
profitiert von der improvisierten Brlicke, fdllt ins Wasser und
ist in der Schlinge. So bleibt das Fell der Kreatur, die eben
noch so klug und hdhnisch blicken konnte, von aller Ver-
letzung frei und kostet dreissig, vierzig Mark — nicht bei
Gerson allerdings. Die Gesichter, die Gestalten der grossen
und kleinen, agressiven und dumm-feigen, seltenen oder
kaninchenartig sich fortpflanzenden Tiere, die auf irgendeine
schlaue oder brutale Art gejagt, gefangen werden miissen, um
die dreihundertsechzig Millionen Mark hereinzubringen, die als
Wert der gesamten Produktion im letzten Jahre angegeben
werden, zeigen tausenderlei Varianten ; von der hohnischen Stroh-
katze zum Turan-Tiger, vom grotesken Luchs, dem australischen
Beuteltier, der dann Opossum wird, wenn er auf den B&umen
genug Pflanzen gefressen hat, bis zu all den animalischen Kurio-
sitaten, der fruchtbaren Bisamratte, dem mutig agressiven
Hermelin, von dem man es gar nicht glauben sollte, dass er so
frech und tapfer ist, und dessen reines Winterfell dem gemeinen
Wiesel so ahnlich sieht, dass fiir den Wissenden sein majest&ti-
sches Ansehen ein wenig verblasst. Die Mode allerdings braucht
dieses weisse Fell und ehrt es hoch. Sechs- bis siebenmalhundert-
tausend Stiick werden im Jahre eingeflihrt, die Preise steigen
innerhalb kurzer Zeitrdume bis aufs vierzigfache, und gar jetzt,
wo der Reiz des Farbenkontrastes stark wirkt, hat der Hermelin
eine gute oder vielmehr bose Zeit. Er wird nicht nur zur dummen
Boa, zum Ballmantel, er dient auch jetzt zur Verbr&mung der
Kleider, und — Kriemhild gab ihn einst dem Helden. „Einst“.
Natiirlich konnte man die Geschichte der Pelze immer lustig
beim Anfang der Welt beginnen und immer wieder sagen : Schon
die Nibelungen . . . Schon die alten Romer .. . Natiirlich, das histori-
sche Relief soil den isabell-farbigen Wiistenfiichsen, den Ottern
und Baren so wenig vorenthalten werden, wie der Glanz von
Theorie und Statistik. Siegfried tragt den Zobelhut, Parcival
nach neuester Art Hermelin mit griinem und schwarzem Zobel
verbramt, und in den M&rchenzeiten, da es noch keine Orden
gab, schenkte der Sultan unseren Gesandten schone Pelzrocke.
Wer fleissig in Biichern stobert, erfSbrt nicht nur, wie tausend-
f<ig die Welt ist, aus der man Haute und Felle holt, er liest.
auch von der Romantik, aus der sich der jetzt natiirlich seit
Jahrzehnten gutorganisierte Rauchwarenhandel entwickelt
hat. Abenteuemde franzdsische Edelleute, Alaska-Indianer und
Irokesen, Intrigen von Chevaliers und Kriege von Hugenotten,
Meuterei, diplomatische Konferenzen zwischen Amerika, RuBland
und Japan grosszugige Expeditionen und tolle Ausfahrten winziger
Sechzigtonnen-Schiffe, Jagd, Gewinnsucht, Kolonialpolitik, — so
bunt sind die Figuren und Elemente, aus denen Pelzgewinnung,
Aktiengesellschaftstreiben, Monopolwillkiir und Messtreiben in
Leipzig, Nishninowgorod, Alaska erstand. Vom Huronsee kbnnte
man erz&hlen, wie in den Indianerbiicheln, von der Hudson Bay,
wie in der Geographiestunde, und der RoUe der Hansa, wie in den
stenographischen Berichten der Reden des Geheimrats Rieesser . .
Die' Gestalten der Waldlaufer und Handler tauchen auf :
der typische Amerikaner hockt mit dem Notizbuch neben dem
Kanadier, weissrdckige Juden, Eskimos auf Walschiffen, B&ren-.
jSger, Kramer und Helden. Der Begriinder einer Weltfirma
von heute fuhr im Anfang des Jahrhunderts mit einem Wagen
durch die Vereinigten Staaten und tauschte Felle gegen Blech-
waren. Biber und Otter waren die Ladung, fur die Konige den
Entdeckern neuer Weltteile herzlicher dankten als ftirs patriotische
Hissen der Flagge im neuen Gebiet, Englander standen in schwe-
dischen Diensten, belgische, portugiesische Emigranten wurden
Agenten industrieller Unternehmungen, bei denen die Flinte mehr
gait als die Schreibmaschine, die Hudson-Bay-Company— der Mann,
nach dem sie heisst, ging elend im arktischen Gebiet ausgesetzt,
eingefroren zu Grunde — , diese imponierende Pelzorganisation,
hat noch heute hundertdreissig feste Forts, richtige kriegerische
Befestigungen, um jedes Jahr die dreiviertel Millionen Felle aller
Arten und Moden importieren zu konnen. Und ihr Wahlspruch,
wie der so und so vieler Manner, die diesem Leben, halb Jagdlust,
halb Spekulation verfallen sind, heisst: pro pelle cutem — fiirsFell
lass ich die Haut. Das H B C der Firma bekam aber die Deutung
Here Before Christ, weil der englisch-amerikanische Gedanke
des Imperialismus von dieser Pelzfirma so durchgehalten wurde,
dass kein Winkel der Erde entdeckt werden konnte, ohne dass
diese Herren sagten : Das ist unsere Domdne, hier waren wir
schon friiher, schon vor dem Herm Jesus Christus. Kolonial-
politik von Nomaden.
Die Regelung von Schussrecht und Schonzeit, Zucht, das
Bezahlen mit Schecks, die beruhmten Londoner Auktionen, wo
Pelze
,, lots'* (Lose, Partien) versteigert werden, das telegraphische
Verkaufen, das heute fiblich ist, all das sind ja Dinge des
spfiten 19. J ahrhunderts. Sogar im staatlichen Verkehr, auf
der Post, tauschte man noch vor funfzig Jahren Felle, gegen
Briefmarken sozusagen. Und die festen Tarife des 18. J ahr-
hunderts sind ganz lustig : Ffir einen Biber gab man ein halb
Pfund weisse, ein Viertelpfund farbige Glasperlen oder ein Pfund
Zwirn. Ffir ein Paar Hosen bekam man drei Biber, aber man
musste schon zwei Brillen, zwei Spiegel hergeben, um einen Biber
zu kriegen. Das steht im gedruckten Tarif von 1733 ; 2863 ist
eine Flinte zwanzig Biberfelle wert, ffir sechs Tonpfeifen bekommt
man ein einziges. Alles zusammen aber zahlt man ffir Pelz
soviel Pence wie man Pfunde bekommt, also mehr als das Drei-
hundertfache.
Durch Krieg oder Einfalt, Brutalit&t oder Weitsicht wurde
man reich und vernichtete ganze Tierrassen. Die Seeotter ist
vertilgt worden, das Chinchillafell musste so selten werden, dass
von zehntausend „echten“, die in den Handel kamen, nur sechs-
hundert ganz wirklich echt sind, bis man jetzt an Schonzeiten und
Aufzucht denkt. Der Emir von Buchara, von wo die Teppiche und
die Mfirchen kommen, ist jetzt einer der grossten Pelzzfichter der
Welt. Er zfichtet die Persianer jacken. Aber weniger poetische
Namen sind ffir den Pelzhandel bedeutend gewesen; die Ullmann,
Markus, Oppenheim, die auf dem Brfihl in Leipzig bei der grossen
Messe das grosseWort hatten. In Leipzig werden jetzt ffir zweihun-
dert Millionen Mark Pelze gehandelt, vor f finf zig J ahren war der
Umsatz sechs bis acht Millionen Taler. In Berlin sind an der
Modeausarbeitung alljahrlich ffinftausend Menschen beteiligt,
und vierzig Millionen Mark bringt dieser Betrieb ins Rollen. Die
Gesamtziffer der Felle zu nennen, die jetzt gejagt, verarbeitet, ge-
kauft werden, hat wenig Sinn. Vielleicht trostet’s aber jemanden,
der keinen Blaufuchs hat, wenn man ihm versichert, dass unter
den etwa siebenhunderttausend Fellen, die durch die eine Hudson-
Bay-Company im Jahre 1910 auf die Londoner Auktionen kamen,
nur siebzehn Blauffichse waren. Bisam Jaber allein, der schfibige
Bisam natfirlich 542 000, an zwanzigtausend Hermelinfelle, drei-
zehnhundert Skunks. Ueberhaupt, kaum hundert Lbwenfelle
werden im Jahr erbeutet, was helfen mir da die tausend Eis-
bfiren? . . .
Seal, Seal aber ist der Ruf des Lebens. Seal jacken oder wenigstens
Sealkragen zu falschem Sealfutter. Es ist die brave Birenrobbe der
Inselndes Stillen Ozeans, die diese Prachthergibt. Seal ist Seehunds-
fell. Und da so viele Damen und Herren von ihrem falschen Seal zu
echtem die Sehnsucht wandern lassen, schenke ich dem schnurr-
Pelze
259
bartigen, treuaugigen Tiere einige Worte, was billiger ist, als
einer jungen Frau einen Sealmantel (Fasson ware Nebensache
aber echter, echter Seal!) Und es wird mir leicht, weil die Pelz-
seehunde ein amusantes Leben fiihren — bis man sie umbringt.
Naturlich, wenn’s ihnen am besten geht. Sie wohnen zwischen
Alaska und Kamtschatka im Wasser zwischen vulkanischen
Klippen. Und wenn sie Liebe spuren, gibts Seal. Das geht so
zu. Im Friihjahr erscheinen die Seehunde, die alten, dicken
Herren, und man sucht gute Strandplatze. Im Juni kommen
dann die Weiber (der Seehunde). Und die Bullen legen sich
Harems an, unersattlich, polygam, unmoralisch, Mormonen ohne
religioses Dogma oder Schamgefuhl. Kaum dass ein Mannchen
sein Liebesgliick hat, sucht er ein neues, und die Seehundsdame,
die er eben beseligt hat, wird ihm zu neuer ,,Erotik“ genommen.
Dabei geht’s heftig zu. Zehn bis zwolf Weibchen — Menschen,
fur die Phantasie eine Quantitatsfrage ist , sagen sogar
hundert — nimmt der Don Juan Seal, weniger als drei oder
vier hat kein ordentlicher Seehund. Nur wer noch nicht, oder
nicht mehr beissen kann, liegt hoch oben auf der Klippe
und sieht ins blutige Meer hinunter. Fabelhaft aber ist, wie
rasch unsere Seals Kinder bekommen und neue amours beginnen
konnen. So geht’s vom Juni bis September. Dann schwimmen die
Mannchen von den Inseln weg. Familiengefuhl haben sie nicht,
und nach einem Monat wandern auch Weibchen und junge Seals
ins offene Meer, und alles verschlaft den Winter. So weit ware
alles gut. Im Juli aber, wenn die Felle der Generationen schon
werden, f&ngt die Jagd an. Keine erwiinschte Vorstellung fur
Sentimentale. Aber die Jacken, die Mantel, die Muffesind schon. . .
W. Fred.
Der Druckknopf
Der Druckknopf
Seridser Dialog fiber einen scherzhaften Gegenstand
Von ALFRED ALBIN
Kommilitone und Kommilitonin. Das Kolleg ist zu Ende.
S i e: Was Professor X uber Michelangelo sagte, war doch
aussergewohnlich fein. Er ist wirklich ein gl&nzender Analytiker.
E r: Ich bedaure sehr, so wenig gehort zu haben.
Sie: Sie batten geschlafen!
E r: Das nicht. Ich habe Uber die Frauenfrage nachgedacht.
Sie: Frauenfrage . . . Michelangelo . . . dachten Sie an die.
Frau in Michelangelos Leben? An Vittoria Colonna?
Er: Offengestanden, nein. Es war viel allt&glicher. Ich
habe diese Frage gleichsam von ihrer Ruckansicht geprUft. Vor
mir sass eine Kollegin, an deren Bluse ein Druckknopf aufge-
gangen war. Der dritte vom Kragen an gerechnet. An der Stelle
klaffte die Bluse etwas auseinander. Man sah zwar nichts weiter.
Ein Streifchen Weisses, bei dem man sich absolut nicht das ge-
ringste denken konnte, war alles. Aber es regte mich zu ernst-
haftem, sehr emsthaftem Nachdenken an. Professor X hatte
gut reden uber den Stil Michelangelos. E r sah den Druckknopf
nicht.
*
Sie: Sie faseln! Kann denn ein vemunftiger Mensch durch
eine so l&cherliche Bagatelle zu „emsthaftem Denken 4 4 angeregt
werden ?
E r: Ihr Zweifel verpflichtet mich, nichts zu verheimlichen. . .
Eben als Professor X von Donatello auf Michelangelo uberleitete,
fiel mir ein, ob die Dame, welcher dieser unfolgsame Knopf
zugehorte, sich wohl sehr fUr Michelangelo interessiere ? Jeden-
falls aber wUrde ihr der Druckknopf von grbsserem Interesse
sein, wenn sie wusste, dass er of fen steht. Es w£re auch unver-
antwortlich von ihrl Die Gleichung Michelangelo = ein Druck-
knopf will Ihnen l&cherlich vorkommen ? Sie ist aus dem Leben.
Denn welches Ungeheuer von Weib musste es sein, das mit Be-
wusstsein die ganze Aufmerksamkeit Michelangelo zuwenden
konnte, w&hrend es einen Druckknopf im Rucken often weiss!
Es muss also wohl Michelangelo fur eine Weile sorgenvolleren
Gedanken Platz machen. . .
26 1
Der Druckknopf
S i e: Sind Sie fertig ?
E r: Ich babe eben erst angefangen. Leider scbien ndmlich
niemand den widerspenstigen Knopf gewahr zu werden. Seine
B^sitzerin am wenigsten. Naturlich. Aber eine Kollegin h&tte
sich erbarmen kdnnen. Doch niemand half, und die Frauenfrage
blieb offen.
Sie: (stumm wtitend)
Er: Ich wiirde yorschlagen, einen Verein zur Bekampfung
heimtiickischer Druckkndpfe zu griinden. Dem Anschein nach
bestebt schon ein solcher Verein, denn Ihre Kolleginnen treten
nur paarweise auf. Aber er gibt sich leider nicht mit praktischen
Dingen ab. Die Kommilitoninnen suchen Schutz, Hilfe vor den
feindseligen Blicken der Kommilitonen. Warum so schiichtem ?
Sie sind es doch der Theorie nach so wenigl
S i e: Finden Sie es etwa nobel, wie Ihre Kollegen uns
entgegekommen ? Wo ist die beriihmte Ritterlichkeit ? Man
sagt, die Manner seien uns iiberlegen. Wer zeigt denn diese
Ueberlegenheit tatsachlich — im Benehmen? Das Betragen
der Kommilitonen gegen uns scheint mir ein geistiges Armuts-
zeugnis.
Er: Lesen Sie manchmal die Namen, welche in die Pulte
eingeschnitten sind?
Sie (wegwerfend) : Sie meinen die Hanna, Trude, Lotte,
die da in Holz verewigt werden?
Er: Welche tiefe Verehrung des Weibes! Kann Sie das
nicht etwas milder stimmen?
/Sie: Ist damit etwa der ostentative Hass Ihrer Kollegen
gegen uns entschuldigt ?
E r: Wie konnen Sie sich dariiber aufregen! Sie miissen sich
doch sagen, dass nur diejenigen Sie feindselig ansehen, die von
4 Ihnen eine reale Konkurrenz zu befiirchten haben. Also alle
die, deren Arbeit Sie auch leisten kdnnen . . .
Sie (unterbrechend) : Sie geben also zu, dass wir dieselbe
Arbeit leisten kdnnen wie Sie!
E r: Gewiss! Obgleich sich die Mehrzahl meiner Kommilitonen
mit Handen und Fiissen dagegen str&uben wird. Aber die Frage
des Druckknopfes ist damit noch nicht erledigt.
Sie: Lassen Sie den Druckknopf in Ruhe.
Er: Bemerken Sie nicht, dass ich das Betragen meiner
Kommilitonen eben dadurch entschuldigt finde, dass sich eine
exquisite Hoflichkeit dahinter verbirgt, die weit mehr ist als
Ritterlichkeit: die Anerkennung Ihrer gleichwertigen Arbeits-
kraft. Woriiber beklagen Sie sich also ? Solange Sie sich noch
um das Benehmen Ihrer Kollegen bekummern, sind Sie nicht
Hof- und Theaternachrichten
J Kommilitonin genug. Konkurrentin sein und noch Rucksicht
verlangen — das ist zuviel!
S i e: Also gibt es nur zweierlei: hofllcb sein und uns unter-
sch&tzen (ich danke fur diese Artigkeit ) , oder uns wie Kollegen,
d. h. riicksichtslos behandeln . . ?
E r: Entweder Sie wollen als Kommilitone oder Sie wollen
als Weib betrachtet sein. Beides zugleich gibt es nicht.
Sie: Demnach scheinen wir die M&nner immer noch zu
hoch einzusch&tzen. . .
Er: Es gibt doch noch eine Moglichkeit. . . Wer namlich
Ihre Arbeit, des Druckknopfes wegen, nicht zu furchten hat,
/ fur den sind Sie gar keine Kollegin, sondem das, was Sie im
Grunde sind und immer waren. Er darf also auch artig sein.
Gestatten Sie mir deshalb, dass ich Ihnen diesen unseligen
Druckknopf endlich schliesse.
Sie (erschrickt, behalt jedoch das letzte Wort): Die Frauen-
frage schliessen Sie aber damit noch nicht!
HOF- UND THEATERNACHRICHTEN
Die Kaiserin und der Kaiser waren gestem im Koniglichen Schauspiel-
haus. Man gab Hugo Lubliners kostliches Lustspiel „Die gldckliche Hand 11 .
Auch der Kronprinz ist soweit wieder hergestellt, daB er am gleichen
Abend das Theater besuchen konnte. Er sah sich im , , Kleinen Theater 1 '
Thomas kostliches Lustspiel „Lottchens Geburtstag 44 an. In Wien h&tte
der Kronprinz diesen GenuB sogar „zu Hause 44 haben kSnnen. Dort wird
— Herr von Berger ist eben ein aufrechter Mann — die Hebammen-
geschichte Thomas im k.k. Hofbuigtheater gegeben. Allerdings eine kleine
Konzession muBte der freimfltige Thoma den Komtessen des Wiener Hof-
theaters machen: Eine Hebamme darf auf dieser Biihne weder wandeln
noch auch nur genannt werden. Die Komtessen glauben an den Storch .
In Wien ist die weise Frau also eine Elevin der gynSkologischen Klinik.
Unter diesem Titel darf sezuell aufgekl&rt werden, und Thoma ist des
Lebens froh. Er hat’s besser als der Dichter, dem ein frBherer Burg-
theaterdirektor das Stuck ablehnte, weil es dieses Jahr schon ein uneheliches
Kind im Repertoire gegeben habe, und mehr wie eins ertrage das Sittlich-
keitsbudget nicht.
Im „Lokalanzeiger“ (oder war’s die „B. Z. 4< ?) aber lasen wir und
konnten dann ruhig schlafen, daB die Amme des neugeborenen Kron-
prinzenkindchens zwar eine Spreew&lderin sei, aber eine verheiratete
Frau. Ja, kSnnen denn fiber haupt unverehelichte Spreew&lderinnen sich
diesem Berufe weihen?
i
Wahlversammlung
WAH LVERSAMMLU N G
Berlin SO. Eng an den weitgespannten Bogen der Hochbahn. Ein
Schimmer vom Lichte der Zttge ffillt noch in die nhchteme Gasse. Auf der
einen Seite das weiss-schwarze Riesenplakat eines Kientopps „Der Liebe
sfindhafte Gewalt"; auf der anderen der „M&rkische Hof". Ruhe draussen,
StUle bis an die Schwelle des weiss-goldenen Saales, wo der sozialdemo-
kratische Kandidat seine letzte Rede vor dem Wahltag hfilt, die letzten
Flugbl&tter und Weisungen ausgegeben werden. Das Lokal ist voll,
m&uschenstill horchen junge und alte Manner, bleiche Madchen und weiss-
haarige Frauen dem wissenschaftlichen Anschauungsunterricht, der hier
als wirksamste Agitation gegeben wird. Nur Toren, Weltfremde erwarten,
dass eine ber liner sozialdemokratische Wahlversammlung ein Spektakel-
stfick sei, das Publikum „interessant“. Der eine hat einen Kragen urn,
der andere nicht. Die Biergliser stehen halbvoll da, die Kellner gehen
ruhiger als sonst zwischen denTischen herum, auf die Spiegel, die eine Wand
des Saales, wo sonst getanzt wird, Vereine sich vergnhgen, schmucken,
hat der Rauch der Zigarren einen Nebel geworfen, und in der kleinen
Nische, die sonst BQhne ist, steht ein rot gedeCkter Tisch, darauf
Selterwasser ; der erste Redner erz&hlt, was alle schon wissen. Er pr>
ihnen ein, was sie in dieser Woche wiederholen so lien , und sie horen zu
mit der Unbewegtheit der schon vorher Ueberzeugten. Keine Auf-
regung. Ernst, Ordnung. Einer rothaarigen, wohl fanatischeren Zu-
hdrerin ist, was der Redner von der Volkskrankheit des Hungers sagt,
von Verelendung, vom Schutzzoll, der auf jedes Laib Brot so und so viel
Pfennige legt, zu zahm. Sie trommelt nervos mit den Fingem, aber hilt
Disziplin; es ist ja 1912 — das Jahr der Taktik. Man denkt an die
Zeiten, wo jede sozialistischen Rede ErschQtterung, revolutionize
Wut, utopistische Tr&ume brachte „Wir versprechen kein Schla-
raffenland" sagt der Referent. Ein anderes System, unser Bestimmungs-
recht, billige, gute Nahrtmg, Wohnung . . . Und so weiter. Statistik. An-
schauungsunterricht . . Durchschnittserwerb. . . Durchschnittsverbrauch.
Zwei Mark 45 sind zu wenig ftkr eine FamiUe, die Wissenschaft sagt . . .
Einzig und allein die Kandidaten der Sozialdemokratie aber werden . . .
Kaum, dass ein paarmal die Stimme des Mannes laut wird, heftig nie. Und
wenn er billige Witze macht, Ucheln die Leute nur hoflich, wie wir’s in
Gesellschaft aus Anstand tun. Etikette der Parteidisziplin. Die fdhlt
man in jeder Sekunde, jedem Worte, jeder Bewegimg. Der zweite Redner
des Abends kommt, der Kandidat des Wahlkreises. Noch ein paarmal sagt
der Referent „Einzig und allein" . . . Dann kommt der Mann zu Wort,
den die Partei diesen Arbeitern, Kleinkaufleuten, Gewerkschaftlern be-
stimmt hat, fttr den sie agitieren, w&hlen, hoffen werden. Nicht weil’s
Der ist, sondera weil er der Mann ihrer Forderungen, ihrer Erwartungen,
ihr Major ist. Kein Berliner, auch keine Parteiberhhmtheit. Ein Real-
politiker des Sozialismus. Schkrfer, klflger, fiir die Fortgeschrittenen sozu-
sagen spricht nun der Kandidat Sein Ton ist hdrter, seine Art gelenkiger.
Rednerwirkung sucht er nicht Die Wirkung, die er will, ist ihm gewiss :
Organisationsarbeit, eindringliche Agitation in alien Kreisen, zu denen
der braune Bursch da, der weissb&rtige Greis dort, die st&mmige alte Frau
mit der Brille, der hartblickende Mann ganz vom, der keinen Blick vom
26 a
h
Edith
Sprecher ISsst, irgend Beziehung hat. Wiederum Tatsachen, Anschauungs-,
Elementarunterricht der Politik. Ruhe, Ordnung, Sachlichkeit. Elne
klilgere Variation des Themas : „Einzig und allein die Kandidaten der
Sozialdemokratie sind, werden, haben . . Gegner, die sich zum Wort
melden ? Zweifler, die iiberzeugt werden mQssen ? Es gibt keine. Die
Leute im weiss-goldenen Saale, wo neben der Rednertribfkne das Plakat
des Wirtes hfingt : „Achtung . . . Achtung . . . Der Apachentanz, sowie
Shnliche . . . dem Anstandsgeffihl widersprechende . . . verboten' ‘ , wissen,
was sie zu wollen haben. Wissen, was sie zu denken haben. Wissen, was
sie zu tun haben. Nur eine kleine Ueberraschung, die in der Versatnmlung
Qbrigens kaum ein Genosse merkt. Der Krieg wird nicht mehr wie einstens
ironisiert. ,,Wenn es sein mufi, wird das Volksheer ... die Brfkste den
Feinden . . .“ Der Ton ist 1912. Wahl politik? Natfirlich, aber auch
Ausdruck, Symptom derselben Stunmung, die im Kinematographentheater
den Manoverfilms, im Deutschen Theater einem OffizierstQck Rfihrung
sichert . . . Das ist doch sonderbar . . . Halb zwolf. Das Hoch auf die
Partei. Stark, sicher, aber ohne Uebertreibung. Die Leute gehen ruhig fort
Oder holen sich noch Anordn ungen fhr den Kampf, das V orpostenge fecht ,
wie der Kandidat den xs. Januar in absichtlicher, fast ironischer M&ssigung
genannt hat. Pathos . . . nein; keiner zweifelt ja, dass einzig und allein die
Kandidaten der Sozialdemokratie . . .
EDITH
Es gibt unter anderen guten Dingen einen „Reichsverband gegen die
Sozialdemokratie". Sein Progranun ist „Aufkl&rungsarbeit". Seine
T&tigkeit Schnorrerei. Und zwar recht eintragliche. Herr Harmsen,
Herr Geyer neben anderen Herren , ,von‘ ‘ verschaffen sich Empfehlungs-
schreiben von geheimen Kommerzienr&ten und anderen opferwilligen
Menschen, dann kriegen sie Geld von Industriellen und das, na das ver-
brauchen sie eben fidel und sinngem&ss. Edith ist aber ihre Muse. Edith?
man denke nicht etwa an ein spiritistisches Medium ; der Name trfigt. Sie
ist Lieblicheres, die ,, Bekanntschaft" eines der Herren von dieser hoch-
politischen Zentrale. Man erffihrt das aus einem Pack Briefe, den der
„Vorwarts‘‘ veroffentlicht hat, und in dem Herr Harmsen Herrn Geyer
gelegentlich seine Edith vorwirft. Ein undankbarer Mann, dieser Be-
k&mpfer der Sozialdemokratie. Im schonen Monat Mai schreibt er
noch in lustreicher Erinnerung: „Ich war bei unserer T rennung ganz voll
Ist E. bei Ihnen ? Herz lichen Grass an Sie und Edith." Und als
der Mai zum Juli wird — noch sind nicht eixunal die kalten Winter-
stfirme da — wirft er dem Geyer schon vor, ,,dass er seine Bekanntschaft
fiberall mitnimmt". Ja, wo soil denn die herzlich gegrusste Edith
bleiben? Und ausserdem, Geyer hat ihm doch versichert, „dass seine
Bekanntschaft ffir sich selbst sorgt" (Nicht jeder kann das von seiner. . . .)
Aber nicht genug, dass Harmsen nicht nett mit Edith ist, auch Geyer
lfisst sie gelegentlich festsitzen; weil die niederrheinischen Industriellen
nicht pUnktlich zahlen, wahrscheinlich. Das ist, bekennt Fritz Geyer
aufrichtig, zwar „von ihm nicht anders erwartet worden . . Die Sache ist
1
4
i
►
Was man alles schreiben darf 265
mir haupts&chlich Deinetwegen peinlich* ‘ . Trotzdem, er hat wahrlich
Grand, Harmsen Vorwtirfe zu machen. Ohne Vorschfisse bek&mpft man
eben die Sozialdemokratie nicht. Und wer’s nicht dazu hat, Geyer in
Politik reisen zu lassen, wer ihn habgierigen Oberkellnem ausliefert,
„dass er sich vor Angst nicht mehr ruhren kann“, dass Harmsen schreiben
muss „und kann ich Ihnen nur mit denselben Worten antworten" — der
soil eben den Landr&ten keine Konkurrenz machen. Ganz abscheulich
muss ich es aber finden, wenn Harmsen es „eine grosse Ktihnheit, die
Ihnen jedoch eignet“ nennt, dass Fritz in 14 Tagen 200 Mark kleinkriegt.
Zwei blaue Lappen. Mit der herzlich gegrilssten Edith und der Trennung,
nach der Harmsen ganz voll ist . . . Diese Staatsm&uier sind doch welt-
fremd. Man begreilt, dass Geyem die Sache schliesslich zu dumm wurde,
und er seiner Edith einen Brief an die Staatsanwaltschaft gegen Harmsen
und den Reichsverband zur beliebigen Verwendung gab. Besonders ffir
den Fall, dass er verhaftet warden sollte; Gott, man muss in dieser Welt
mit alien Moglichkeiten rechnen, und jedem kann ein Ziegelstein auf den
Kopf fallen ; fernerhin kann auch der Beste nicht in Frieden (und mit
Edith) leben, wenn es dem bSsen Nachbam nicht . . . usw. Zum guten
Ende aber: die Entrdstung des „Vorwfirts 4< kann ich nun einmal nicht
teilen. Wenn von 1705 Mark, die Stahlindustrie, Eisenbau, Henkels
und andere fOr die Zentrale hergeben, Geyer und Edith nur 510 ver-
brauchen, so ist mir das viel zu wenig!
WAS MAN ALLES SCHREIBEN UND DRUCKEN
LASSEN DARF
Zwei liebwerte und sympathische Kollegen von der Presse hatten fiber
eine Sache verschiedene Meinungen. Der Herr von der „Post 44 (ja»
gibt’s) wollte, dass Deutschland Sfidwestmarokko bekommt, und der Herr
▼on den „Grenzboten 44 (ja, die gibt’s wohl auch) glaubte 9 wir konnten auch
so leben. Das drfickte der Politiker der einen Seite so aus: „die ,, Post 4 4
und dazu noch die , ^Rheinisch- Westf&lischeZeitung^ 4 und die , ,TaglicheRund-
schau 4 seien ^Mannesmannspresse 44 , ffihren die offentliche Meinung irre,
und man werde die F&den, die von den Gebrfidem Mannesmann zu diesen
Journalist en ffihren, aufdecken 44 ; der von der anderen so : dies sei „nieder-
tr&chtige Verleumdung 4 4 , M Charakterlosigkeit 4 4 , „Niedertr&chtigkeit“ und
anderes mehr. Und da der Herr Redakteur Miiller von der „Post 44 seine
Weisheit aus einem Telephongesprdch eines Kollegen mit einem Legations-
rat im Kolonialamt hatte (ich sage immer: Man soli nicht telephonieren) ,
Herr Cleinow von den „Grenzboten 4< diese Inanspruchnahme des kaiser-
lichen Femsprechamtes nicht fur ausreichenden Grand zu der immerhin
ein wenig heftigen Kritik hielt, die in den Worten „Niedertr&chtigkeit,
Verleumdung, Charakter losigkeit 4 4 liegt, wurde geklagt. Aber der Frei-
spruch des Schdf f engerichts Berlin-Mitte gibt uns die erf reuliche Gewiss-
heit : Derlei darf man nicht nur am Caf6haustisch Oder so unter Mit-
gliedem eines standesbewussten Presseverbandes sagen ; man darf ’s
schreiben, drucken lassen. Denn der § 193 billigt bei solchem Tun dem
266
Was man alles schreiben darf
Herrn den „Schutz berechtigter Interessen" zu. Dieser § 193 istzuschon.
Und je mehr Leute freigesprochen werden, desto besser. Nur ein leiser,
banger Zweifel: Wird der Paragraph auch in Anwendung gebracht, „stets
und unentwegt", wenn der angeklagte Redakteur Sozialdemokrat, der
Klager preussischer Schutzmann ist ? Diirfen auch Dichter in Wahrung
berechtigter Interessen — ihnen sind’s kflnstlerische — so pragnant und
pointiert sich ausdrucken ? Und wie war’s mit den angeblichen Mein-
eiden der Essener Bergarbeiter ? Hatte man nicht auch fur Die, selbst
wenn sie, an Leib und Seele bedrangt, unter dem Druck des Eides Worte
gesagt hatten, die nicht sogenannte „Wahrheit“ gewesen waren, lieber
die „berechtigten Interessen" gelten lassen sollen als sie zu rund 19 Jahren
Zuchthaus verurteilen ? F.
Wir bitten, Mitteilungen und Beitrage nur:
An die Redaktion, Berlin W. 10, Victoriastrasse 5, zu adressieren.
Bei umfangreicheren Zusendungen ist ▼orherige Anfrage notwendig.
Sprechstunde: An Werktagen, mit Ausnahme des Montags, 1 — 3 Uhr,
Berlin W., Victoriastrasse 5.
Verantwortlich fur die Redaktion : Albert Damm, Berlin- Wilmersdorf.
Gedruckt bei Imberg & Lefson G. m. b. H. in Berlin SW. 68.
Verlaine
Verlaine
Von HERBERT EULENBERG
Dies Kid von ihm sei dem, der ihn am
mdsten uns Deutschen vermittelt hat,
Stefan Zweig, zugeeignet.
„Vieles hab’ ich von Dichtem geschaut und erlebt“, pflegt der
Neckar wohl bei seiner Verm&hlung mit dem Rhein zu erz&hlen :
„Den jungen Schiller sah ich an meinen Ufem herumspazieren
und seine gefiihltesten Verse in meine eilenden Fluten hinein-
phantasieren. Und Schubart, der in jedem Gedicht einen
Tyrannen abschlachtete, schrie • und schwabelte mir oft seine
Lieder vor, eh' er sie niederkratzte. Und Hdkierlin lallte an meinen
Gestaden seine zerbrochene Seele aus. Und Lenau fischte, mir
nachschauend, faustische Gedanken aus meinen Wassern. Aber
niemals hab' ich Seltsameres und Verkehrteres miterlebt, als jenes
unheilvolle Paar, das an einem Februarabend des J ahres 1875
nach der menschlichen Zeitrechnung an meinen Ufem bei
Cannstadt voriibertrottete. Der eine war ein kraftig wie ein
Ringk&mpfer aufgebauter sehniger junger Schlacks von kaum
zwanzig Jahren. Er trug einen dicken braunen Bambusstock in
der Hand, und ebenso frechund frei ein wildes verderbtes und
verlebtes Kindergesicht auf dem Hals. Er hiefi Arthur
Rimbaud und hauste seit ein paar Monaten als franzdsischer
Sprachlehrer in Stuttgart fur die Sohne eines dortigen Arztes, der
nicht die geringste Ahnung davon hatte, welch eine bunte Gift-
schlange er in diesem sich harmlos und gef&llig gebenden jungen
Franzosen beherbergte. Der andere, der zehn Jahre alter war,
aber wie ein Greis an seinem Knotenstock neben diesem gross*
artigen Gassen jungen einhertrippelte, hatte den Schlapphut von
seinem michtigen Sch&del gezogen, der von vier Flaschen
Kognak gliihte, die sie beide zusammen nach einem stunden-
langen Weingelage noch auf ihren Magen und ihren Geist ge-
gossen hatten. Der warme Tauwind spielte mit den paar Locken,
Die bekannteste Ausgabe Verlaines stammt von Francois Coppie.
Eine sehr gute Auswahl der Lieder Verlaines, die wohl kaum jemals
recht Qbersetzt werden konnen, hat im franz&sischen Urtext jdngst
der Verlag Ernst Ro wohl t inLeipzig in einem wunderschdnen
Drugplindruck hesorgt.
268
Verlaine
NWHfP
die noch an seinen Schlafen und seinem Nacken wie die letzten
Blatter an einem welken Baume hingen und kiihlte liebkosend
eine der hochsten Stimen, die je der Weltgeist unter Mens hen
aufgeturmt hatte.
Es war Paul Verlaine, der fluchbeladene Dichter, der
im Zeichen Saturns, des fahlen ungliicklichen Gestirns geborene
Sdnger des Mondes, der Wollust und der Wc hmut. Wahrend sein
wilder grosser grober Kamerad oft auf den Boden schaut und die
Wege wahlt, die sie ablaufen, starrt er mit seinen kleinen unendlich
traurigen Augen, die immer tiefer in den Schadel gerutscht sind,
je m&chtiger die Stirne sich gewolbt hat, unfest und schwankend
in die Luft vor sich, fast wie ein Blinder, der sich vertrauensvoll
yon einem geriebenen Kerl durchs Leben ftihren lasst. Sie
redeten in einem ganz ungewohnlichen Franzosisch heftig auf
einander los. Sie schienen sich jene zarte geschliffene Sprache
wie Kannibalen, die sie erlernt haben, plump und ungefugt zu-
recht gelegt zu haben. Vielleicht taten sie es, um dieser alten,
abgerittenen und allzu dressierten Sprache neue Reize beizu-
bringen. Vielleicht verriet sich darin nur ihre gemeinsame
Herkunft a us den schwerfalligen ostlichen und fast noch
deutschen Provinzen Frankreichs. Denn der eine, Rimbaud, war
in Charleville bei Sedan, ein paar Stunden yon der belgischen
Grenze geboren. Und Verlaine stammte aus Metz, der nun ver*
lorenen Stadt, in der jetzt die Kinder Deutsch lemen mussten und
mit Lessing statt mit Lafontaine aufwuchsen. Folgendermassen
aber war die letzte kauderwelsche Unterredung der beiden
modernen franzosischen Poeten, die sie am stillen Ufer des
schwabisch sprechenden Neckars miteinander fiihrten :
„So hore doch zu !“ hub Verlaine an : ,,Wir wollen uns in
Jesus Christus wieder lie ben 1 Wie die Kinder wollen wir vor ihm
werden , die er so sehr geliebt hat ! Hand in Hand lass uns wieder
durch die Lander ziehen und ihn und seine Giite und Liebe
preisen I Wie seine Werber wollen wir ihm Seelen in den grossen
St&dten sammeln. Wie einWaffenruf zu denhimmlischen Schlacht-
feldem, wo blaue und bleiche Engel auf Schildern getragen
werden, sollen unsre Lieder gleich den zerrissenen Klangen einer
Zinke aus uns stromen. Und Gott wird uns segnen mit dem Oel
und dem Feuer, mit dem er die Propheten und die Apostel erfiillt
hat, und wir werden die Wonne der Auserwahlten geniessen ! .
O, er ist mir oft erschienen in meiner kahlen engen Stube in dem
belgischen Gefangnis zu Mons, in dem ich zwei Jahre wie ein
Gistercienser nudus et pauper in der Zelle gelebt habe ! Von dem
kleinen Kruzifix an der Wand, vor dem ich schluchzend auf
meinen eklen Knien herumkroch und dchzte, stieg er dannherab,
*
4
Verlaine
%
W
P
gan z gross. Er zdg seine blutenden H&nde seufzend aus den
N<Lgeln und legte sie mir sanft auf die Schultern
„Hor auf, Loyola !** schrie nun Rimbaud dazwischen, wie
er schon oft in die frommen Worte h&sslich hineingelacht hatte :
,Lass Dich wieder einsperren, armer Lilian 1 Du gehorst nicht- in
die heutige vemiinftige Welt hinein. Schiess noch ein paar Mai auf
mich wie damals in Briissel, auf dass ich dich wieder auf zwei
weitere Jahre der Polizei und dem Gefdngnis anvertrauen kann.
Nur meine Hand darfst du mir nicht mehr verletzen, du Schuft !
Verstanden I Ich habe sie zum Arbeiten no tig, musst du wissen,
nicht mehr zum Schreiben. Es ist genug in der Welt geschrieben
worden. Viel zu viel jedenfalls. Die Taten sind dariiber aus-
gestorben. Kein Grashalm und kein Stern wachst mehr, der nicht
schon bedichtet worden ist. Auch du hast deinen Teil genug ge-
schmiert. Zwei bis drei Dutzend guter Gedichte, mehr kriegt
das grosste Genie nicht fertig, und wenn es so alt wie dieser zahn-
lose Goethe wiirde. Und du spuckst tdglich deine fiinfzig Riime
aus. H6r auf zu dichten, Verlaine, eh’ es nicht mit dir aufhdrt und
du Verse fur den Figaro zu Ehren eines toten PrSsidenten oder
zu einer jiidischen Hochzeit oder zur Eroffnung einer neuen
Eisenbahnlinie oder eines literarischen — ohl lala! — Kabaretts
heiausquetschen musst 1“
„We“den die Heiligen mude, den Gekreuzigten zu singen
und seine Wunden und Wunder zu preisen in alle Ewigkeit ?“
fing der andere wieder an : „Hat die Seligkeit des Gottanschauens
ein Ende, ist nicht alles vor ihm weiland und jilngst, ,jadis et
nagiAeV* wiederholte er trdumend: „Lass dich von ihm segnen,
du mein unseliger J iinger I Entwinde dich ihm nicht 1 Er ist
stdrker als selbst du. Gib dich ihm hin, wie du bist, und lerne die
Wonnen der Reue fiihlen 1 Er wird dir die Spuren deines friiheren
Lebens von der Stirne wischen und den Angstschweiss, der hinter
der Wollust kommt. O welche Susse liegt darin, unser laster-
haftes Haupt in den Schoss der Mutter Maria zu bergen und
ihr all unsem Unrat zu beichten ! Auch du wirst dies erfahren
friiher oder spate r, wenn du Tag und Nacht weinen wirst wie ich
dort im Gef&ngnis, Tag und Nacht, hdrst du, unaufhdrlich, ur d
in heissen Tranen alien Schmutz von deiner Seele schwemmst !“
„Schluss I Schluss ! Halt’s Maul 1" unterbrach ihn Rimbaud
wieder wiitend, „mit deinem Qudckergeschwatz, das du dir hinter
den schwedischen Gardinen angewdhnt hast 1 Lass mich zufrieden
damit 1 Ich tauge nicht zum Wanderprediger. Du langweilst mich
mit deinen methodistischen Reden. Pouah 1 Mir wird iibel davon ! -
Die Mutter Maria, das ist etwas fur Kleinkinderbewahranstalten
und ftir Kommunikanten oder fiir Bauer ngebetbiicher. Und
270
Verlaine
Christus, dieser ewige Energiendieb, passt in unser Jahrhundert
noch schlechter als in aile vergangenen 1 Als ob du lange froxnm
bleiben kdnntest, du brunstiger Bankels&nger du ! Ich wette,
zwei Kilometer vor Paris f&ngst du wieder an zu schweinigeln.
Ich kenne uns doch, du brauchst nicht mit mir wie rait deinem
katholischen Verleger umzuspringen, du Reinecke Fuchs. Wir
haben doch fast zwei Jahre zusammen Vagabunden gespielt,
ehe du Jesuit wurdest und im Zuchthaus deine ersten Weihen
empfingst.“
,, Welch eine Zeit 1“ begann Verlaine zu phantasieren. , , Weisst
du noch, wie wir zuerst aus dem burger lichen K&fig ausbrachen ?
Ich hatte lange genug den zahmen Mann im Zoologischen Garten
des Pariser l'Hotel de ville gespielt und den langweiligen Ehe-
und Ehrenmann. Und wie wir in Arras zuerst Station machten
und das ganze Bahnhofsbiifett wie einen Hiihnerstall in Ver-
wimmg brachten mit unsern Geschichten von Wechsel-
falschungen, Einbruchsdiebstahlen, verfiihrten Jungfraueil,
patentierten Dietrichen, nachgemachten Banknoten, Gefangnis-
meutereien und abgeschlachteten alten Tanten. Bis schliesslich
zwei Gensdarme kamen und uns aus dem vor Angst zitternden
Menschenkn&uel, dem die Bouillon vor Entsetzen im Halse kleben
blieb, auf das Rathaus fiihrten. Und dann das Verhor dort,
als du zum Schein schluchztest und schriest wie ein Schwein, das
abgestochen werden soil, und ich wie Coquelin und Talma zu-
sammen deklamierte : ,,Citoyens ! Nous sommes innocents.
Nous prrotestons contrrre ce trrrraitement affrrrrreux !" und
nun die r wie in der Theaterschule rollen liess. Fichtre 1 Welche
Lust, ein Gassenjunge zu sein 1 Und wie wir dann weiterzogen
durch Belgien zu Fuss wie zwei Stromer, an Charleroi wie am
Inferno vorbei, weisst du noch :
„ Sites brutaux I
Oh 1 votre haleine,
Sueur humaine,
Cris des m6taux.“
Und dann nach Brussel und nach London, wo wir den karierten.
Kaffern und den blonden Madchen, die wie die Engel und „les
ingdnus^ herumlaufen, Sprachstunden gaben und dazwischen
uns wie Taschenspieler unsere Unanstandigkeiten im Montmartre-
dialekt zu war fen, von denen sie keine Ahnung hatten.“
Aber Rimbaud schien selbst in Gedanken keine Lust mehr zu
haben, diese oder eine ahnliche Zeit nochmals wieder durch-
zuleben. „Du h&ttest daheim bleiben sollen, Paul Maria Verlaine 1“
sagte er so ernst, als er iiberhaupt sein konnte, „bei deinem Stadt-
f
Verlaine
271
pbstchen, deinen griinen Akten, deiner kleinen Rente, deiner ewig
schwarz gekleideten Mama, die noch im Todesstiindchen fiir dich
beten wird, und bei deiner sauer gewordenen abgestandenen Fran
nnd deinem kleinen Georg mit den bedreckten Windeln ! ,Ich
bin dein boser Genius geworden*, wie der langweilige Leconte
de Lisle singen wiirde, als ich in die geordneten Regale deines
braven Lebens einbrach und deine ganzen guten Papiere durch-
einander schmiss. Du h&ttest ein Beamter bleiben sollen, du
Offizierssohnchen, wie dieser Pedant Mallarm 4 . Die Be-
schranktheit dafur war’ dir mit den Jahren gekommen. Du
hast eine Kette ndtig, du alter Koter. Und je kiirzer, je besser fiir
dich.
Es war ein dummer Jungenstreich von mir, dich loszubinden
und in die Freiheit mitzunehmen und dich durch Spelunken und
durch die ,Halbwelt*, wie dieser blode Biirger Dumas sie genannt
hat, die viel mehr ist als die Welt der Ganzen, mit mir zu schleppen,
bis deine ererbten 30 000 Francs beim Teufel waren.“
„Wie eine wahnsinnige tolle Jungfrau bin ich dir gefolgt, du
mein hdllischer Br&utigam!" achzte Verlaine, ,, gefolgt, weil ich
musste, weil deine wundersamen kindlichen Zirtlichkeiten mich
verfuhrt hatten, weil ich dir unterworfen bin, du Scheusal.
Was verstehst du von der Liebe, Arthur ? Du weisst viel-
leicht ntir, dass die Liebe wieder erfunden werden muss. Aber
das wissen alle heute, die noch einen Funken Blut in sich haben.
Ich babe deine Seele gesucht und gesucht, wie der Herr die des
Nikodemus suchte, bei Tag und in den N&chten, wenn ich neben
deinem teuren Korper wachte. Aber ich habe sie nicht gefunden,
wie oft ich dir auch sagte : „Ich verstehe dich ganz.“ Vielleicht
hast du gar keine Seele, vielleicht bist du nur eine leere Halle,
durch die Gespenster und violette Nebel und Meerungetume und
Bilder und bunte Masken ziehen, darunter auch meine arme ver-
stossene auss&tzige Seele irrt !“ Es sah so aus, als ob Verlaine sich
auf den breitschulterigen Riesenlummel stiirzen wollte, so wild
und neurasthenisch funkelten seine kleinen blutunterlaufenen
Augen, so rasend flog sein Atem und der vom Alkohol heisse
Hauch seines Mundes in der Nacht hin und her. Rimbaud zuckte,
seiner nicht achtend, vor Lachen :
„ Welch drollige Wirtschaft zu zweien wir da fiihrten!"
grinste er, „kreuz und quer durch den code pdnal, der wie eine
Hecke alle interessanten Dinge auf der Welt aussperren mochte.
Aber ich hab’ es satt, dies Herumstrolchen durch die Zivili-
sation und dies stumpfsinnige den Biirger-Verbluffen, an dem,
du alter Narr, dich noch bis iiber deine Glatze zu amiisieren
scheinst. Ich speie auf solche Kindereien. Pouah, ich kann dir
w
373 Verlaine
- J- i
L I
nicht sagen, wie das micfa anekelt, die Leute zu verhohnen,
denen ich ihr Geld abnehme."
l
„Was willst du denn anders anfangen, heh!" versuchte
Verlaine ihn zu fopper. „Was hast du denn anders gelemt ausser
Verse zu machen, schone, kostliche, goldene Verse/' fuhr er
fort und machte ein emstes Gesicht dabei wie ein alter Wein-
,kenner, der an einem vollen Glase riecht: „Unverg&ngliche
Verse, mildsaurig wie Aepfel, herb duftend wie der Abendtau
im September, du Kind Shakespeare!"
„Genug! Genug!" schrie Rimbaud ihn an: ,,Ich pfeife auf
Eure ganze Literalur, wennich nicht noch etwas anderes darauf
tue. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke, dass ich
wieder stundenlang mit dir iiber die ganze versunkene und ver-
stunkene Kunst schwatzen sollte: Ueber den Hiatus, iiber den
Reim, fiber die freien Rhythmen, fiber die Cfisur, fiber den Blank*
► »
vers, fiber die Alexandriner, fiber die Betonung, fiber den Klang-
fall der Prosa, und all das stumpfsinnige zwecklose Zeug, fiber
das du bis drei Uhr morgens deinen Bockmist tagaus tagein zu-
sammenreden kannst. Ich danke daffir, die paar Jahre Leben
an solchen verstaubten Krempel zu h&ngen. Ich bin mir zu
schade, mir mein Dasein noch weiter zu versauen, indem ich
es unter die Lupe nehme und ein Poesiealbum daraus mache.
Ihr sollt keinen einzigen Vers mehr von mir zu Gesicht bekommen.
Eher will ich mich kastrieren hochst eigenhandig mit meinem
alten Taschenmesser, eh’ ich noch einen Reim zusammen-
kleistere."
„Was willst du denn anders anfangen, heh du!" hohnte
Verlaine von neuem, und es klang wie ein Echo, das Rimbauds
geniale Jugendzeit fragend aufwarf.
„Gold will ich machen, statt albemer, lficherlicher und wider*
licher Gedichte!" war die scharfe Antwort, die er den beiden
zurfickgab. ,, Unsere Zeit braucht Arbeiter und keine Dichter.
Ein Nabob will ich werden, irgendwo da draussen. Mit brauner
Haut und mit eisemen Knochen will ich heimkehren. Und man
soil sagen: „Was fur eine starke Rasse hat dieser Kerll", nicht
hinter mir dreinschimpfen wie bei dir, schwaches Paulcheh:
„0 diese verderbte, absterbende lateinische Bande! Sie hat
Gift und Gummi statt Blut in den Adera." Mir graut vor der
Mauer, die Europa umschnurt. Ich will unter Wilden und Kindem
leben, statt unter Euch ekelhaften geilen Greisen. Schwarz
Weiber will ich haben, die noch so dumm sind und so schon
wie die Here. Ich kann Eure Kokotten nicht mehr riechen, mir
wird fibel dabei. Pouah! Ich stfirze mich in die Nacht Afrikas
hinein. Ich habe Euch leid imd Eure vermaledeite Zivilisation,
, * ■■ r
*73
Verlaine
die Euch zu Zahlen macht und Europa zum Warenhaus. Aber
ich will wiederkommen reicher als Cortez und Warren Hastings.
Eure Frauen sollen mich umdrangen wie den Schah von Persien,
und ich werde sie emiedrigen und besudeln und beherrschen mit
meine m Geld. Ich danke dafur, mich mit billigen Dirnen herum-
zuschlagen wie du, und mich mit ein paar gemeinen Versen
hinterdrein um die Bezahlung zu driicken."
. Der fast voile Mond war iiber ihrem Gerede h inter den Bergen
hervorgekommen. Er sog die diinnen Nebel von deni Neckar
* -r __
auf und glanzte golden auf den Wassern. Eine kurze Pause dehnte
sich zwischen ihr Geschrei. Die Schonheit der Nacht schien
+
endlich wieder den Dichter in ihnen tonen zu machen wie der
Strahl der Sonne die Memnonss&ule in der Wiiste.
„Sieh, wie der Mond Charpie zupft!“ lachte Rimbaud und
stiess den tr&umenden Freund in die Seite: „Schau dir die Natur
an, du Trottel!“
Verlaine wachte auf, aber nur um sich fester an den meutemden
Genossen seiner letzten Jahre zu klammern: „Bleib bei mir!‘*
bat er, ,,du mein Auge, mein Geruch, meine Sinne! Ich will
dir Musik aus allem machen. Warte! Fiinf Minuten und eine
Romanze ohne Worte ist fertig aus diesem Bild vor dir. „Do,
mi, sol. — H6! bonsoir la lune!“ — (Er sprach dies fast wie ein
Hexenmeister.) „Bleib bei mir, mein Knabe, mein Mann!
Ich bin kein B&r. Ich hasse die Einsamkeit. Ich habe die Leiden-
sChaft mich auszulieben. ‘ ‘ ■ ■
Aber Rimbaud schob ihn frech von sich: „Lass mich zufrieden!
Mir ist kulturkotztibel zu Mute, sagt’ ich dir schon. Heirate
Victor Hugo! Geh bei Zola in die Lehre! Schmier t&glich deine
zehn Seiten voll wie ein Anstreicher oder ein Zeitungsschreiber.
Ich habe genug davon! Mir steigt’s hoch, wenn ich dran denke,
ivicdcr X^du*iu£xi zu sgxti und zu diditcn# Xcti bctc zui*
wie Robespierre und diese niichtemen deutschen Philosophen
und Schulmeister. Eher will ich Politik treiben als je wieder
Poesie.“
„Du Phantast!" spottete Verlaine, dessen hoher Kopf immer
roter wurde. „Du ein Konquistador, du Kind? Du bist heiss-
blutiger als Marc Anton, und du wirst elender Bankerott machen
als er, bei den Zulu oder den Abessiniern oder den Aethiopiern,
oder was sonst dein schwarzer Typ sein mag.“
„Halt deine Schnauze jetzt!“ schrie Rimbaud ihn an, „du
sollst mir nicht meine Zukunft noch bedrecken. Ich mag deine
Af fenliebe nicht mehr. Geh nach Paris zuruck! Lass dich , zum
Kotug der Lyriker kronen oder zum Prinzen Karneval! Es ist
ja ein und derselbe Blodsinn. Oder reise durch die Provinz herum
Verlaine
und mach dich lacherlich, indem du deine einzigen unver-
gleichlichen Verse, deine innerste Musik, vor Strumpfwirkera
und Seidenwebern und Hutmacherinnen vorliest! O, wenn Ihr
wiisstet, wie ich Euch alle verachte und hasse, Euch Poeten und
Prostituier te! “ Er riss seinMaul, sein hartes, eckiges, energisches
Maul dabei auf und spie vor Wut und Abscheu nach alien Seiten
aus,
„Und als was wirst du wiederkehren zu uns, du Kultur-
verdchter, du Welteroberer ?“ briillte jetzt Verlaine auf ihn ein,
und die dicken Adern an seiner Stirne spannten sich wie Taue,
die ihn vor dem Wutanfall, der ihn in der Trunkenheit oft fiber-
kam, zuriickhalten wollten: „Als ein Krtippel, ein Invalide, der
kaput wie ein Buckliger um das Pantheon seines einstigen
Ruhmes herumhumpeln wird.“
,,Du Hund, du!“ keuchte Rimbaud, „du alter Sunder, du! (<
Und damit haute er wie ein kalifornischer Goldgr&ber mit seinem
dicken Bambus auf ihn ein. „Du willst mir meine Hoffnungen
zermatschen. Du willst mir mein Schiff aushohlen, das mich aus
Eurer ganzen vermoderten Gesellschaft ins Freie bringen soil,
mein Zukunftsschiff, das viel trunkener und stolzer ist, als alle
meine ausgerochelten, aufgetakelten Verse!'*
Aber nicht minder rasend als er schlug Verlaine mit seinem
wilden Knotenstock gegen ihn zuriick: ,,Da! Du Tollh&uslert
Du verdrehter Spiessbiirger! Ich werde dich zwingen, hier und
dir treu zu bleiben. Ich will dich schon vorher zur Tunke zu-
sammenhauen, ehe es der Sudan mit dir tut. Her nach will ich
dich wieder gesund pflegen und deinen holden Klumpen ver-
z&rteln und mit mir nehmen. Du wirst dann viel be quemer ftir
mich sein.“
Aber Rimbaud, der knabenhafte' Koloss, der erst x6 Jahre
hemach als ein Krtippel, wie Verlaine es ihm prophezeit hatte,
aus Nubien heimkehren sollte, war weit starker als dieser ver-
kommene frtihe Greis. Toll tiber die Stockschl&ge, die seine
Arme und Schultern trafen, schlug er jetzt auf den herrlichen
Sch&del seines besten Freundes in der Vergangenheit, seines
Todfeindes seiner neuenZukunft los. Taumelndsttirzte Verlaine zur
Erde, sein Blut, sein in musikalischen Rhythmen kreisendes Blut
tropfte aus einer tiefen Wunde an der Schlafe auf den vom
hellsten Mond beschienenen Weg. Und der Halbbewusstlose horte
kaum mehr die letzten Worte des wie Kain nach dem Bruder-
mord davonsttirzenden Rimbaud :
,, Werde Por nograph, Alter, oder Photograph ftir den Rest
deines Lebens! Eine andere Art Ktinstler duldet und ftittert der
- ~ ~ ~ : — — — — a»
Verlaine 275
s
Pobel heute nicht mehr. Weine mir nicht nachl D e r Ab-
sinth wird mich dir ersetzen.'*
An der Fluss- und der Wegbiegung drehte Rimbaud sich noch
einmal scheu um, und sah, dass Verlaine sich dchzend wie ein
wunder Krieger im Grase aufstutzte. ,,Wieg ihn warm ein,
Natur, ihn friertl* 1 grinste Rimbaud, scheusslich sich selbst
zitierend. Dann steckte er sich eine Zigarette zwischen seinen
dicken Lippen an und sagte fur sich: „Abfahren nach Afrika!"
und mit einem letzten Blick auf den verlorenen Freund: „Dass
solch ein energie- und sittenloser Schweinepriester so herrlich
dichten kann! Und er deklamierte auf die Stadt zutrabend
Verlaines Verse in den Mond:
„La lune blanche
luit dans les bois;
de chaque branche
part une voix
sous la ramie . . .
O bien aim£e!“
1
In der italienischen Oper
-4
In der italienischen Oper
Von LUDWIG RUBINER
Da der junge Honorius zum Opemhaus aus dem Restauant
kam, so zog er um neun Uhr mit vollem Bauch und heiter an
den lustigen Mailander Cafds vorbei, in denen eine Menge
Menschen mit leerem Zittem des Gesichts und nervosen Fatten
sassen. Hier, um die Ecke war die kleine Theatergasse. Plotzlich
sauste ein blauer Schattenblock herab, nur in der Ferne wackeltd
gelblich eine Bogenlampe. Nun musste er eilig und scheu zum
Theater schleichen, geduckt, um noh ganz in dem kleinen Licht
zu gehen. Es war eine ungeheure Zaghaftigkeit. Einen Moment
klopfte das Herz sehr stark. Er war allein. Sollte er hinein in
diese Trauer ? Aber er konnte nicht mehr zuruck in die Schatten-
haftigkeit dieses unsichtbaren Gefangnishofs. Es ging nur noch
zu dem Bogenlicht, dahinter schwarz ein schmaler Mensch in
die Eingangstur stieg.
Drinnen driickte er sich an grauen Winkeln vorbei, blickte
in schmale, lange G&nge, die pldtlich in mysteriose Kurven sich
verloren, und er ging langsam und mit hoffnungslossm Blut
durch kalte Kreuzungen enger getiinchter Korridore. Menschen
mit nervos versunkenen Mienen rauchten Zigaretten, die H&nde
tief in die Hosentaschen gestopft. Hinter einem niedrigen,
krummen, fettig gemalten Glass, in dem er schon auf sich ver-
zichtete, ausgepumptt von jedem Taktgefiihl, jeder FShigkeit,
Menschen ins Gesicht zu sehen, bammelten rote Baumwoll-
portieren. Er schlug sie zuriick und zog moderigen Staub ein.
Dahinter, im Theater, lauft ein bratmer, kragenloser Kerl mit
Apfelsinen durch die leeren Parkettreihen. Hier gab es keine
Beziehungen mehr. Ein paar schwarze Rocke sitzen im rotlich
halben Licht so einsam umher, wie Schachfiguren im Endspiel,
in ldssig gebuckter, hoffnimgsloser Haltung. Mitten in dem roten
Halbrund des Theaters, unter den niedrigen Logen, stand Honorius
in einer ungeheueren, unuberwindlichen Isolation. Schmale,
schmutzige Lichtstreifen lagen auf den leeren, roten Sesseln, wie
fur die Ewigkeit. Ein paar vorsichtige alte Frauen im schwarzen
Kleid sitzen in leeren Logen, muhevoll reprdsentativ gradgespannt.
Vor dem Vorhang standen die Sessel mit den griinen Lampen ftir
die Musik. Hinter der Biihne, weither, abgebrochen unver-
sch&mtes Klappern eines Klaviers, jemand amiisiert einen falschen
Walzer herunter. Gewiss tut er das mit verdrehten Augen fiir
In der italienischen Oper 277
cine Sangerin, die unterdes mit verzucktem Kichern sich von
einem kleinen, fixen Choristen ins Weiche kneifen lasst. — Wie
allein war Honorius, in dem verstohlenen Krachen der Parkett-
sessel.
Die Musiker mit r unden Gesichtern und schmatzend void
Essen, wickeln die Instrumente aus. Ein diinner, sagender Ton
schnellt aui aus diesen ungeordneten Reihen schwarzer Rocke,
fast mitten im Publikum. Abgezupfte Intervalle klinkern Orna-
mente darum, nun schwimmt das ganze Orchester in weiten,
triiben Quintenwellen auf und ab. Die Lampen sickern grim auf,
in die erste Geige setzt sich eine Dame im weissen Kleid, sie hat
eine schwarze Schmetterlingsschleife im Haar und Fatten um
einen sachlichen Mund. Sobald sie ihre Geige stimmt, heutt das
Quintenwogen des Orchesters auf, wie zur Zigeunermusik. Ein
paar Reihen im Parkett sind gefiillt. Dazwischen ziehen sich die
leeren, wie rote, schwarzgdranderte Raupen. Vor dem Orchester
steht ein ganz kleiner, knochiger, schwarzer Mensch in zer-
knitterten Lackstiefeln, mit dem riesigen, missgestalteten, stoppe-
ligen, faltigweichen Gesicht eines Unbeherrschten, Abgewandt-
Ahnungslosen. Dieser Kapellmeisterzwerg mit den ungeheuren
Zweioktaven-Handen kennt sicherlich nur eine Realitdt, seine
Eitelkeit. Das Theater wird jetzt ganz hell von einem rotlich-
gelben Licht, das Licht schwebt iiber die lustigen roten Sessel,
um die Kriimmungen der roten Wande, breit fiber den lustigen
roten Vorhang und verschwindet in den roten Logen hinter
braunem Schatten und den weissen Lochem der Fracks. Herren
im Parkett nehmen tr&ge ihre Hute ab, ein Junge springt mit
dxurctx ■ dcu uind iruf fc diG
Nur eine Geige im Orchester stimmt noch. Driiben, in einer
Rangloge, erscheinen, weiss zitternd, die breiten Federn eines
Damenhuts. Der Kapellmeister richtet sich aus seinem Knick
auf und schist ans Putt. Eine dunkle Frohlichkeit durchbrannte
Honorius. Er war — Masse.
Mit einem Ruck zucken die Geigen auf und stellen das Haus
in einen hellen, weiten Lichtersaal. Unter kleinen, gelben
Flammen kreisen nackte Schultern lustig und schnell vor-
bei. Dazwischen springt schlank mit gelosten Gliedern ein
bunter Kerl auf, herausgeschleudert aus : dem Wirbel gegen-
einander schwingender Luftsaulen der gelben T rompeten ;
alles fallt in starre Maske. Still, keine Sinnlichkeit ! Pause.
Sie huschen weiter. Driiben, unter steifer Neigung schwarzer
Rocke , fahrt der bunte Fleck empor, nach ihm hascht
belles Haar und gepudertes Fleisch. Vorn eine langgezogene
Serenade, abet gefiihllos tanzt ein Paar dazu. Die Holzblaser
4
278 In der italienischen Oper
fiihren in sanften Sprfingen durch kleine Tiiren und schmale
Gem&cher, dunkle Tapeten schwankend hinter Kerzenflammen,
undPaare drin ironisch Ifichelnd in Verlegenheit. Durch schmale
Rundgange l&uft es, in denen Kiisse und Entwischen verklangen,
und irgendwo hinter den Wanden lirmt eine Tanzmusik auf
altertumlich ausgebreiteten Sextakkorden. Laut herein sturmt
auf den kurzen Strichen der Geigen der Zug der Frauen, duftend
eilen sie durch die raschelnden Gfinge mit zierlich kleinen Fackeln
in den erhobenen Handen. Das grelle Messing der Trompeten :
Da steht der Bunte unter ihnen. Hinein in die Lichterhelle des
Saals, die M&nner tanzen plump heran. Begehren wird zum
Puppentanz, Eifersucht hiipft im Vierschritt. Der Bunte fliegt
fiber alle, bleibt bei keiner. Lacht, droht, befiehlt — Komm
Pedanterie, Holde: ein wenig Kontrapunktgestamp f , wfirdige
Umkehrungen, hochst spitalsmSssige Gegenbewegungen. Dass
den Stimmen die Knochen klappern ! Hallo, schnell, kfirzt die
Stimmen , brecht die Themen ab, eh sie sich verschlingen
kdnnten! Hort ihr das Geschrei, die Floskeln der Verwimmg?
Im flackernden Durcheinander aller Tone gewohnlichsten
Gebrauchs. Larmend atemloses Ineinander zum Schluss
der Ouvertfire, wenn die Stfihle in den Logen geruckt werden,
und alle mit dem letzten eiligen Atem der Spannung „Bravo l 4 ,
schreien. Der Kapellmeisterzwerg dreht sich um, und legt die
riesige Knochenhand auf sein dreckiges Hemd. Das Theater
ist voll von lachend Erregten. Vorhang auf.
Ein schrager Raum brach ins Leben herein. Man sass auf
einmal in der grossen H oh lung eines machtigen grfinen Kristalls
mit abgedunke lten Strahlen. O welch herrliches Geffihl des
Aussersichseins, wenn auf die Dekoration eine Stadt gemalt ist,
die ganze Stadt, die ganze. Alles muss drauf sein, o Meisterstfick
der Weltperspektive. Ha, der Chor tritt aus der Kulisse, mit
Latemen: es ist Nacht. — Und geben die vier Kulissen nicht
die kostlichste Sicherheit ? Rechts und links auf jeder ein Haus
gemalt ; sie stfitzen den genau gerfindeten Halbkreis des Chors ;
sie sind gerad und parallel aufgepflanzt ; dies ist die Ordnung
der Welt — auf dass die gemalte Unermesslichkeit der Stadt
im Hintergrund nicht Chaos dfinke. Aber jetzt haben die
Akteurs ihre Alien I Das Licht knippst auf, Licht, solang sie
singen — man sieht sie besser so, in der Nacht. Der Chor f&llt
ein, es wird dunkel. Nun ja, die Menschheit singt, das h 5 rt man
in der Nacht. — Stellt sie nur recht geordnet auf, diese Mensch-
heit 1 Wir unten im Parkett sind selbst Masse ; hfitet euch, wehe,
wenn wir uns oben wiedererkennen. Wenn wir nachdenklich
werden, wenn wir Einzelne werden. Das gibt Verwimmg! —
In der italienischen Oper
Aber, singt der Solist, so muss Licht sein ; es ist sein inneres
Licht (wie auf den alten Bildem mit irdischem und heiligem
Licht). Wir wissen ja schon, dass es Nacht ist. —
Cipollina war anders als gestem die Maria Matesi. Sie zierte
sich, dieses Zwiebelchen. Es war beinahe ein Kampf. Sie hatte
kleine, langlichschmale , flinke Augen. Aber dann wurden sie starr
und rund wie Butterblumen. Sie sang, am Abend drauf , die Partie
der Rosina mit der gleichenVollkommenheit wie die Matesi. Wieder
war es der Ablauf einer vollkommenen Maschinerie. Honorius war
auf kurze Zeit ins Stehparterre getreten. Der Polizist neben
ihm reckte die Zunge aus offenem Maul und heulte ichzend
aus heiserem Rachen. Hatte der sie auch gehabt, wie die
an der n Manner hier ?
Was geschieht, fragte Honorius, wenn ich heute hier sterbe,
mitten unter den Leuten? Sicherlich nichts besonderes. Nicht
einmal eine Storung gibts. Man wird das gar nicht bemerken
unter den fiinfhundert Leuten, die hier im kleinen Teatro
Filodrammatrico sind, und auf die jene Biihne wirkt, als sissen
sie zu F iinf zigtausend da. Wir sitzen hier alle in einer neuen
ungewohnten Sphare. Um uns ist eine unbekannte Luft, so
durchsichtig, dass wir uns selbst nicht mehr sehen. Die Arie
der Sfinger in umschliesst uns. Die glisemen Himmel ihrer
Fiorituren, die unfassbar umschwimmenden Wolken ihrer
Triolen, das unsichtbare Vogelschwirren der Cadenztriller sind
nun unsere Welt. Wo blieb die Wirklichkeit? Unsere Korper
sind vemichtel. Wir schweben. Die Kugel unseres Lebens
liuft irgendwo anders, fremd von uns, weiter. Die Solo -Arie
des Tenors bei den Lampen der Rampe ist nun ein Unabander-
liches. In dieses Schicksal kann kein anderes dr ingen, es ist
sein eigener Raum. Hier kann nichts neu werden, nichts
schwinden, nichts wachsen, es ist ein Raum ; nie kann dieser
Singer anders handeln. Aber dies dreht sich erst, zeigt uns
neue Curven, neue Aussichtslinien, neue Schrigungen, wenn
ein anderer Singer kommt, mit seiner schicksalhaft praedesti-
nierenden Arie. Ein Schaukelspiel der Lebensebenen. — O,
nun sechs Leut* auf einmal, jeder starr an seinem Fleck. Ver-
xnischt sich alles im Sextett ? Nein — Wunder unsrer neuen
Sinne! Auf und nieder steigen alle diese Vorbestimmungen,
diese fremden bunten Seelenriume schweben um einander.
Empfindungsspiel strahlender Fliissigkeiten, auf und ab
schwankend. Eisgetrinke der Korperlosigkeit. Opernbiihne,
In der italieniscfaen Oper
glitzerndes Biifett der Empfindungen. Hochste Kunst, gesiebt
durch das Nutzgewerk hochster Colportagigkeit. —
Dies alles versteht man nur in Mailand. Ich habe da eine
Sangerin gehort, sagte sich Honorius, die die scbwierigsten
Staccati machte, dass es klang, wie der Streich einer vollen Geige.
Den nachsten Abend eine, die eine Flote war. Ihre Namen sind
in Europa unbekannt ; ihre F&higkeiten selbstverst&ndlich, in
Mailand. Sie waren meine Geliebten, und ihre Augen wurden
weit. Aber ich habe mich nicht zu wundem, vor mir waren viele,
und nach mir kommen die andern.
Uebrigens, die Koloratur, ist sie nicht die Logik der erfahrenen
Frau? Ihr miisst ja schone Arme und Schultern haben, ihr
miisst 1
• *
m
Wfihrend Honorius zur Nacht weit vom Bett ans Fenster trat,
sich auf dem Marmorboden zu kiihlen, fiel ihm bei: Warum denken
die Leute immer ans Sterben im italischen Land. Welch ein
Unsinn. Wir vergessen immer unsere derische Eitelkeit.
Nun bin ich bei der Dritten. Sie hat ihren Namen anglisiert.
Schon. Morgen Abend, im Theater, wirkt das fabelhaft ; wie sie
so mager ist, und in der Atmosphere ihrer Koloraturen ihre langen
Beine unter den Rocken so infam gleichgiiltig ldst, als ging sie
spazieren. Und hier, bei mir, ist sie — ein Fahnchen, ach, eine
kleine Flagge gar. In keinem Lande der Welt gibt's das, es ist
geradezu umgekehrt. Sonst sind die Sdngerinnen auf der Biihne
grotesk plumpe Fregatten und erst in ihrer Wohnung aufreizende
Damen. Hier — sind sie in ihrem Bett nicht eher erschdpfte
Gelehrte ? Ah, es liegt eben daran, dass in Mailand der Gesang
nicht eine Angelegenheit des Gemiits ist. Singen ist hier ein
Funktionieren. Was gebt ihr ? Intuitionen ? Ihr verabscheutet
sie. I ndi viduali tats lei stunge n ? Nein, ihr wiirdet mit jeder De-
klamation ausgepfiffen. Also ? Ihr arbeitet fiir die zweitausend
Menschen im Parkett und auf den R&ngen, fiir alle gleichzeitig.
Ihr arbeitet. Die Antriebskraft fur eure Maschinerie ist der
Organismus eurer Arien. Warum sperren wir die Mauler auf
nach euch, wenn ihr auf der Biihne steht ? Weil ihr Funktionen
seid, jede bestimmt fiir uns alle. Intellekt, Ge . . . tiih . . . Ie . . . ?
nein, hier stiirzt alles gleich von der Biihne uns ins Blut. Irgendwo
lag mal ein Wert unserer Handlungen 1 Aber Ihr gebt die
wildeste, erhitzteste Phantasmagoric des Genusses. S&ngerinnen,
Angelegenheit der Verdauung, euer Triumph sind unsere ange-
regten Bemiihungen in den Logen. Ihr Kunstgewerbe der Ge-
schlechtlichkeit 1 — Doch dies versteht man nur in Mailand, wo
das Sterben dicht neben dem Soupieren liegt.
*
In der italienischen Oper
281
Als Honorius sich wandte , sah er im gelb bewegten Dunstoval
des Kerzenlichts die stacheligen Schatten ihrer Achselhohlen.
Sie tastete nach dem grttnen Opal der Limonade. In diesem
Moment begriff er, dass jeder Mensch fur ihn eine neue Kata-
strophe der Erkenntnis war.
Am n&chsten Abend kam Honorius mitten in das lustige rote
Licht des Theaters. Das Or Chester sass schon da, fast mitten
unterm Publikum, und man horte das triibe Heulen der stim-
menden Instrumente. Heute sprach der Kapellmeister ihn an.
Honorius sah auf die eingesunkenen Lackstiefelspitzen des Zwergs
und beging eine Dummheit. Er fragte : Warum muss man bei
dieser herrlichen Musik der Lust immer an ein widerwdrtiges
Ende denken, an eine schreckliche, griinliche Faulnis, an ab-
fallende Gliedmassen, an die stumpfen Nadeln eines fiirchterlichen
Foltertodes? — Hier glitt etwas iiber das schiefe Gesicht des
Zwergs mit den Knochenhdnden. Honorius sah Erkennen. Aber
es war natttrlich nichts. Eine verbindliche Ausrede. Honorius
gewahrte den Blick : Ja, wenn man sich mal mit diesen Fremden
einl&sst — sie sind taktlos ! — Uebrigens war wohl auch dieser
Blick falsch verstanden. Hochstvermutlich hatte seine Frage
als Kompliment gegolten.
Als der Chor im steifen Halbrund stand, und wieder die
Solisten ihre trommelnd gehackten Rhythmen ins Blut brannten,
bei dieser notwendig ewigen Wiederholung stets derselben Worte
auf sarkastisch stakkatierten Vokalen — da fiel ihm ein : Diese
komische Oper hat ja einen Komponisten I — —
Nie war etwas geheimnisvoller, als dass diese Musik einen
Schopfer hdtte. Konnte man daran je denken, vor diesen Formen,
wo alles Typus war, Art und Struktur so unveranderlich und eine
Welt von vollkommenster Irrealit&t ? Wo e i n e r nichts mehr
war und nur unter alien andern ein Etwas. Aus strengstem Zwang
der Kunst stieg hier das kristallene Spiel einer schwebenden
Seifenblase aUf, die grad beim Anschaun in nichts als ein letztes
Spiegeln zerging. Dies konnte — — nur — das Werk — —
einer aussersten Skepsis sein. Der absoluten Skepsis vor alien
Dingen, welche nicht schwebende Form sind. — Ueberall spiirte
Honorius nun diesen Schopfer, der nur an eine einzige Realitat
sich noch klammerte, an die Phantasien des Hautgenusses. Dieser
Mann musste im Leben herumgehen, zerstort von Hoffnungs-
losigkeit, und eilig bele.bt vielleicht nur durch Frauen und Diners.
Honorius dachte einmal an Mozarts komische Opera, aber
da erschien sofort, wie die Courtine eines Theatertransparents,
In der italienischen Oper
der weisssilbeme Wolkennebel einer pries terhaft altertiimlichen
Feierlichkeit.
Ah, nur solche letzte Konsequenz, solche Vemichtung alter
Einzelnen, solchen Mord aller Psyche und solche gliihenden
FeuertSnze der Komik zu verkreuzen, zu durchknoten, musste
dieser Italiener bedingungslos autriihrerisch sein. Nur ein
Unbedingter, nur einer, der das Leben in den letzten Negationen
fiihlt, war imstande, diese ungeheuerliche Isolation der Kunst
auf die Helligkeit eines Traumlachens von zweitausend Menschen
— von zweihunderttausend Menschen zu erzwingen — diese
m&chtige Vemichtung zur entriickten Heiterkeit der Menge . . .
Geschrei des Orchesters, Floskeln der Verwirrung. Flam-
mendes Durcheinander aller Tone gewohnlichsten Gebrauchs.
Der Taktstock ist nur noch eine hellzittemde Fl&che. L&rmen,
atemloses Ineinander zum Schluss, wenn die Stiihle schon geruckt
werden, und alle mit der eiligen Angst der Spannung, zu sp&t
zu kommen, „Bravo I “ schreien. Der Kapellmeisterzwerg legt
die riesige Knochenhand auf sein dreckiges Hemd.
Honorius ging langsam fiber das Schattenblau der dunklen,
sehr geraden Strassen, vorbei an grauen, breiten Fassaden, zum
Bahnhof. Im roten Fackellicht musste er einer Kolonne von
Strassenarbeitem ausweichen, die eben abgelost wurden und sich
mit krummen Riicken aufrichteten. Vor ihnen stand ein altes
M&nnchen in Flicken, mit grau zerfetztem Bart,, und rief mit
diinner Stimme und miide seine Zeitung aus : „Der Schrei
der Menge 1“ Es war ein gealtertes, tonlos pfeifendes Vogel-
stimmchen, dieses muhsam wiederholte: „Grido della folia l"
, „Musste es nicht heissen,“ dachte Honorius in seiner etwas
pedantischen Art, „der Schrei fur die Menge* 4 ? —
VflfierdiebstfiMe
18 $
Bilder dieb stahle
Von ERNST SCHUR
■
Nicfats spricbt so sehr ftir idea hohen Stand unserer Kuttur,
•die Tatsadhe, dass die riihrige Zunft der tDiebe ihre Tatigkeit
auf den Erwerb von Bildern auszudehnen beginnt. Weim man
•bedenkt, dass frtiher nur der materielle Gesichtspunkt mass*
gebend war, dass silberne Ltiffel, Wurst und Schinken, Brillantea
und Pelze oder wofol gar nur das ganz simple, reale Geld
gestohlen wurden, so kann man jetzt, wo die Galerien in das
iFeld der Tatigkeit miteinbezogen warden, nicht umhin, von
ainer Erhtihung des geistig-kttnstleriscfaen Nhreaus zu sprecben
und jene Diflerenzierung zu registrieren, die der gemeinaame
Sterrpel unserer fortschreitenden Kultur ist.
Es setzt allerdings sdhon einen nicht geringen Grad von
Sildung voraus, wenn man fur geistige Giiter die Freiheit der
JEtc is kenz aufs Spiel setzt und ftir ganz imagintire Werte, deren
Einlbsung grossen Schwierigkeiten begegnet, sich opfert. Es
•geihtirf auch ein nicht germges Mass von Bildung dazu, fiber
den jeweiligen Stand der Forschung und die damit zusammen-
Itfngenden Kurswerte unterrichtet zu sein und danach seinen
Beldzttgsplan zu entwerfen. Die Beziehungen mit den Handle m
wollen gepflegt sem, und so ergibt sich ein reger Austausch
von Beziehungen, deren vielfach verwickeltes Netz den unter-
nohmenden Geist zu lebhaftem Denken, schnellem Handeln
und zu einer beinahe imp oni er enden Elastizit&t und Bewegtichkeit
andifilt. Man wird die Vermutung nicht von der Hand
ikbnnen, dass durch selohe Entwicklung der Dinge das Ver-
st ftndnis ftir die Kunst in Kreise dringt, die bis dahin ihr
gfinzlich femstanden, und von diesem Gesichtspunkt aus ist
•diese Tatsache mit Freuden zu begrnssen. Muss man doch
auch annehmen, dass diejenigen, die sich diesem Beruf zu-
wenden, nicht umhin kdnnen, ein regelrechtes Kolleg, bei
Wtifflin etwa oder einem anderen angesehenen Kunstgeschichts-
professor zu belegen, wenn anders sie ihren Beruf ernst nehmen.
Oder sie mtissen die dickleibigen Kunstgeschi chten und manche
umifangreichen Fachwerke walzen. Zu gleicher Zeit mtissen
sie tiber die praktischen Kniffe ihres Handwerks unterrichtet
vein und es nicht verschmahen, mit den ganz realen MaChten
des Lebens in Widerstreit zu treten, wfihnend andererserts die
tintemationalen Beziehungen <der Handler Einen gegenw&rtig
20
Bilderdiebst&hle
sein miissen. Kurz, sie mussen Wissenschaftler , Praktiker
und Kaufmann in einer Person sein.
Dabei unterstiitzt keine staatliche Be horde, kein Fort-
bildungsinstitut ihre Ausbildung. Auf eigene Faust mussen
sie sich ausbilden und ihren Beruf auf ihr eigenes Risiko
ergreifen. Keine Preise, keine Auszeichnungen harren ihrer,
und dennoch sollte man billig zugeben, dass es eine Art
Meisterstfick ist, die Mona Lisa aus einem bffentlichen Museum
zu entfemen.
Wo mag die Mona Lisa sein? Wann wird sie 2um Vor-
schein kommen ? Wird sie iiberhaupt jemals wieder auftauchen ?
Ich finde, dass man sich diesen Fragen zu wenig widmet ; sie
sind von psychologischem Interesse. Vielleicht ist es ein bizarrer
Liebhaber, der diesen Streifzug gewagt hat. Das beriihmte
L&cheln der Mona Lisa* liber das sich die Kunsthistoriker die
Finger wund geschrieben haben, hat ihn bezaubert, verriickt
gemacht, verfuhrt und mm sitzt er in seinem Keller oder
in irgend einem geheimen Verlies seiner Behausung und hat
dieses L&cheln ganz fiir sich allein, und schliesslich kommt
vielleicht einmal die Entdeckung, dass dieser Liebhaber wirklich
darUber verriickt geworden ist; tot liegt er vor dem Meister-
werk Lionardos, das r&tselhaft herabl&chelt auf den Ungltick-
lichen, auf das mystische Opfer.
Auch die Entwendung des Fra Angelico l&sst schon auf
eine gewisse, selbstsichere Routine und gelehrt — fachwissen-
schaftliche Ausbildung schliessen. Diese Friih-Italiener haben
selbst unter gebildeten Museumsbesuchern nur die Elite wahr-
haft zu interessieren gewusst ; viele Galerien haben es gar nicht
fiir ndtig gehalten , ihren Bestand in dieser Richtung zu er-
g&nzen, und es ist noch gar nicht lange her, dass die Forschung
sich diesem Spezialgebiet intensiv zuwandte. Und nun sind
diese stillen, feierlichen Bilder mit einem Male hineingerissen
in die wilden Strudel des Gegenwartslebens! Was wiirden die
weltabgewandten Monche gesagt haben, h&tten sie gewusst,
dass ihre Werke, die sie in beschaulicher Klause malten, noch
einmal im zwanzigsten Jahrhundert einen Zankapfel abgeben
wiirden und in dunkler Nacht an einem Seil durchs Fenster
herabgelassen wiirden. Vielleicht wiirden sie milde und ironisch
l&cheln und denken, dass man zu ihrer Zeit urns Morgen-
grauen zu anderen Zwecken sich an einem Seil aus einem
Fenster herunterliess.
Bieder und deutsch aber fing es der gute, ehrliche Forst-
gehilfe mit dem echt bavurarischen Namen Moosracher an. Er
ging hin in das kleine Schlosschen Lustheim, das so idyllisch
Bilderdiebst&hle
'aSs
im Schleissheimer Park liegt, und nahm, was ihm unter die
H&nde kam, einige wertlose Bilderchen und versteckte sie wie
die Fruchte des Feldes im Walde, ein wahrhaft primitives Ver-
fahren, fiber das jeder Kollege vom Fach erroten muss, der
immer daraui halten wird, das Prestige seines Metiers zu wahren,
der es als undelikat empfindet, wenn plumpe H&nde in sein Fach
eingreifen und es diskreditieren. Dieser Fall — man vergleiche
damit den pikanten, franzdsischen Diebstahl und die auf ge-
lehrtem Fachwissen und alter Kultur beruhende Entwendung —
zeigt so recht die Notwendigkeit einer lachlichen Organisation,
eines Zusammenschlusses, wie das in unserem Jahrhundert
allenthalben ublich ist, um sich gegen das Eindringen un-
lauterer oder nicht genfigend ausgebildeter Elemente zu wahren.
Allerdings ist das Eine zu bedauern, dass die alten, be-
w&hrten Diener, die ein so behagliches, still umfriedetes Dasein
in den geheiligten Raumen fuhrten, so unliebsam aufgestort
werden. Sie sassen, fast betend die H&nde fiber dem Bauch
gefaltet, auf Stuhlen in den Ecken, einem buddhistischen
Gdtzenbild in der Starrheit absoluter Ruhe nicht un&hnlich.
Tr&umerisch lehnten sie an Balustraden und besahen sich die
N⋛ zuweilen putzten sie sie auch. Erstaunt blickten sie
auf, wenn ein Besucher durch die R&ume schritt. Dann setzten
sie sich wohl einmal in Bewegung und schritten, die H&nde
auf dem Rucken, wie ein Premierminister, der ein wichtiges
Portefeuille innehat, durch die Zimmer, mit bedenklichen Falten
auf der Stirn, ernst zu Boden blickend, und ihre langen,
kaftan&hnlichen Rocke schleppten am Boden. So schlfirften
sie, weise Hfiter, Hohepriestern gleich, mit SilberknSpfen am
Rock durch den Raum. Richtete aber ein Besucher eine Frage
an sie, so fuhren sie wie aus langem Schlaf empor und fingen
verwirrt an zu suchen; sie liefen zusammen und steckten die
Kopfe zusammen und es begann ein Fragen und Tuscheln,
bis sich einer aus der Gruppe losloste und eine Auskunft in
offiziell ganz einwandfreier Form gab, die sich meist nach
einer ganz anderen Richtung bewegte. Dann tr&umte wieder
der Friede in den Raumen. Und nur, wenn der Herr Direktor
durch die Sale schweift, wird alles munter, die <esten Diener
greifen an die Hosennaht, und ein joviales L&cheln schwebt
auf alien Gesichtem. . . . Denn Ihn kennen sie, seine Gewohn-
heiten; ihnen macht er nichts vor.
Und derweilen schleicht das moderne Leben in diese stillen
R&ume; es achtet nicht der Tradition. Es greift an die W&nde,
schraubt los, steckt ein und Riesenbilder tr> es unsichtbar
hinaus. Mit einem Male wird aus dem abseits liegenden Ver-
steck ein Verkehrs- und Handelsinstitut, und neues
in die alten Mauern ein. Hu* ikt es ans mit Idyll e und ssrifter,
hind&romernder Traumerei. Das Leben fordert audh hier seine
Jtechte.
Freilioh — wie sollte es auch anders sein ? Wo die BUdung
so tiortsohreitet, Wo die Kultur sich arusbreitet und die Kunst
in Schicfyten dringt, die higher nichts von ihr ahnten. Wo
allenthalben, in Ost und West, in Nord und Siid und <den
kleineren Windrichtungen Vortrage verzapft werden: ,,Rom in
der Renaissance “ , „Flarenz und seine Kunst“ und so fort, mit
Lichtbildern und obne sie, wo jeder Verein seinen Dauerredner
hat, der uber Kunst und Kiiltur redet und es so keinen halb-
wegs ungebildeten Menschen mehr gibt. Da ist es kein Wunder,
wenn sdhliesslioh auch die Diebe davon Nutzen ziehen und die
,,Kunst kn Leben des Einbrechers“ einsetzt.
i
\
Leben aietft
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FamserSonnette
Paris er Sonnette
Von REINHARD KOESTER
Die Nacht ist weit und tief und still, als wire
sie eine Gruft, darin das Leben ruht.
Und wie erdriickt von kiihler Marmorschwere
rollt leiser — leiser mein berauschtes Blut.
a
Nun naht des Schlafes ruhevolle Fibre,
— ich kenne ihre Ruderschlage gut —
dafl sie im Traumesland den Wunsch gewlhre
wie es ein Weihnachtsfest den Kindern tut. *
Den Wunsch der Sehnsucht, der sich nie ertullt,
der, wie das Lichtlein vor’m Marienbild
bei Tag verschwindend dennoch ewig brenn fc.
. J
Der Sehnsucht, die ihr eignes Ziel nicht kennt
und in der Erde hochstem Augenblick
noch immer staunend fragt: ist das das Gluck —
Manchmal ist ein ungewisses Tasten
in den H&nden, die sich such end n&hem
ganz wie Angst, dafi sie ins Leere faBten.
Eine Geste, wie bei blinden Sehern,
die das Schicksal kennen , kalt und ehern.
— Kenntnisse, die schwer auf ihnen lasten - —
Wie ein Schwarm von aufgeschreckten Hihem
sind sie, die des Fliehens miide, r as ten.
Und die Worte, die von Liebe sagen,
ringen scheu und schiichtem sich vom Munde
wie die HInde, achtlos ihres Tuns,
Pariser Sonnette
nicht mehr Kraft und Wunsch und Wfirme tragen.
Denn das Schwert der nahen T rennungss tunde
zittert kalt und gl&nzend fiber uns.
Und plotzlich stand ich dann in einer Halle,
sah eines Zuges Lichter schwindend blinken —
sah Menschen stehen und mit Tuchern winken -
und tat wie sie — und war nicht mehr als a lie.
Ich wunschte nur, dafi das Ger&usch verhalle,
um tief in dumpfes Schweigen zu versinken
und deiner letzten Worte Klang zu trinken.
Und wartete, dafi mich der Schmerz anfalle.
Ich sah in die Gesichter rings umher:
sie schienen mir wie tdrichte Grimassen —
ich schauderte vor meiner eignen Leere.
Mir war, ich miiflte in die Brust mir fassen
und mit den H&nden tasten kreuz und quer,
ob wirklich denn ein Herz darinnen wire . . .
4
Amerikanische Schuhe
Amerikanische Schuhe
Neue Schuhe miissen driicken. Ehrsame Schuhmacher-
meister yersicherten es und die TrSger der Erzeugnisse ihrer
Kunst glaubten es unter Schmerzen. Vielen schien dieses
Schicksal beim Kauf neuen Schuhwerks noch vor 25 Jahren
unabwendbar, sie trugen es auch in Geduld, wenn sie es nicht
yorzogen, der Bequemlichkeit zu leben und in Stiefeln zu
gehen, die ihr FuBmaB in der Breite und Lange ein kr&ftiges
Stuck uberragten. Fur sehr wohlhabende Kreise liefi sich
schliefilich auch damals schon anst&ndiges Schuhwerk auf-
treiben, aber fur den Durchschnittsburger waren Stiefel, die
guten Sitz mit netten Formen yerbanden, meistens seltene Zu-
ffille. Von einem Kauf der Schuhe in jenen „druckenden“ Zeiten
darf eigentlich nicht gesprochen werden , man kaufte sie nicht,
sondem bestellte sie. Feierlich erschien besonders in kleineren
und mittleren St&dten der Schuhmachermeister nach voran-
gegangener Aufforderung im Hause des Kunden, nach i4Tagen
Oder 3 Wochen erfolgte dann die Lieferung, deren Beschleunigung
durch t&gliche Besuche versucht werden muBte.
Mit dem Auftauchen der ersten grofien Schuhwarenliden
war dies Idyll gestbrt, um bald ganzlich zu yerschwinden. Zu-
yersichtlich hofften nun alte Schuhmachermeister auf den
Zusammenbruch dieses neuen Schwindels, wie sie den Vertrieb
fabrikm&Big hergestellter Schuhe nannten, sie bewiesen, daB
kein anstandiger Mensch Fabrikschuhe tragen wiirde, schon
weil gute PaBformen nach ihrer Oberzeugung durch Maschinen
nie hergestellt werden konnten. SchSn waren die Fabrikwaren
in den ersten Jahren gleichfalls nicht, aber sie hatten den Vor-
zug der Billigkeit, eine Eigenschaft, die ausreichte, um ihnen
bei den groBen Massen schnell Aufnahme zu yerschaffen.
Wahrend man in Deutschland noch eingehend und nicht
gerade kurzweilig dariiber diskutierte, ob die Schuhfabriken
auch bessere Erzeugnisse zu fabrizieren imstande sein werden,
war in Amerika diese Frage lange entschieden. Qualit&ts-
ware als Massenfabrikat hatte sich als moglich erwiesen,
und aus den Vereinigten Staaten meldeten Berichte, dafi die
verwbhntesten Anspriiche durch Fabrikschuhe Befriedigung
fanden. Dann erschienen auch auf dem deutschen Markte die
ersten amerikanischen Schuhwaren, deren Eleganz und solide
Ausfuhrung das Erstaunen der Fachwelt erregten. Mehr und
i
ago Amerikaniscfae Schuhe
mehr stieg die Einfuhr amerikanischer Schuhwaren, und heute
noch ist Deutschland ein wichtiges Absatzgebiet fur die
amerikanische Schuhfabrikation, obwohl diese Einfuhr jetzt im
Verhdltnis zu dem Gesamtbedarf an fertiger Qualit&tsware nur
winzig ist.
Aus dem deutschen Schuhhandwerk ist inzwischen eine
m&chtige Industrie ge worden , und zwar in. kaum mehr als
zwei Jahrzehnten. Charakteristisch ist dabei fur die Entr
wicklung der Schuhindustrie, dafi bei der gewaltig gesteigertem
Produktion nach dem Answeis der Gewerbestatistik in der Zeit
▼on 1895 bis 1907 die Zahl der Betriebe um mehr als 36000
zurUckgegangen ist und auch die Zahl der darin beschaftigten
Personen bedeutend sank.
Keineswegs hat sich indes die deutsche Schuhindustcie
von dem > amerikanischen Einftuft zu emanzipieren vermocht,
eine viel grdfiere Rolle als die importierten amerikanischen
Schuhe spielt heute die Abh&ngigkeit der deutschen Schuh-
fabriken von den amerikanischen Schuhmaschinem
Schon seit einer Reihe von Jahren ist die Schuhmaschinen-
industrie der Vereinigten Staaten vertrustet,, und dieser Trust,,
die United Shoe Machinery Company, eroberte sich eine wahr-
haft weltbeherrschende Stellung. Sein deutsches Tochter-
untemehmen ist die Deutsche Vereinigte Schuhmaschiuen-
Gesellschaft in Frankfurt a. M., die mit der Organisation
dee Trusts auch seine Geschdftsgepflogenheiten hierher ver-
pflanzte. Ein Verkauf von Maschinen des Trusts an Schuhe-
fabriken ist ausgeschlossen, der Maschinenvertrieb erfolgt alleiik
in. Form der Verpachtung. Darin ruht die besondere Technik.
dieses Trusts,, der neben dem Pachtpreis fiir die von ihm aus-
geliehenen Maschinen eine Abgahe fiir jedes Paar der darauf
hergestellten Schuhe bezieht. Eine unerschopfliehe Gewinn-
quelle fiir ihn ist ferner die an die Verpachtung geknupfte
Bedingung, daft die Mieter der Maschinen vam Trust auch
Faden, Draht, Metallband und noch verschiedene andere
W w ■■ r ■ - ’ ^ r ■ 1 L
Materialien zu dem jeweiligen Listenpreise beziehen mussen.
Gegen Burchbrechungen der Monopolherrschaft des Schuhe-
maschinentrusts sichert noch die Bestimmung desVertr ages, daft
Betriebe, die mit T rustmasch inen ar bei ten. keine Maschinen
anderer Fabrikate in ihren R&umen aufstellen diirfen.
Zweifellos ist es denn auch dieser Taktik zuzuschreiben,
daft die Erf edge der deutschen Maschinenf abriken , die sich mit
diet, Herstellung von Maschinen fiir Schuhbetriebe befassen,
trotz ihren groflen Anstrengungen und technischen Erfolgen. ver-
hSItaism&Big gering geblieben sind. Ueber die Betrfige, wekhe
Anoerikanische Schuhe
4
aui
aus deutschen Lizenzen dem amerikanischen Schuhmaschinen-
trust zuflieBen , llegen keine einwandfreien Schdtzungen vor, cs
mussen aber Riesensummen sein, denn die Abgaben fur ein
paar Stiefel schwanken zwischen 20 und 40 Pfg, Gegen eine
derartige Form der Invasion helfen keine Hochschutzzfllje und
keine Grenzsperren, die Ueberlegenheit des amerikanischen
Schnhmaschinentrusts in Deutschland kann nur durch Steige-
rung der technischen Leistungsfahigkeit der deutschen Maschinen-
industrie und durch eine umfassende Organisation der deutschen
Schuhfabriken iiberwunden werden. Leicht ist diese Aufgabe
nicht, denn der Trust legt sich im Besitz seines Monopols nicht
attf Polsterkissen , sondern arbeitet ununterbrochen an Ver-
besserungen seiner Maschinen und dem Ausbau seiner
Organisation. Krites.
*■ 1
1 1 ,
1
* ' I
29 2
Wie fiihlt sich der Parlaments-Kandidat
WIE FUHLT SICH DER PARLAMENTS-
KANDIDAT
■ i
die letzten Tage? Wie fiihlt sich solch ein Delinquent die letzten Stunden
vor der Ermittlung des SchluS-Resultats? — Das ist (o edle Binsenweis-
heit!) Temperaments- und auch Temperatur-Sache. Bitte, keine Furchtl
Ich habe nicht die Ahsicht, hier das beriihmte Thema „ Sommer- oder
Winter- Wahlen?" breitzuquetschen. Indessen: Wenn man an kalten
Dezembertagen und in bitterkalten Januam&chten zu FuB r im Wagen, im
Schlitten meilenweit iiber Land gezogen ist, wenn man in diesen Winter -
wochen ein halb Dutzend mal barhaupt unter freiem Himmel hat
reden mflssen, dieweil das fromm-biedere Gefolge der „staatserhaltenden“
Saalabtreiber sich’s in mollig geheizten R&umen bei Freibier undGratis-
schnaps wohlsein liefi, so bekommt unsereins die teutsche Reichstagswahl
auch einmal satt.
1 ■" 1 ■ ■ p
Vor allem aber deren preu8ischen Einschlag, den Er, der Hen:
Landrat und Sie, die hohe Kirchen- und Schul-Gewalt, und der lobliche
Krieger-Verein und die verehrliche Kreisblatt- und Provinzial-Presse so .
zierlich und so unmanierlich ins borussische Wahl-Gewebe zu wirken weiB.
Und dann: glucklich Ihr Herren Kollegen, die Ihr in Euren Kreisen
mit einem Gegner zu tun habt! Euch blftht blofl einmal das „Ver-
gnflgen* ‘ , von dem ich oben nur ein klein wenig den Schleier gel&ftet
habe. Wehe aber uns Armen, die wir um Wahlkreise werben, in denen
drei, vier, ja fdnf Pr&tendenten (wie hier in Grtinberg-F reystadt) um die
Palme ringenl Da gibts keinen Zweifel: ein zweiter Waffengang muB
sein; nur dafi man nicht weiB: Wird der Sozialdemokrat („als wie icke,“
wie man in unserem geliebten Berlin so reizend sagt) — wird er mit dem
konserva tiven Geheimen Kommerzienrat, oder wird er mit dem liberalen
Justizrat in die Stichwahl riicken
Ich kenne Reichstags- Asp iranten, die am Wahltag f iebern , und wenn
ihnen gegen 8 Uhr abends das ZeiB-Glas in die Achselhdhle legte ....
man wfirde Wunder erleben. Andere — und ich bin so glQcklich, zu
diesen zu gehoren — werden immer ruhiger, immer ruhiger, bis sie hoCh,
ganz hoch fiber der Geschichte stehen und das letzte WQrfelrollen, all die
Telegramme und Telephonate, ja schlieSlich sogar das End-Bulletin in
heiterer Gelassenheit iiber sich niedergehen lassen.
Am Abend gegen n Uhr hatten wir klaren Blick. Die Sozial-
demokraten reiten an der Tate, und unser Gegner ist der konservative
GroB-Industrielle, der zehnfache Million £r mit den vielen Aemtem und
den hohen. Titeln.
Die Kleinstadt-Polizei kopiert gem beriihmte Muster, und Jagow .
Berolinensis hats manchem Provinz- Kommissarius angetan. Im Grfin-
berger St&dtle waren durch die Orts-Moniteurs die Aufruhr-Edikte be-
kanntgegeben worden, wie wenn der rote Hannibal vor den Toren stfinde,
und am Abend nach der Wahlschlacht die gute alte Weinveste brennen
wollte ! Unsere disziplinierten Proletarier lachten sich aus, imd ich kann
293
Erinnerung — Der listige Wedekind
jedem, der etwa Wert darauf legt, es ausdrficklich versichert zu bekommen,
die erhebende Mitteilung machen, daO trotz unSeres strammen VorstoOes
eeder der pr&chtig patinierte Ratsturm noch das Landratsamt Oder auch
nur irgend eine Puderperficke hier ins Wanken geraten ist.
Wir gedenken , den Grfinberger Kreis, so der Freisinn nicbt versagen
Sollte , der Reaktion aus den blSulichen Fingern zu winden.
Scharf weht der Winterwind. Scharf wird der Wahlwind wehenim
zweiten Gang. Noch sch&rfer als im ersten. Wer Wunden ffirchtet, der
mag hinterm Ofen hocken bleiben.
Grfinberg, am 13. Januar 1912. Georg Davidsohn.
ERINNERUNG
Am 1. April 2911 schrieb im „Pan“ Alfred Kerr Einiges fiber flerm
J acobsohn. — Man h&tte glauben sollen, daO es ihm genfigen wird. —
Aber es scheint notwendig, die Rute wieder hervorzuholen. Die un-
gewaschene Brut rfihrt sich wieder, will den Leuten weifi machen, Bahr
habe in seinem „T&nzchen'‘ die Jagow-Aff&re gemeint, versucht vor-
zuschwindeln, daB ein anst&ndiger Mensch die schmierigen und widerlichen
Lfigen geglaubt h&tte, die sie dam als verbreitet hat.
Merkwfirdig, woher dieses armselige, verachtete Menschenkind immer
wieder den Mut nimmt, sich bemerklich zu machen. Haben die Worte
Kerrs ihn nicht in sein Mauseloch gejagt, scheinen Worte unwirksam.
Das ist firgerlich. Wie unangenehm, peinlich wire es, wenn man schlieB-
lich ihn doch zfichtigen miiBte. (Der zweite Schlag wfire eme Leichen-
schfindung, sagt der Berliner.) C.
A* *
+ ■■b
DER LASTIGE WEDEKIND. Wedekind protestiert. Jede Woche
und jeden Tag. In Mfinchen und in Berlin. Und fiberall beunruhigt er
das Publikum. Er protestiert gegen den Zensor und den Schauspieler,
den Theaterdirektor, das Pjblikum und den Joumalisten, gegen alle und
jeden. Kann er denn keine Ruhe halten? Er sehe auf Hauptmann.
Der schafft seine Werke und damit basta, klagt nicht und ruft nicht um
Hilfe, geht vornehm und ruhig seines Weges.
Mir f&llt eine Geschichte ein. Ein etwas unbeholfener und ver-
sonnener Freund hat sie mir erz&hlt.
Eines Nachts geht mein Freund fiber den Hohenzollemsteg und hfirt
unten im Kanal pl&tschem und schreien. Er beugt sich fibers Gel&nder
und sieht zu seinem Erstaunen einen Mann im Wasser verzweifelt um
sich schlagen.
„Wie sind Sie da hinein gekommen ' ruft mein Freund hinunter.
„Ich bin hineingefallen 1 '; gibt der arme Kerl zurfick.
Mein wenig geiste3gegenwfirtiger Freund erfafit die Situation nicht so
rasch, beugt sich tiefer fibers Gel&nde und schreit herunter: „Was tun
Sie da unten
Da wurde der Ertrinkende wfitend und brfillte im grobsten Ton zurfick:
„Ich versaufe". Und ▼eisoff. C.
294 Mitteilung
MITTEILUNG
Wir erhalten von Herm Hans Rosenhagen folgende Mitteilung mit dfer
Bitte, sie zu veroffentlichen. Wir erfullen den Wunsch des Herm Rosen-
hagen, mochten aber bemerken, daB wir niemals behauptet haben,
daB Herr Professor Justi einen Einflufl auf den Inhalt und die Tendenz des
Aufsatzes „Die Neuerwerbungen der Nationalgalerie 11 gehabt hat. Die
Mitteilung lautet:
„Zu den in Heft 3 und s des „Pan“ fiber meine Person gemachten Be-
merkungen erklare ich, daB ich den Posten des Sekretars der Koniglichen
Akademie der Kfinste weder erstrebt, noch mir irgendwelche Hoffnungen
auf Erlangung desselben gemacht habe, ja gar nicht habe machen konnen,
weil dieser Posten besetzt ist. Ich erklare femer, daB die Professorem
Arthur Kampf und Ludwig Justi keinen irgendwie gearteten EinfluB, auf
den Inhalt und die Tendenz meines im „Tag“, vom 14. Oktober v. J. ver-
offentlichten Aufsatzes „Die Neuerwerbungen der Konigl.National-Galerie‘“
gehabt, und daB ich niemals gegen irgendjemand geauBert, Professor Justi
stande hinter meinen in diesem Aufsatz gemachten AeuBerungen fiber die
Secession. 11 (gez.) „Hans Rosenhagen. 14
Wir bitten, Mitteilungen und Beitrftge nur:
An die Redaktion, Berlin W. zo, Victoriastrasse 5, zu adressieren.
Bei umfangreicheren Zusendungen ist vorherige Anfrage notwendig.
Sprechstunde: An Werktagen, mit Ausnahme des Montags, x — 3 Uhr,
Berlin W., Victoriastrasse 5.
Verantwortlich ffir die Redaktion: Albert Damn, Berlin-Wilmersdorf.
Gedruckt bei Imberg ft Lefson G. m. b. H. in Berlin SW. 68.
Friedrich
*95
• . - * ■■
Friedrich
i
Von EMIL LUDWIG
r ' ■ ’ :
Im GJeichgewicht beginnen viele Gestalten ihre Bahn, dann
wer den sie von den Ereignissen beunruhigt und enden ohne
Harmonie. Manche tragen von Anbeginn den Geist des Wider -
spruchs in sich, so tiei, dass auch die gliicklichste Entwickelung
sie riicht heilen kann. Wenige sind es, die treten ein voll Unruh,
Dunkelheit utid innerer Spaltung, dann aber werden sie in ihrem
Lauf von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewisser , werden klarer, bis
sie am Ende ihrer Bahn zu jener Harmonie gelangen, fur die sie
die Natur vorausbestimmt.
Zu diesen zahlt Friedrich.
. ^
Zwei Neigungen gef&hrdeten ihn : sein Hang zu ptatOnischem
Denken und zur' Lebensform des Weltmannes.
r
Zwei Ereignisse reiften ihn : der Zorn des Vaters und die
Foigen seiner ‘Ruhmsucht.
* *
*
Mit 16 Jahren war Friedrich kaum mehr als ein Zarter
hiibscher Knabe, die langen Locken wohlgekr&uselt, mit einem
Hang zu den Kdnsten der Frauen. Mit Recht schilt ihn der Vater
effeminiert, denn auf preussische Throne gehdrt kein van
DyckischerPrinz. Nun kommt er an den Dresdener Hof, der Rausch ,
die Feste uberfluten ihn. Friih sinnlich, schmachtend, weiblich wie
er ist, beginrit er mit einem Raffinement : sterblich verliebt er
sich in ein alteres, rassiges, heiteres Mftdchen (die schSne Gr&fin
Orzelska), die man in M&nnerkleidem kaum erkannte. Doch
als ihm dann auf einem Maskenfest eine andere SchSne,, wenig
verhiillt, hinter einem Vorhang gezeigt und angeboten wird, ver-
lasst er die Gr&fin. Von nun ab tanzt er leidenschaftlich.
Wieder in Berlin, wird er schwermiitig und dichtet die ersten
Liebesoden. Dies ist der Auftakt einer hdchst unpreussischen
Prinzenbahn.
fer ist nicht mutig von Natur. Sein Vater schilt ihn, dass er
sich so schm&hlich behandeln lasse, doch als er ihm antrSgt
auf die Krone zu verzichten, um dafiir seinen Neigungen zu leben,
lehnt Friedrich dies entschieden ab. Es foigen die zweim&ligen
Versuche zur Flucht, in Steinfurth und in Wesel. Beide scheitem.
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War ihm zu wiinschen, dass sie gluckten ? Was w&re aus ihm in
England geWorden, aus diesem haltlosen jungen Herm ? Sofern
er zur Harmonie in reiferen Zeiten ausersehen war : hier muflte
j . . 1 ■ P
er J stTaUCheln und Strafe leiden. •
2p6
FjrtaJrich
Er schwdrt, nie werde er nachgeben. Zwei Monate sp&ter,
in der Kiistriner Zelle. schwdrt er : alleszu tun, was der Vater
verlange, dem Kdnig wie ein. Knecht zu gehorchen. Nach Kattes
Tode zittert er vor allem fur sein Leben, misstraut dem Prediger,
der ihm berhhigendes Wasser reicht, misstraut nocb seinem Zu-
spruch, cten er fiir letzte Trostung vor dem Tpde nimmt. ...
Minnlicher in jedem Betracht, kehrt er in Freiheit und
Stellung zuriick. Hier begann seine Verschlossenheit, seine
Gottesfurcht, seine dynamische Orientierung.
Verldbnis und .Ehe nimmt er, bei allem Abscheu vor der Aus-
gew&hlten, gern an als Mittel zu grosser er Freiheit. Da diesen
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geistigen, den eigenen Vdtern fremden Mann nie der Gedanke
der Generationen fasste, blieb er recht froh ohne Kinder und
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hat den Wunscn nach solchen , auch nach illegitimen, Rentals
ausgedruckt. Seine Unruhe hat andere Quellen.
Credo des 20 jShrigen : „Ieh bin ail mein Lebtag unglQcklich
gewesen, vielleicht dass ein pldtzliches Gluck auf all den Ver-
druss mich zustolz gemacht hatte. Es steht mir noch immer
eine Zuflucht often : ein Pistolenschuss kann mich von diesem
Leben und Leiden befreien. Ich fiihle, wenn man jeden Zwang
so hasst wie ich, dann treibt einen das heisse Blut immer zum
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Extreme hin. — — —
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Die Jahre von Rheinsberg gelten fiir Friedrichs gliickhchste
Zeit. Es war nur seine ruhigste, war eine Vorwegnahme des
■ J * ' L ' * ■ l*| l' P I »■
25 j&hrigen, der 20 Jahre sp&ter in Sanssouci dieselbe Lebensform
zur Reife brachte. Ein junger Mensch, ganz unerprobt, , sehr
tatenlustig, nicht in der Lage abzusehn, wann er zum Handeln
berufen wiirde, lasst sich von Knobelsdorff auf das Portal
* , -
seines Landhaiises meisseln : Frederico tranquillitatepi colenti. —
1 * - ' . j 1 4 - 1
Lustschiffe auf dem See, er selbst als Liebhaber den Philpktet,
den Mithridates spielend, spielerische Griindungen von Ritter*
orden, die den altfranzdsischen Ritterstil erweckten, viel unge-
priifte, schone Sltze bei Tisch, Prachtausgaben der Kenriade,
Herbeiholung der neuesten Schriften des Voltaire aus Paris, von
Friedrich „mein goldenes Vliess“ genannt, Abfassung mittlerer
Verse im Geschmack der Zeit : gleicht dies nicht Kdnig Ludwigs
Fantasien?
■ ^ - ’■ , . , ’ P j » - ■ . I *
Doch hier sind es die Ziige einer Resignation : aus Glttcks-
bestreben sich zum Platoriiker zu stempeln, da man vom Handeln
ausgeschlossen ist.
Ich gehdre zur Klasse der betrachtenden
Menschen, was sicher das Angenehmste ist/*
herrische Verschlossenheit. Das Ansrenehmstc
Man spurt . die
herrische Verschlossenheit. Das Angenehmste ? Warum . dann
nennt er Verse und Weltweisheit nur „Trost** in schlinunpn
Tagen, „hur Berauschung im Gliick“ ? Gehdrt zur Klasse der
Friedrich
397
^ T h ' , - *
Betrachtenden , wer aus der gesamten Philosophic sich stets nur
fffir Moral interessierte, die der Lebendige sich noch am meisten
fruchtbar machen kann ? Die Metaphysiker verachtet er und
setzt sie mit gewissen chinesischen Gehei mniskr ftmern in Ver-
gleich. Und als man ihm Wolffs Metaphysik fiber tragen und ab-
geschriebefi hatte, nahm ihm einer jener exotischen Sonderlinge,
die er in den Zimmem hielt, nahm ihm ein Affe die Arbeit ab
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und steckte das Werk unaufgefordert in den brennenden Kamin.
Das Buch vom Ffirsten hat er falsch verstanden, es war allein
fflr jene Zeit geschrieben, ein italisches Vademecum, um 1500,
das niemand nach ^00 Jahren im kalten Preussen wider legen
musste. Doch nicht zuerst aus ethischer Leidenschaft : aus
* p
Tatenlosigkeit, Kronprinzentum ist der , , Anti-Mac chiavell" ge-
schrieben, wie Friedrich selbst Voltaire andeutet. Man ist geneigt,
seine Leidenschaft fur dies pathetisch-zynische Genie als Signum
seines Inneren zu iiberschfttzen. Voltaire war fiir Friedrich nur die
Blttte eines Geistes» einer Sprache, in die sich notwendig ver-
senken musSte, wer um 1740 Geist besass. Wie hiessen denn
die grossen deutschen Kdpfe, die Hamals wirkten ? Die
„Grossen‘* waren samt und sonders ungeboren.
Den Prinzen schiitzte vor Ueberwucherung des Literarischen
sein Temperament, auf der Lauer.
Credo des 37 j&hrigen : ,,Ich fange endlich an, die Morgenrdte
eines Taees aufdSmmern zu sehen. der meinem Auae noch
nicht Vollst&ndig leiichtet.
ii
eines Tages aufd&mmern zu sehen, der meinem Auge noch
nicht Vollst&ndig leiichtet/* ]Und ein anderes Mai : „Es soli doch
eine Lust sein, ganz allein in Preussen Kdnig zu sein !“
a a
♦
Mit 17 ein durch Zwang d&monischer, mit 37 ein durch Zwang
platonischer Mensch. Die Synthese war ein Kdnig.
; Nun endlich, frei von jeder Ndtigung, brach Leidenschaft
sich durch. Ins Erotische konnte. sie sich nicht wenden : „Ich
liebe daS weibliche Geschlecht, aber meine Liebe zu ihm ist eine
sehr flflchtige. Ich suche nur den Genuss und hemach verachte
ich es.“ Sie wurde Ehrgeiz, wurde Ruhmsucht. Dieser Mann
wird von der Gloire erfasst und hingerissen.
Wenige Monate ist er Kdnig: und schon benutzt er den ersten
Anlass, Karls VI. Tod, um alte Forderungen auf Schlesien zu er-
heben. Kaum ahnt er, was er tut, — - was ganz Europa toll nennt.
An die Generale: „Ich denke meinen Schlag am 8. Dezember aus*
zufiihren und damit die kiihnste, durchschlagendste und grdsste
Untemehmung zu beginnen, deren sich jemals ein Fiirst meines
HaUSes unterfing/* An den Freund Jordan : „Mein Alter, das
Feuer meiner Leidenschaft, die Sucht nach Ruhm, nach Neugier
selbst, um Dir nichts zu verschweigen, kurz ein geheimer Instinkt
21 *
4
i
2^0
Friedrich
hat mich aus der siissen Ruhe gerissen und die Genugtuung
meinen Namenin den Zeitungen und dann im Buche der Ge-
schichte zusehen, hat mich verfuhrt." Dies ist Friedrich, der von
sich sagte, er konne sich einer Sache nicht halb ergeben, ,,ich
muss immer kopfiiber hinein“.
Auf dem Kampfplatz erschrickt er dariiber, was er gewagt.
Vor seiner ersten Schiacht, bei Mollwitz ist er geflohen und erst
nach 16 Stunden wieder erschienen, als alles vorbei und gewonnen
war. Er war noch kein Feldherr, aber ein Genie. Ein Schlachten-
held, einer, der die Schiacht als Exzitation liebte wie Napoleon,
ist Friedrich nie geworden. Er hasste die Jagd und liebte den
Tanz. Zu jener Zeit war er so wild, wie ein Kalender ihn darstellt,
der ihn dem rasenden Roland verglich. Alles sprengte durch. Die
Macht, die endlich seine Faust umspannte, war er gesonnfen
griindlich zu nutzen.
Am Tage, in der Stunde der Thronbesteigung hatte er sich
bereits als Autokrat erwiesen. Der alte Dessauer fuhr zusammen.
Friedrich war tolerant, doch hasste er die Menge. Kanaille, das
war das Wort, das der Aufgekldrte Konig gern gebraucht. Eine
burleske Leutseligkeit machte ihn erst sp&ter popul&r. Er liebte,
wie jeder Offizier, nur seine Soldaten.
Zwei iiberraschend schnellen Kriegen folgte ein Jahrzehnt
der Ruhe. In Sanssouci wurde Friedrich zum Weltmann. ,,Wenn
Sie hierherkommen,“ schrieb er Voltaire, „so sollen Sie an der
Spitze meiner Titel stehen : Friedrich, Konig von Preussen,
Kurf urst von Brandenburg, Besitzer von Voltaire . . Dies
ist symbolisch . Er sammelte Philosophen um sich, wie einst
sein Vater Lange Kerle gesammelt hatte : als Liebhaber, doch
nicht als Philosoph. Das war so auffallend nicht. Gab es damals
nicht Philosophen, die Gesandte waren, und Fursten, die liber die
Freiheit des Willen schrieben ? „Ein Mensch“, schrieb Friedrich,
„der die Wissenschaften pflegt und ohne Freundschaf ten lebt, ist ein
gelehrter Werwolf. Nach meiner Ansicht ist die Freundschaft iu
unserem Gluck unerldsslich.“ Niemand lebte geselliger wie er,
— als „Philosoph von Sanssouci*' hatte er einsam leben miissen.
Freilich glich dieser Hof , dur chaus nicht dem in Rheinsberg.
Nun war Friedrich der Konig, nun hatte er Macht vor sich, Ruhm
hinter sich, nun hatte er Freiheit und Geld, nun war er — Konig,
hochgebildet und Genie — geschaffen einen Weltmann grossten
Stiles darzustellen* Alles, was nicht den Staat betraf , betrieb er
als Liebhaber mit den anderen im geselliger. Stil des RokokO :
&iefe, Memoiren, Essays, das Fldtenblasen selbst, das ihn >zur
weilen, wie er berichtet, zu neuen Gedanken angeregt, indem er
es prominierend gedankenlos ilbte.; :
Friedrich
Dieser Platoniker lief sich selber nach : schon 1746 schrieb
■
er'die Geschichte seines zweiten Krieges, der 45 geendet hatte,
Doch da er ein grbsserer Feldherr war als ein Skribent, kam seine
Feder nicht mit. Als Weltmann schrieb er franzdsisch, jedoch so
unorthographisch wie deutsch, und es war nicht nur die Recht-
schreibung, was franzdsische Sekretire ihm verbessern muss ten.
Seine beruhmten Worte sind fast durchweg deutsch gesprochen
worden. Die deutschen Marginalen enthalten die ungewollt
preussische Philosophic.
Zeichen wunderbarer Reife sammeln sich allenthalben. Er
errichtet eine Gruft fiir sich, iiberbaut sie mit einem schlanken
Socket, auf dem eine marmorne Flora ruht. Zu diesem Wahr-
zeichen Von Tod und Leben blickt er t&glich vom Fenster hintiber.
Credo des 35 j&hrigen Markers : „Ich liebe den Krieg um des
Ruhmeswillen, aber wenn ich nicht Fiirst wire, wiirde ich*nur
Philosoph sein. Schliesslich muss in dieser Welt jeder sein Hand-
work treiben." — — - —
Die schweren Folgen seiner ersten leichtsinnig-genialen
Untemehmung reiften den Konig vollig aus. Nun erst, in jeneiri
•m
Krieg von sieben Jahren.gewannen seine Gaben ihre hochsteForm.
Die grossen Gefahren steigen auf, die tiefen Depressionen, die ihn
gekl&rt. Gleich im ersten Kriegsjahre hat er mehr Verse in
3 Monaten geschrieben als je im ganzen Jahr : so viel Entlastung
brauchte seine Seele. Er gab sich auf (nach Kunersdorf) Thron
und Leben gab er verloren und redete schon den Neffen als Kdnig
an. Im Getlimmel der Schlacht hatte er gerufen : „Gibt es keine
verwiinschte Kugel fiir michl 44 Kurz darauf : „Herr, er liigt :
ich habe keine Kanonen mehr ! 44 Und nach Kolin (der einzigen
Schlacht, in der Friedrich den Degen gezogen) sagte er zum
jungen Grafen von Anhalt : „Wissen Sie nicht, dass jeder Mensch
seine Schicksalsschldge haben muss ?“
Berlin, Potsdam, Sanssouci fillt in die Hand der Feinde,
der Kdnig konnte nicht wissen, wie nobel sich diesedort verhalten
warden. Dies waren, trotz alter Strenge der Jugend, zum ersten
Male Schltge eines GeSchickes, das der eigene D&mon herbei-
genifen. Da sich lawinenartig nhh vergrdssert, was er dereinst
selber ins Rollen gebracht, wird Friedrich immer strenger, pflicht-
bewusster. SOllte er gefangen wferden, '-'so verbietet er. irgend
i ^ ■ 4 4
welche Entschidigung fiir ihn zu zahlen. Er fiirchtet nicht deil
Tod; worn aber den Schmerz : „Der Schmerz ein SSkulum, der
Tod ein Augenblick 44 . Nun wird es ihm mit einem Maleklar, dass
er nicht zur „Klasse der Betrachtenden“ gehore : „Es scheint,
scbreibt er an D'Argens 1761, „dass wir vielmehr ztlm Handeln
als zum Denken geschaffen sind. 4 ‘ — Es scheint ...
300
Friedrich
Ermiidet kehrt der Siegreiche heim.
Credo des 55 jihrigen : , ,Ruhm ist eitel. Verdienten Menschen
je eine Lobrede ? . • . . Man hat sie nur geriihmt, weil sie Linn
gemacht haben.“
* *
*
Im kleinen Hause sitzt der grosse Mann. Zw&nzig JahTe
segnet dieser wunderbar gekl&rte Sinn seine Linder. Nun gab es
keinen Voltaire mehr, keine Tafelrunde. Die meisten Franzosen
hat er davon gejagt. Die Schwester — der einzige Mensch, den
Friedrich im Leben geliebt — ist tot. Er baut ihrem Gedichtnis
einen Tempel. Zeitlebens hat er Freunde gesucht, kaum einer
hat ihm die Treue gehalten. Die Generate, die er liebte, waren
dennoch seine Freunde nicht. Fouqui und Lord Keith sind da und
altera neben ihm. Ihnen schickt er hundert jihrigen We in, er-
sinnt Instruments, da sie die Sprache, Rollstiihle, da sie das Gehen
▼erlernen.
Ganz klein hat Menzel es gezeichnet : wie Friedrich
neben dem Rollstuhl des Freundes die Terrasse abschreitet, er
selber noch riistig. Dann sterben sie, sterben auch die Entfernten,
mit denen er korrespondierte: Voltaire, D’Alembert. Die Flote
blies der Konig nun nicht mehr.
Der Alte Fritz arbeitet. Man muss die Berichte lesen : wie
dieser Konig buchstlblich am Morgen nach der Heimkehr aus
dem Kriege die innere Arbeit des Landes systematisch beginnt.
Verwustungen waren in dem neuen Lande. Er loscht sie; aus.
Er trocknet Moore, pflanzt Wilder neu, schafft Wege und un-
zihlige Gebiude. Nach einem grosse n Leben voll Leidenschaft
und Betrachtung, voll Wildheit und Kiihle, voll europiischer
Pline und Weltwirkung, gleicht seine reifste Weisheit der des
▼ollendeten Faust.
■ h ■■
Credo des 70 jihrigen : „Wer seine Lindereien verbessert,
unbebautes Land urbar macht und Siimpfe austrocknet, der ge-
winnt der Etarbarei Eroberungen ab.“
Er ist einsam, verschlossen. Den Nelfen, den er am meisten
liebt, verliert er. Nur die Here sind noch um ihn. Die Windhunde
liegen auf seinen Sesseln, in seinem Bett. Wenn sie sterben,
begrabt sie der Kdnig unter Marmortafeln, neben den Bildsiulen
Rbmischer Kaiser. Condi, der Schimmel, lluft frei umher und aul
den Herm zu, der ihm Friichte gibt.
Sein letzter Besucher heisst Mirabeau. Es ist — Fortinbras.
Friedrich ist, auf einem Wege, unendlich ▼erschieden yon
Goethes, zuletzt zu einer Hermonie gelangt wie dieser. Seine
letzten Worte waren: ,
„Le montagne est passi, nous irons mieux.“
Gediditfe
Gedichte
Von GEORG HEYM
•#
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Diesen jungen Dichter hat in der letzten Woche der Tod weggeholt, als
er ebon die starke Jugend und die Eigenart seines Erlebens (in Verse um-
gegossea) auf eine grdBere Zahl von Menschen, darunter die Besten,
wirkensah. Seine Gedichte, mehr oder weniger „reif“, aber stetsMitteilungen
einer frischen und ganz unserer Zeit gehdrenden Kraft, hatten eben
in Eulenberg einen Leser gefunden, der ihm mit guten, herzlichen,
__ „ w _. J WWW » * Piititllnirr. #- « < TfJt- J n MM (| r ntifl -*-
^verioeE&cKeu imt 1 orient dcm iiifiojuUKiUxxi empt-juii* * tu ossi jjaTEm scjBne© dr ©mu
paar Seiten, so voll j ungem Hafi und Zorn fiber die Wahlen, daB wir sie
nicht drucken konnten, dann gab er uns diese Gedichte und ging aufs Eis.
Er woUte Schlittschuh laufen, und die Tficke des frostigen Winters tdtete
ihn, der gewifi leben wollte, der am Anfange eines schdnen Weges war.
Der Sonntag 1
Unter den bauchigen Himmeln, die schwer
Ober den Totenacker der Felder gelegt,
Auf den hohen Gebirgen von Schutte bewegt
Sich die Wandrung von Menschen langsam einher.
Dicke ' Rucken, grofie Hiite, unformlich und alt,
Und m&nchmal behutsam ein riesiger Bauch
Und h inter ihnen, groB, und verlassen vom Rauch
Starret der Schomsteine dorrender Wald.
-P
Ober verregnete Wege und Lachen voll Wiederschein
Morschen Ge wo Ikes setzen sie hinten ihr Storchenbein
Ferner, in leere Fernen, und werden klein,
Hier und da, auseinander, wie Striche fein,
Irrend im dden Abend herum,
* r
Und die Locher der Wolken stehen wie Hdhlen rund tun.
Halber Schlaf
1 *■
*
Die Finstemis raschelt wie ein Gewand,
r
Die B&ume torkeln am Himmelsrand.
Rette Dich in das Herz der Nacht,
Grabe Dich schnell in das Dunkele ein,
Wie in Waben. Mache Dich klein,
Steige aus Deinem Bette.
Etwas will iiber die Briicken,
Es scharret mit Hufen krumm,
I-
Die Sterne erschraken so weifi.
Und der Mond wie ein Greis
Watschelt oben herum
Mit dem hfickrigen Riicken.
Der Winter
Der Sturm heult immer laut in den Kaminen
Und jede Nacht ist blutig-rot und dunkel.
Die Hauser recken sich mit leeren Mienen.
Nun wohnen wir in rings umbauter Enge,
Im kargen Licht und Dunkel unserer Gruben,
Wie Seiler zerrend grauer Stunden Lange. .
K
Die Biihnen-Perspektive in Japan
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1 T . • J
Die Buhnen-Perspektive in Japan
Von CURT GLASER
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' :
. *
Es ist nichts schwerer, als sich von Begriffen frei zu machen,
die im sprachlichen Ausdruck feste Form gewonnen haben, und
mit den Mitteln eben dieser Sprache die Vorstellungen eines
fremden Kulturkreises zu erortem , in dem gewisse und ge-
lAufige Gedankenreihen immer fremd geblieben sind. Es ist in
diesem Sinne beinahe unmoglich, eine klare Definition dessen
zu geben, was wir in unseren Worten die Perspektive der japa-
nischen Malerei nennen miissen, und nicht viel leichter ist es,
das Problem der Biinenperspektive, die nur ein Teil der kiinst-
lerischen Perspektive Uberhaupt ist, zu bshandeln.
Bereits die Worte Buhnenperspektive in Japan sind ein
Widerspruch in sich, denn eigentlich perspektivische Absichten
fehlen der japanischen BUhne ganz, und das, wo von hier die
Rede sein soil, ist eben diese Negation perspektivischer
Wirkungen im japanischen Theater.
Und doch ist das Wort unumg&nglich , da es uns an der
Stelle so gel&ufig isc, dab es eines umst&ndlichen Denkprozesses
bedarf, um eine Vorstellungsweise zu interpretieren, die ohne
den Begriff auskommt, den unser Wort bezeichnet. Der Be-
griff Perspektive in unserem Sinne ist dem Ostasiaten fremd. Die
Forderung perspektvischer Darstellung taucht nicht auf, wo jede
Absicht auf illusionsm&Bige Wirkung von vornherein fehlt. Und
selbst das Wort Illusion Uberhaupt, das bei uns zur Grundlage
eines ganzen, allerdings griindlich verfehlten dsthetischen Systems
gemacht werden konnte, ist ebenso wie seine Negation in Wahr-
heit nur irreftihrend in der Diskussion asthetischer Werte der
japanischen Kunst, da der Gedanke an illnsionsmdSigd Wirkung
nienaals die darstellende Kunst beschwerte.
Die perspdctivische Wirkung ist nur ‘ ein Teil der illusions-
mdfiigen Uberhaupt, und wenn hier nur von der BUhnen-
pdrspektive die Rede sein soil, so bedeutet das die Ausldstmg
eipes Einzelzuges aus dem Bilde des Ganzen, allerdmgs eines
besonders charakteristischen Zuges, der seinerseits wiedef ge-
eignet ist, den Allgemeincharakter dieser alien . uns , gel&ufigen
Begriffen : so. fremden Kunst zu ierheBen.
: 'rWer 'zum erStenmal ein japanisches Theater betritt, wird
sich nicht so bald der prinzipiellen Verschiedenheit von dem
europ&ischen . Schauspielhause bewufit . werden . Es gibt auch
3®4
Die Biihnen-Perspektive iri Japan
hier ein Parkett, alter dings nicht mit Sitzreihen , aber es ent-
spricht der japanischen Gewohnheit iiberhaupt, ddB man nicht '
auf Stiihlen sitzt, sondern am Boden kniet. Und man nimmt
es wohl als natiirliche Folge hiervon, dafi das Parkett tiefer
liegt, und die zwei G&nge, die es seitlich durchqueren, hdher,
in gleichem Niveau mit der Biihne. Eine schmale ringsum-
laufende Zuschauergalerie vervollst&ndigt gewohnlich das Bild
des Innenraumes des japanischen Theaters.
i
Die Biihne wird durch einen Vorhang abgeschlossen wie
bei uns, aber sie hat die voile Breite des Hauses, und so fehlt
der Rahmen, der den Vorhang faBt. Diese Rahmenlosigkeit
des Vorhangs und mit ihm des Biihnenbildes ist das erste
greifbare Sy mp tom der durchaus verschiedenen Wirkungsart
der Biihne in Japan. Sie allein wire imstande, AufschluB zu
geben iiber die prinzipielle Divergenz der Absichten des
japanischen und unseres europiischen Schauspiels.
Das Biihnenbild vermag so gut wie das gemalce Bild in
Japan das isolierende Moment des Rah mens in unserem Sinne
zu entbehren. Das europiische Gemilde hat den Charakter ’
des Ausschnitts. Denkt man es sich flach aufgelegt auf ein
Sttick Seide wie das japanische Bild, so ist es ohne Grenzen .
Es braucht die Fassung von auBen. Das japanische Bild hat
seine Erfiillung innerhalb der eigenen Fliche. Es streift nicht
die illusionshafte Wirkung, die durch Fortlassen der Rahmung
im europiischen Bilde leicht zum Panorama- und Panoptikum-
witz herabgewiirdigt werden kann. Und so braucht die
japanische Biihne nicht den Rahmen, weil sie nicht den Aus-
schnitt eines Wirklichen darstellen will, sondern ihre eigenen
Daseinsbedingungen hat, ihren eigenen Gesetzen folgt.
Die Biihne ist nicht eines, der Zuschauerraum ein anderes,
sondern beide stellen in Wahrheit ein einheitliches Raum-
ganzes dar. Der Vorhang trennt nicht zwei gesonderte
Riumlichkeiten, sondern er dient nur dem praktischen Zweck,
den Hintergrund des Raumes wihrend groBerer Verwandlungen
den Blicken d« Zuschauers zu entziehen. Die Biihne aber
erstreckt sich in Wahrheit durch den ganzen Raum, von der
Eingangsliir, durch die der Schauspieler auftritt, bis an die
RUckwand . Das Theater ist nicht ein groBes Haus ffir Zu-
schauer, an das ein erhdhtes Podium, die Biihne, angebaut ist,
sondern das Theater ist das Haus, in dem das Spiel vor sich
geht, in dem die Helden der japanischen Geschichte wieder
lebendig werdm, und die grausamen Schicksale einer kriege-
rischen Vergangenheit an jedem Tage neu sich erfiitlen. ;
Kulturgeschichte k la frtn^&iie
; * ■ ' ■ * ‘ , ■
■ d ■
Kulturgeschichte & la frah^aise
Von FRITZ MOLLER
■
' *■ ■ * - +
Vor mir liegt ein Schulbuch:
Petite Histoire de la Civilisation franqaise. Des Origines
jusqu’cL. nos jours. 430 gravures. Par Alfred Rambaud, Membre
de l’lnstitut, Professeur k l’Universitd de Paris. Erschienen ist
es bei Armand Colin, Paris 1908.
Zweck des Buches ist, den Anteil Frankreichs an der
Kulturgeschichte der Menschheit darzutun und den Zusammen-
hang zwischen dem einen und dem andem aufzuweisen. Ein-
gefiihrt ist diese Kulturgeschichte an den franzdsischen
Elementar- und Mittelschulen. Auch in der Schweiz ist sie
■
viel verbreitet. An der Hoheren M&dchenschule von Zurich
■
zum Beispiel wird sie benutzt. In der Vorrede heiBt es : „Les
41 &ves doivent l’avoir entre les mains, le lire et le retire avec
attention, jusqu’i presque l'apprendre par coeur." (Der
Sperrdruck steht so im Buche.)
Folgendes habe ich aus dem Buche gelernt:
Das Leuchtgas ist gegen 1800 von dem Franzosen Lebon
entdeckt Borden (Seite 233), dessen Erfindung aUch nach
England kam. — Dafi dort schon 1727 und 1739 die Engender
Hales und Clayton aus der Steinkohlendestillation dasselbe Gas
gewannen, ist fur unser Buchlein nicht von Interesse.
Der Erfindung der Rtibenzuckerfabrikation wird auf
Seite 232 ein grofies Bild gewidmei. Dafi es sich dabei um
die Entdeckung eines deutschen Chemikers Marggraf im
Jahre 1747 handelt, ist unerheblich.
Seite 233 steht: „Im Jahre 18x0 set zee Napoleon eine
Million Franken aus ftir die Erfindung einer Flachsspinn-
maschine. Siebenundsechzig Tage sp&ter nahm der Franzose
Philippe de Girard sein Patent." Fix, nicht wahr? Nur
vergifit es das Buchlein leider, des Eng lenders Arkwright auch
nur mit einem Wort Erw&hnung zu tun, der schon vierzig
Jahre vorher die Unbescheidenheit hatte, seine Spinnmasdtine
zu erfinden.
Dafi die Eisenbahnwagen zuerst in England lief en, wird
zwar auf Seite 253 zugestanden , aber der Name Stephenson
versch&mt verschwiejgen, wohl aber (in Fettdruck) mitgeteilt,
dafi Herr Seguiri im Jahre x 826 die erste Eisenbahnkonzession
fur St. Etienne — Lyon erhielt. ’•
308
Kulturgeschichte A la frah^aise
Dafi der Graf JoufJfroy d’Abbans schon im Jahre 1776
auf dam Daubs mit dam ersten Dampfschiff fuhr (Seite 170)
ist um so erstaunlicher, ab das erste brauchbare Dampfschiff erst
dreifiig Jahre sp&ter von Fulton den Hudson hinaufdirigiert
wurde.
Wie erstaunlich der Zufall wirkt, ersehen wir daraus.
taut Seite 169 der Blitzableiter zu gleicher Zeit im Jahre 1752
von den Franzosen Dalibard, Buffon und Romas und — auch
^ 4
von Franklin erfunden wurde. Franklin wird also seinen bis-
herigen vollen ‘ Entdeckerruhm klinftighin auf eip Viertel
herunterschrauben miissen.
A r
Nicht minder verwundert diirfte Stephenson sein, aus Seite
169 zu erfahren, daB der Franzose Cugnot schon im Jahre
1769 den ersten Dampfwagen konstruierte, so daft der Eng-
Iftnder also voile 35 Jahre mit seiner Erfindung zu spftt ge-
kommen ist. Es geschieht ihm also ganz recht, wenn er . in
dieser Kulturgeschichte nicht beriicksichtigt wird.
Er. teilt damit das Schicksal Watts, der so unhbflich war,
■ L * . 1 ■ < • ^ *
seine Dampfmaschine schon i 769 zu konstruieren, trotzdem der
erste verniinftige Dampfke.ssel laut Seite 252 erst von dem
schon fruher erw&hnten Seguin erf unden wurde.
Schon 1803 hat laut Seite 253 Dallery die Schiff s-
schraube erfunden und damit die wirkliche Erfindung des
Osterreichers Ressel im Jahre x 829 um voile 26 J ahre voraus-
geahnt.
E
Auf Seite 268 befindet sich bei Besprechung der Rotations-
presse eine solche Presse mit dem Aufdruck „MarinOni“, ron
dem deutschen Erfinder K6nig aber steht kein Wort dabei.
DaB laut Seite 75 der gotische S til ein Pariser Artikel
ist, miissen wir Deutsche freilich wohl oder libel verwinden.
Der Franzose Faye hat laut Zeugnis auf Seite 288 die
Kometenbahnen als erster erkldrt, trotzdem wir Ign oran ten
dieses Verdienst bisher allgemein Newton zugeschrieben haben.
Femer hat der Franzose Pierre Jules Cdsar Janssen (sprich
Schangsang) schon im vorigen Jahrhundert die wahre Natur
der Sonnenflecken erkl&rt, w&hrend uns heute nochaufden
Hochschulen mitgeteilt wird, dafi wir darliber noch nicht im
Klaren sind.
Was mich gewimdert hat, ist, daB das Btichlein die Er-
findung der Buchdruckerkunst doch dem Deutschen Guten-
berg zuspricht, obgleich ich in einer Histoire fran^aise fiir
Mittebchulen noch vor wenigen Jahren den Nameh eines Slid-
franzosen dafifc eingeSetzt fand.
A *
4
Kulturgeschichte & la francaise
• L4.
Seite 292 klfirt uns dariiber auf, dafi die Agrikultur-
chemie ihre Fortschritte im vorigen Jahrhundert in ecster
Linie den Herren Boussingault und Payen verdankt. Von
Liebig, hat der Verfasser des Buchleins nie etwas gehdrh
Auf Seite 296 wird mitgeteilt: ,, Unsere Industrie schUigt
jede Konkurrenz in alien Artikeln, zu deren Herstellung Geschick-
lichkeit und Geschmack notig ist.“ Ja ja, fiber den Geschmack
1st eben nicht zu streiten.
Das elektrische Licht verdanken wir dem Franzosen
. : ■ *. ' : r r ‘ * *
Rdgnier (Seite 209) in erster Linie. Der Englftnder Swan und
der Amerikaner Edison wird beil&ufig dazu erwdhnt.
Auch der Phonograph wurde nicht etwa Ton Edison, sondern
laut Seite 290 zuerst von dem franzdsischen Buchdruckerei-
korrektor Lion Scott entdeckt.
^ , %
Nicht Siemens, sondern der Franzose Gramme hat 1871
die Konstruktion der Dynamomaschinen „mit ungeheurer
Kraft 4 * (d’une force inorme) inauguriert. So steht es wenigstens
auf Seite 290.
Eine Seite sp&ter ist zu lesen, dafi der franzdsische Ingenieur
Deprez schon im Jahr 1881 gezeigt habe, wie man elektrische
Kraft auf weite Entfernungen nutzbar macheh kdrtne.
Das tats&chlich aber erst 1891 auf der Frankfurter elektrischen
Ausstellung das Problem auf 175 km von Lauffen am Neckar
wirklich gelost wurde, davon weifi das Bfichlein nichts.
„Im Jahre 1829 assozierte sich Niepce mit Daguerre, um (!)
die Photographie zu erfinden 44 , ist auf Seite 3x1 zu lesen. Dafi
schon 1802 die Engl&nder Wedgewood und Davy simtliche
photographische Prinzipien feststellten, ist ja wirklich gleich-
giiltig.
Die Tatsache, dafi Thimonnier im Jahre 1840 den fur die
wirkliche Nahmaschine vdllig belanglosen Kettenstich fand,
genfigt dem Buche, um diesen Mann als Erfinder der Nih-
maschine zu bezeichnen, obgleich es bekannt gen.ug ist, dafi die
Erfindungen eines Hunt und Howe in New York im Jahre X834
diese Maschine ins Leben riefen.
Von der Spektralanalyse erz&hjt das Buch an ver-.
schiedenen Stellen eine Reihe von D ingen. Dafi die Deutschen
Kirchhoff und Bunssen sie begrfindeten, wird verschwiegen.
Als den Erfinder der drahtlosen Telegraphie nennt das
Buch in erster Linie den Pariser Branly, w&hrend bisher alle
Welt darin emig war, dafi dieser Ruhm dem Italiener Marconi
zuik&me. .
, " *■ ■ ^ . J ' 1
VSllig neu mutet uns auch die Mitteilung an, dafi . das
Telephbn eigentlich eine Erfindung des Franzosen Boursel
Kuiturgeschichte a la ; francaise
ist aus dem Jahre 1854 (Seite 290), und daB es der Deutsche
Reifi und die Amerikaner Bell und Edison spftter lediglich , ,ver-
bessert“ h&tten. <
Das ist hier nur eine Auslese dieser ,,Kulturgeschichte“.
* * |t
Ich habe aufierdem noch eine Menge drbaulicher und tiber-
raschender Dinge darin gefunden, die uns im Verein mit den
mitgeteilten Proben wohl oder libel ▼eranlassen mtiBteh, die
Kuiturgeschichte, welche wir an unseren Schulen bisher lehrten,
yon Grand aus umzlikrempeln, da sie, an der franzdsischen
gemessen, einfach falsch ist.
Im Ernst i Franzosche Patrioten haben sicher das Recht,
durch franzosisch gef&rbte Glaser zu sehen. Das ist erlaubt.
Und dafur ist es auch eine franzdsische Kuiturgeschichte. Mehr
oder weniger wird sich eine jede Nation dieses Vergniigen ge-
statten. Aber das Vergniigen hat eine ernste Grenze. Und
diese Grenze liegt da, wo die offenbare F&lschung beginnt.
Gewifi, es gibt Erfindungen und Entdeckungen, wo die
neckische Puplizit&t der Ereignisse das Erstgeburtsrecht etwas
zweifelhaft erscheinen l&Bt, wo also zum Beispiel ein F r anzpse
und ein Deutscher Anspruch auf die Vaterschaft machen. Der
einlache Kulturanstand wiirde es aber in solchem Falle er-
fordern, den einen und den andern zu nennen und nicht den
andern grundsatzlich zu unterschlagen. Oder sollten die
Franzosen ihren beriihmten Gesetzesparagraphen vom Code
Napoleon: ,,La recherche de la paternite est interdite**, so ver-
standen haben wollen, daB in den franzdsischen Schulen bei
der Darlegung von Erfindungen nach einer andern al$ der
franzdsischen Vaterschaft nicht geforscht werden darf? Zu
dutzenden Malen tut das diese Kuiturgeschichte.
Ist ein solches Verfahren schon mehr als unfein, so ist es
noch schlimmer, da wo in der wissenschaftlichen Welt*) die
nichtfranzosische Vaterschaft einer Erftndung unzweifelhaft fest-
steht, den fehlenden Entdeckerruhm durch eine ,,Erfindung“
aus dem Handgelenk zu ersetzen. Auch das tut das Buch.
Alles das ist zum mindesten eitel, um nichts boseres zu
sagen. ,
Beklagenswert aber ist es, daB jahrlich Millionen franzo-
sischer Kinder mit solchen firefarbten. verbocrenen und ver-
mit solchen gefarbten, verbogenen
yer
*) Leider scheinen die franzdsischen Wissenschaftler selbst von diesem
9 1 '
kindlichen Ueberpatriotismus angesteckt zu sein. Sonst h&tte es dem
franzdsischen Chemiker Wertz nicht passieren durfen, sein bertyiupites
und grundlegendes Weric iiber die „Theorie des Atoms" mit deni' Satze
zu begifmen: ,,La chimie est urte Science fran^aise". ! .
Kulturgeschichte & la fran^aise 3x1
logenen Kultur-,,Geschichtchen“ angefiillt werden, daran ge-
wfihnt werden, das Vaterland allezeit in bengalischer Beleuchtung
zu sehen und die tibrigen Nachbarstaaten , soweit sie nicht
vdllig als „barbares“ behandelt werden, bestenfalls als geistige
Provinzen der „grande patrie“.
Ein falscher Hochmut wird damit groBgezogen, der ja an
and fur sich andere Vblker kalt lassen kdnnte, wenn er nicht
eine Gefahr mit sich bringen wiirde, die uns auch angeht:
Ich denke dabei an diejenigen Zeitl&ufte, wo sich zwei
Vfilker politisch, kulturell Oder sonst irgendwie auseinander-
zusetzen haben. Im Interesse einer wahren Kultur wire da
eine friedliche Auseinandersetzung doch sicher zu wfinschen.
Wird aber diese nicht eminent dadurch erschwert, ja vielleicht
unmoglich gemacht, wenn der eine Teil mit einem ins Riesen-
hafte gesteigerten falschen Kulturstolz durchsetzt ist,
der den andern Vdlkem in ihrer Bedeutung und ihrem Wert
nicht mehr gerecht werden kann ?
*
312
Abschied des JoiimalisteH
Abschied des Journalisten
■
Die Einen sagen, der Einfluss des Journalisten in unserer
Zeit sei zu gross, und er sei unberechtigt. Denn er schreibe fiber
Menschen, die er nicht kenne, Dinge, von denen er nichts ver-
stehe. Sie mdchten ihn dem torichten August im Zirkus ver-
gleicben, der den Pferden mit grossen Bewegungen nachl&uft
oder die leeren Gesten zu den Kunststficken der Akrobaten
macht. Er sei kein Fachmann und rede in alies hinein. Die
Anderen glauben sein Metier tiefer gefasst zu haben, wenn sie
ihre billige oder unaufrichtige Subjektivitftt ihm als kfistliche und
fruchtbare Empf indung preisen und feststellen: sein Wesen sei
Beziehungslosigkeit. Ihr Argument bekrfiftigen auch sie mit
dem Hinweis auf die Ftille der Stoffe, die der Kreis jouma-
listischer Tatigkeit einschliesst, und so gdnnt ihm die Welt der
Spezialisten aus Ausbildung und Einbildung, Beschr&nkung und
Beschrinktheit ihre Verachtung. Scheint aber die Sonne sehr
gn&dig, so gibt man Ausnahmen zu, nennt dann den Braven,
um ihn aus der schwarzen Herde hervorzuheben, nicht mehr
Journalist, sondem Literat und Publizist, Schriftsteller und
Redakteur. Solches Lob verkennt nicht weniger als die Ablehnung
des ganzen Berufes Wert und Unwert, Moglichkeiten und
Grenzen, Gluck und Ungliick des Journalisten. Nicht Wort oder
Schrift ist das Instrument des Journalisten. Sonst wire er Redner,
Dichter, mehr oder weniger. Er ist vor allem anderes. Sein Weg
zur Wirkung ist im letzten Verstande nicht die Sprache, nicht
die Drucktechnik. Sowie kein Theaterstiick fertig ist, bevor es
ein wirkliches Publikum erschuttert oder erheitert, zu Jubel
oderWut reizt, bevor es also gespielt und gehort ist, so ist Schreiben
nur dann J our nalismus , wenn die letzte Erfiillung: Wirk ung
durch die Zeitung geschieht. Der Artikel in der Lade oder als
Buch veroffentlicht ist so we nig Journalismus, wie eine Parti tur
Musik.
J ournalist sein, das ist nicht ein Beruf , den man ausfiillt, nicht
ein Amt, das
verwaltet. Es ist eine Dase ins form, ein Erleben
mit alien Hemmungen und Hohen, alien Torheiten und Schmerzen
jeder Existenz, aufsteigend bis zum Gluck, die Resonanz der
eigenen Personlichkeit ins Weite zu spiiren und abstfirzend bis
zum tiefsten Ungliick, das nicht etwa Schweigenmfissen 1st,
sondem Rufer in der Wiiste zu sein.
Abschied des Joumalisten
1
Die tigliche Not des Joumalisten ist nicht Armut an Be-
ziehungen, sondem der innere Kampf mit der Fiille seiner Be-
ziehungen zu allem, was tun ihn ist und geschieht. Sein Schicksat
einer Sekunde, sein Verh<nis zum eiligen Leben muss Fotm
werden, die in innigster Nachbarschaft mit den Gestaltungen,
die aus dem Weltgefuhl anderer Joumalisten geboren werden,
zu neuer Fruchtbarkeit gefiihrt wird, durch Setzmaschine und
Druckpresse, Mitwirkung von Arbeiter- und Verlagsorganisation,
die das neue Blatt scheinbar in alle Windrichtungen zerstreut,
in Wahrheit ihm erst die Kontinuit&t der Wirkung gibt. Das
Erzittem der Nerven und der Setzmaschine ist schliesslich Eines :
Rhythmus der Journalistik.
In einem einzigen Satze kann man sagen, was der Journalist
tut: Antworten auf Fragen geben. Alles Geschehen,
der Anblick einer kleinen Elendsgasse, das Spiel im Theater,
die Feuer, die aus der Grube schlagen, — es sind Fragen, die
dem Joumalisten gestellt werden. Die Wellen kommen zu ihm,
die Anlisse sind gering oder pathetisch, aber die Strahlen gehen
durch den Joumalisten nicht durch, er kann und will sich keinem
Erlebnis entziehen; er antwortet. Refleze und Reaktionen werden
in Refleze und Reaktionen umgesetzt. Leben wird gelebt, die
heftigen Stosse und die leisen Schwankungen losen im Jouma-
listen, ob er nun mag oder nicht, Aktivit&t aus, die dem Scheine
nach Reportermeldung oder Dichtung ist, im richtigen Verstande i
Antwort auf eine Frage.
Darum ist der Journalist Herr und Knecht. Diener, weil er
dem Geschehen, den Ereignissen sozusagen unterjocht ist, die
ihn nicht nach Zeiteinteilung, Arbeitslust, Pl&nen und schemas
tischen Absichten fragen; Herr, weil seine Spiegelung der Welt,
wenn sie die Gestalt der Zeitung angenommen hat, eine neue
Welt geschaffen hat.
Darum ist die Aufforderung, er solle seine Stoffe „wtirdig“
wihlen, so unsinnig wie das Verlangen, sein Stil solle immer
gleich, solle so oder so sein, toricht. Seine S&tze miissen reinlich
sein, wie die Typen sauber gegossen. Aber da sein Tun nicht
mehr und nicht weniger ist als Antworten auf Fragen geben,
die nicht nur verschieden sind, sondem von Verschiedenen ge-
stellt fur Verschiedene gel ten, werden ihm allm&hlich die Stoffe
gleichgultig. Ob er Politik treibt, von Hiiten, dem Frdhling;
der Thronrede spricht, es ist ihm immer nur ein Anlass die Seite
seines Tages zu schreiben. Durch jede Zeile sucht er sein Ver-
h<nis zum Dasein mitzuteilen, aber nicht auS engem Egoismus,
nicht nur um die eigene Spannung zu losen, sondem um sich
im Ganzen durch immer neue F&den find Tdue zu befestigen,
3x4 Abschied des Journalisten
das Bewusstsein seiner Zugehdrigkeit zu Allem, Nichtigem oder
Wichtigem — die Stoffe zu werten hat man aufgehdrt — froh
zu geniessen, jenes Gefiihl der Einsamkeit, das man einmal
stolz spiirte, mit dem man ein andermal sentimental t&ndelte,
einzutauschen gegen die Hoffnung der tiefsten Zusammen-
gehdrigkeit zu Allem, was da ist. Nur ein Stoff ist ihm unmoglich:
der ihn nichts angeht. Nur e i n e Lebensbeziehung ertr> er
nicht: in einem Ton sich dem Geschehen gegeniiberzustellen, der
nicht seinem Gefuhle entspricht. Er kann nicht raufen wie ein
Soldner, weil gerauft werden soli, nicht die Geb&rden der Liebe
machen, wo er kalt ist. Er prostituiert sich, aber indem er sich
wirklich hingibt.
Und sein Stil, der so oder so, personlich, impressionistisch,
polemisch, stets der gleiche, der abgestempelte sein soli ? — man
spricht anders zu einem Theologieprofessor als zu einem Schuster*
buben, anders zu einer Frau, hinter der alle Schicksale liegen.
als zu einem M&del, das heiss ist von tausend ungekiissten Kiissen.
Man riickt in Jahre, in denen man lieber durch das Medium
eines Massenblattes vielen unbekannten Mengen irgendwie ein*
pr&gen will, was Einen bewegt zu Liebe, Zorn, zu Ruhrseligkeit
oder Geh&ssigkeit meinetwegen, als tausend Kritischen ein Spiel
der Worte, Gedanken zu bieten. Der Rythmus, um den es Einem
nun beim Schreiben geht, ist nicht mehr eine Qualit&t des einen
Artikels, Buches, der einen Glosse allein; vielmehr die Art der
Bindung oder Trennung, das Fliessen der Wellen oder der Wirbel-
wind zwischen dem publizistischen Tun und dem kompakten
oder zersplitterten, mag sein tiefstehenden, mag sein lange,
lange gleichgultig bleibenden Publikum
Das einzige Gliick, der einzige Erfolg, den der Journalist, der
Redakteur, wie ich ihn erkenne, haben kann, ist die Wirkung,
und die kann er nur erleben, wenn sein Blut und sein Blatt dem
gleichen Rhythmus gehorcht.
Kein Journalist kann deshalb die Vorstellung eines Anderen,
wie ein Blatt sein soil, in die Wirklichkeit umsetzen. Nur wenn er
yollig und froh dem Reize, der auf ihn wirkt, gehorcht, kann er
aus einem Sammelsurium meinetwegen kluger, gelehrter, f einer,
▼ielleicht auch temperamentvoller Aufs&tze eine Zeitung, eine
Zeitschrift machen. Leuchtkraft erwichst dem, was er selbst
schreibt, Stosskraft dem, was er herausgibt, redigiert, Wirkung
all seinem Tun und Unterlassen, seinem W&hlen, Ordnen, Schwei-
gen nur wenn er nach seinem Ziele zielt. Nie, wenn er ein
kommandierter Offizier ist. Ob er seine eigenen Artikel in Druck
gibt oder die eines andem in die Setzerei schickt oder hdflich
zurdckweist, ob die Wellen dadurch entstehen, dass er selbst
Abschied des JoumaUsten
spricht Oder andere sum Schreien, Rufen reizt, dimpft, still
sein heisst Oder aus der Passivitdt aufriittelt, — im letzten Sinne
ist es dem wirklichen J our nalisten, dem von Gebliit und nicht
▼on Verdrossenheit, dieselbe aktive Handlung. Er mag auch
Heifer, Diener anderer Gedanken, fremden Zornes, fremder
Lie be sein, wenn sie n&mlich bis aufs letzte sein eigen geworden
sind. Nur darf's nicht geschehen wie man aus Not und unerfiillter
Sehnsucht ein Kind adoptiert. Es muss sein, so emst, so volt
und so unab&nderlich wie eine Mutter empfdngt. Nur der ist
wirklich J otirnalist. Ob ein guter Oder schlechter , ein geschickter,
ein vollkommener — die Frage und ihre Antwort mag spater
kommen. Ich glaube nicht, dass es unter d * e s e n J oumalisten
▼iel schlechte gibt, so wie ich leider meine, dass es stets zu wenige
▼on d i e s e r Art gibt. Aber da mir eines gewiss ist; dass kein
aus anderen Quellen gekommenes Lustgefuhl — Befriedigung der
Eitelkeit, Freude an Besitz, Stolz auf den gelungenen Rhythmus der
Sprache Oder was es sei — diesem Journalisten Ersatz ist fur
die frohe Empfindung, seine Beziehung zum Tage und seinen
Geschenken zur Wirkung, zur Resonanz kommen zu lassen,
seine, tausendmal seine — darum verblasst ihm die Welt,
der er nicht mehr aus freier Wahl den Spiegel zeigen darf. Darum
legt er das Werkzeug lieber aus der Hand, als Bildnisse zu ver-
suchen, auszustellen, Medaillen zu pr&gen, in Vitrinen fur ge-
legentliche Schaulustige zu ▼ereinigen, die nie sein wirklicher
inserer Besitz waren. Er mag das Handwerk, wie’s ein
anderer tut, griissen, aber nicht iiben.
Er will nicht anderen zum Lesen geben, was er selbst nur
mit Widerstreben lesen Oder mit Gleichgftltigkeit wegschieben
wtirde.
Und deshalb scheidet sich mein Weg von dem, den der „Pan“,
dem Willen seines Besitzers gehorchend, gehen soli. Ich habe
um Ablosung gebeten. Ein wirklicher Journalist kann so
wenig desertieren, wie eine Fahne halten, deren Farbe, Zeichen,
Sinn ihn kalt lftsst. Jeder von uns, die wir im Schreiben unsere
Lebensform gefunden haben, muss das eine Oder andere Mai
Nachbarn dulden, die ihm nicht allzu nahe sind, scheinbar eine
Uniform tragen, die sein Wesen nicht voll ausdriickt. Er gibt,
in solchen Ffillen mehr Literat als Publizist, — gewiss nicht J our-
nalist — mit seiner Unterschrift die Deckung fur seine eigenen
Worte und zugleich das Zeichen der Trennung von rechts und
links. Es muss wohl so sein, ganz froh aber wird dieses halbenTuns
kein wirklicher Journalist.
Wer im tiefsten seiner Natur das ist, nicht Schrif tsteller,
4
nicht Dichter, nicht Ktinstlef meine twegen, aber wohl Oder
Abschied des Joumalisten < — Erkl&rung
ubel Journalist, yermag niemals eine Symphonie zu dirigieren ,
die er nicht liebt. Darum ist’s Achtung vor dem Metier, keine
Erbitterung, Gleichgewicht, nicht kindische Angst vor einer
,,Schande“, Besch&mung, mit der ich aus einem Hause fortgehe,
in dem ich vielleicht Gast sein kann, aber nicht Wirt.
12. Januar 19x2. W. FRED.
ERKLARUNG
Herr Fred hat in seinem Artikel seine Auffassung vom Journalismus
dargelegt Er zog die Folgerung, an der Redaktion des „Pan“ nicht mehr
mitzuwirken. Ich erkISre, daS lediglich der wiederholte Wunsch des
Herrn Fred, aber keine Beeinflussung durch andere, etwa durch jugend-
liche Schriftsteller, die mir tdrichte Briefe geschrieben haben, mich ver-
anlassten, seinem Wunsch nach frflhzeitiger Losung des Vertrages
nachzugeben. Noch weniger hat mich dazu eine abf&llige Meinung Qber
seine publizistische und redaktionelle Titigkeit bewogen, ich habe iin
Gegenteil durch Bitten versucht, Herm Fred dem „Pan“ zu erhalten. Ich
lege auch Wert darauf — um nicht seinem Ansehen zu schaden — fest-
zustellen, daB die Grtknde seines Austrittes, so weit sie in tats&chlichen
Vodcommnissen etwa bestehen, auf Unteriassungen meiner Vertrags-
pflichten, nicht der seintgen, oder auf mifiverstindlichen Auffassungea
unserer Vereinbarungen durch mich zurttckgehen. Paul Cassirer.
Der Kdnig regiert
317
DER KONIG REGIERT
Frau SolneS : Wie ich Ihnen sagte,
Lauter Kleimgkeiten.
66 Sozial demokr aten im ersten Wahl gang. 83 Zentrumsleute. ,^)ie
Reich sparteien verlieren", sagte der Kdnig sorgenvoll zum Hdfling. Der
l&chelte : ,,Majest&t, was geht das Majest&t an ? Mdgen die Untertanen sich
streiten ; ob mehr Liberale oder mehr Konserrati7e im Reichstag sitzen,
mehr Zentrum Oder mehr Sozialdemokraten, das bedeutet vielleicht mehr
oder weniger Arger for den Herrn Reich skanzler, f fir Majest&t und seinHaus
bedeutet es nichts. In Deutschland regiert der Kdnig." „Der Kaiser",
▼erbesserte Majest&t, , , nicht der Konig." ,,Verzeihen Majest&t, daB ich
zu wider sprechen wage. Der Kdnig regiert". L&chelnd sah der Hdfling
den Konig an. Majest&t begriff, l&chelte auch, tat einen Seufzer und
setzte sich an den Schreibtisch. Der Kdnig regierte.
Der Kdnig machte eine Pause, hob seinen Kopf, sah nachdenklich den
Minister an und sagte : „Wir haben aber eine Verfassung, wir haben doch
einen Reichstag ; wir haben ein groBes Volk, das nach der Macht strebt,
das vor nichts zurttckschreckt, das sogar 48 auf den Barrikaden ge-
standen hat."
,JDas war 48", antwortete der Minister.
Und der Kdnig : „Ich weiB nicht, ob! es recht ist, allein zu regieren
Ich weifl nicht recht, ob ich es wirklich will ; es kdnnte schfldlich sein."
„Der Wille der Majest&t ist das hdchste Gesetz im Reiche. Er kann
alles. Nur das eine unterliegt nicht seiner Macht : Ob er «H*in regieren
will oder nicht. Der Kdnig regiert alle, weil alle von ihm regiert sein
wollen."
„Aber die Sozial demokraten ?“
„Ja“, sagte der Hdfling, „die Sozialdemokraten sind vielleicht die
einzigen Leute im Deutschen Reiche, die den Willen zur Macht haben, die
regieren wollen und nicht regiert sein wollen. Aber das sind ja gerade die
Arbeiter, die Klasse, die unmoglich regieren kann. Wenn eines Tages
ein sozialdemokratischer Zukimftsstaat Wirklichkeit werden sollte, und
wenn der Minister dasselbe Gehalt bezieht wie der Fabrikherr und der
Arbeiter, so kann ich mir doch nicht vorstellen, daB der Arbeiter dann
regieren wird. Er wird dasselbe Geld und dieselben Rechte haben. Aber
regieren wird wo hi der Fabrikherr, der das Regieren gelemt hat. Wer
im Privatleben nicht befiehlt, kann auch als StaatsbQrger nicht befehlen."
„Ja, aber, sehen Sie wohl,sie k&mpften doch 48 auf den Barrikaden um
die Macht ?"
, ,VerzeihenMajest&t, das war en nicht Sozialdemokraten, das warenBBrger ;
BQrger, die glauben, daB sie damals das Deutsche Reich gegrfindet haben,
Nicht ganz zu leugnen ist, daB sie die letzte groBe Entwicklung Deutsch-
Jands getragen haben. Sie haben auch die Idee des Kaiserreiches zuerst
geftlhlt und haben zuguterletzt die Bedingungen geschaffen, daB das Reich
zur Tat werden konnte, zur Tat werden muBte. Diese Leute haben alles
erworben und alles gelemt, was sie zum Herrschen pr&destiniert. Abet
sie wollen nicht regieren, sie wollen regiert son."
3i 8
Der Kdnig regiert
,,Ist das so schon regiert zu werden ?“
„Es scheint so, sie nennen sich Freisinnige oder sogar Demokraten,
aber diese Bflrger der Stidte sind eigentdmliche Men sc hen; im Wett-
bewerbe der Vdlker leisten sie GroBes, in ihrcn Werkst&tten, .in ihren
Kontoren und ihren Studierzimmern sind es kfihne Gelehrte, konig liche
Kaufleute, Eroberer, selbstherrische Menschen. Und trete n sie aus ihrem
Beruf in die Allgemeinheit, dann ffigen sie sich unserem Feudalstaat ein,
sind Beherrschte und sind glticklich darfiber. Sie kennen kein stolzer es
Geffihl, als wenn sie empfinden : bei uns herrscht der Kdnig."
„Aber," sagte der Kdnig, „irren Sie sich nicht? Ich habe doch
Zeitungen gelesen, in denen ganz andere Dinge standen. Da wurde be-
hauptet, dafi ihnen und ihrer Partei die Intelligenz, das Geld, die groBen
Organisationen und die Bildung gehdrt, und ich las, daB sie Anspruch anf
die Macht erheben. Sie wollen sich selbst regieren. Sehen Sie doch dieses
und ct&fi uu crsttn iccmdr der
schrittlichen Partei gewlhlt wurde. Ich kann es ja auch nicht verstehen:
so viel Demokraten und dennoch kein Abgeordneter. Warum? 4
„Gestatten Majest&t, daB ich Fritz Reuter zitiere : „Die Armut anf dem
Lande konunt von der groBen Powertfce. 44 Es gibt keine detnokratkchen
Abgeordneten, weil es keine Demokraten gibt.*'
„Aber die Zeitungen 1"
„Gewifi, die Zeitungen 1 Mag der Leiter einer groBen demokratkchen
Zeitung noch so radikal denken, und mag er seine Leute von A bis Z
nur unter gesinnungstttchtigen Demokraten suchen und mag er d*«n
denken, er kite ein demokratisches Blatt, und in seinem Blatt herrsche
er und seine demokratische Gesinnung ; er irrt sich. Nicht er herrscht,
der Kdnig regiert. Der Chefredakteur schwflrmt fttr die Rechte des
Volkts. Er schreibt in mannhaften Worten ffir seine Ideen. Seine
politischen Unterredakteure folgen ihm. Ob der Chefredakteur der Metnung
ist, daB der Kdnig oder sein Sohn Oder seine Frau Oder seine Tochter nicht
mehr vom Theater, oder von der Kunst, oder von der Industrie versteht
ab irgend ein anderer intelligenter Mensch — und sicherlich, mancher
Chefredakteur ist dieser Meinung — der Lokalredakteur ist anderer An-
sicht. Ihm scheint es nicht wichtig, ob die Intelligenz Deutschlands Ger-
hart Hauptmanns letztes Stfick gut oder schlecht findet, ihm eischeint
es viel wichtiger, ob seine Majest&t oder ein Mitglied der allerh&chsten
Familie das Sthck sah, und was er darfiber dufierte."
„Warum wirft der Chefredakteur denn den Lokalredakteur nicht
hinaus?"
■+
„GewiS, Majest&t, das w&re ja das Beste — ich wollte sagen: das
Logischste, aber er kdnnte’mit der Lateme suchen, er wflrde keinen finden,
der es anders machen wfirde als der Weggejagte . . Und der Weggejagte
wfirde ein anderes Blatt grfinden — natfirlich wieder ein demokratisches
• — und das demokratische Publikum wfirde ihm folgen. Denn : Der Kdnig
regiert."
Der Kdnig wollte sich eben seiner Arbeit wieder zuwenden, da hob er
den Kopf und sagte noch :
Der Kdnig regiert — Die steinerne Maske
319
*
►
,,Dann ist es ja eigentlich jetzt besser als in vormirzlichen Zeiten? 44
„Bedeutend besser, Majest&t. Der F ortschritt ist nicht zu leugnen. Er
betuht auf der groBen Entwicklung, die unsere modeme T echruk genommen
hat. 44
i
W
„Technik“, fragte der KSnig, „ Entwicklung, wieso? 44
„Ja, sehen Majest&t : In vorm&rzlchen Zeiten war alles klein und
beschr&nkt. Der Ffirst lebte in seiner Residenzstadt, die ja ganz in seinem
' Banne war.
Jeder BOrger der Residenzstadt wuBte, was der Kdnig tat, was er afi,
was er trank, wo er jagte, wen er einlud, kannte den Kdnig von Angesicht
zu Angesicht, kannte seine Frau, seine Kinder und Enke kinder, und die
Erz&hlungen eon den Festen, die er gab, gingen von Mund zu Mund. Der
BQrger lebte mit dem Fiirsten. — AuBerhalb der Residenzst&dte aber war
es nicht so. Man wuBte nicht so viel vom Kdnig. Man ktimmerte sich
nicht so sehr urn das, wae er tat. Die Organisation war noch klein und
schlecht. Heute l&cheln wir fiber die Serenissimuszeiten und ihre Hof-
lieferantenchronik, l&cheln fiber die Zeiten, als der Holkfirschnermeister
dem Nachbam zuraunte, was ffir einen Pelz der Kdnig trug, der Hoftafel-
decker vom letzten Diner en&alte, der Hofschneidermeister vom Kleide
der Kdnigin sprach und der Hofarzt von der Verdauung der kleinsten
Prin 2 essin.“
„Nun, und heute ? 4>
r j
„Heut ist das alles viel grandioser. Die Zeit ungen haben das Amt der
Hoflieferanten an sich gerissen. Illustrierte und nicht illustrierte, immer
voran die demokr atischen . Heute wei8 man in dem kleinsten Bergdorf
Oberbay ems ebenso wie im elendsten Flecken Ostpt euBens, wen der Kdnig
eingeladen hat, was er iBt, was er trinkt, was er tr>. Ein jeder kennt
ihn von Angesicht, kennt seine Frau, seine Kinder, seinen Leibdiener,
seine Jagd, sein Arbeitsz immer, sein Schlaf zimmer und seine Dackel.
Die kleinen Residenzst&dte mit ihren kleinen Interessen sind ver-
schwunden. Wir lachen fiber sie. Aber der Bfirger, der das Deutsche
Reich geschaffen haben will, hat es jetzt mit Hilfe der grofien modemen
Technik, mit Hilfe von Rotationsmaschinen und riesige Organisationen
erreicht, dafi ganz Deutschland, daB dieses ganze Reich eine einzige groBe,
kleine Residenzstadt geworden ist. Und in Residenzst&dten w&hlt man
keine Demokraten. 44
r r
„Nein, da w&hlt man keine Demokraten. 44
WIELAND
DIE STEINERNE MASKE
Maulaffen feilhalten ist nicht gerade Sadie der Neu-Berliner. Das
Show-Bedfirfnis l&sst man sich von Reinhardt im Zirkus befriedigen ;
die Strasse aber dient dem Verkehr, dem Gehatz der Autos und dem Ge-
dr&ngel der vorw&rts rackemden Pflastertreter. Man mimt am Pots-
320
Die steineme Maske
Hamw Platz unter Schutzmannstrompetenklingen H indemisr ennen , mm
stfirmt wie vorm Totalisatorschluss die Billetschalter der Unter grand-,
der Ring- und der Wannseebahn. Trotz dieser Ellenbogengelenkigkeit, die
nirgends unsanfter zu spfiren ist ais um diesen Potsdamer Platz heram,
konnte man den Sommer fiber gerade hier beobacbten, wie die Leute pldtz-
lich am ihrem Tempo fielen, wie sie auf einen Augenblick wenigstens
stoppten, auf einen Augenblick die H&lse in die Luft reckten. Kein
Wunder, hoch oben uberm Untergrundbahnschlund gab’s ein Rattens
und Knattem, scblimmer als wenn zebn Reklameluftschiffe die Propeller
schnurren liessen. Ingenieure, die irgendwo in einem Fabrikbureau
sassen, liessen den Spektakel ausffihren, der mehr als 5000 Zuschauer
lockte und festhielt. Liessen m&chtige Eisentr&ger elektrisch ver-
schweissen, nieteten mit Weissglut, tfirmten st&hlerne Rippen, als ob ein
Hamburg-Amerika-Steamer auf dem m&rkischen Sand vom Stapel ge-
werden sollte. Man wusste am den Reklamenotizen der Zeitungen,
dass da ein Riesenkino, ein Riesencaft, ein Riesenschwofbetrieb im Werden
war, dass Tag und Nacht ohne Unterbrechung die Kapellen lArmen sollten,
dass der Herr Portokassenritter mit Huldin hier dereinst thronen wfirde
auf Stfihlen, die wahr und wahrhaftig 50 Em das Stuck kosten sollten und
den Sitzgelegenheiten am irgend einem Kdnigsschloss originalgetreu
nachgebildet w&ren. Solch J annowitzbrflcken-Tamtam h&tte keinen auf-
gehalten ; das allgexneine Staunen gait phantastischen Impressionen, ror
die Augen gezaubert von verwegenen Konstrukteuren, die die Krane
spielen liessen mit gewaltigen Eisenmassen, die wunderbar ersonnene
Maschinentatzen zwangen, Sttick um Stack aneinanderzufiigen, bis nie
gesehene Bogenformen mit gedrungener Silhouette in die verr&ucherte
Luft hineinschnitten. Man war verblflfft, kaum ein paar Arbeiter zu er-
blicken, wo solch unerhdrte Dinge am dem Boden wuchsen. Wer mochte
glauben, dass ein paar H&nde diesen ganzen Mechanismm dirigieren
sollten, wer nicht erstaunt sein fiber die Dimensionen eines Knochen-
gerfistes, das da fQr einen Baukorper hergerichtet wurde. Und es gab
Leute, die entzQckt fiber die Eleganz, die Wucht und die Amdrucksgewalt
der Eisenlinien, berauscht von dem Ebenmass dieser Logik, von dem
prickelnden Spiel der Ueberschneidungen waren. Ein paar Tage, als die
grosse Kuppel aufgesetzt wurde, ragte ein Filigrangerinsel gen Himmel,
so reich und fein ineinander gewirkt wie die Arabeskenzfige auf der
Fliesenwand einer Moschee. Was da eigen tlich vorging, mdgen die
Wenigsten nur begriffen haben. Man staunte, man ahnte instinktiv etwas
Ungewohnliches, etwas Neues. Gelegentlich hdrte man einmal ein paar
junge Kerle disputieren fiber die Mbglichkeiten, die in solch statischen
Rhythmen ungdhoben schlummerten, fiber die ganze Schonheit dieser
Ingenieurlogik.
Wahrlich, es gab da ffir Augen, die auf neue Werte ein-
gestellt sind, berfickende Sensationen. Gab sie, denn heute, wo ich davon
rede, wo ich diese Ingenieurschonheit alter Welt zeigen mochte, ist alles
wie ein Traumgebild verschwunden. Ingenieure dfirfen n&mlich nur Im
Geheimen bauen. Wenn sie alles klar und gross und zwingend konstruiert
haben, kommt einer von der Kunstfakult&t, ein Architekt, der wie ein
Schneidermeister das nackte Gestell mit „$ch8nheit“ nach romanischem,
gotischem oder rcoaissancclichcm Schnitt drapiert. Von dem wirkliohen
Katinka, die Fliege
Kdrper, der die Sinne imhSndig reizte, darf nichts mehr zu sehen sein.
Eine Maske, so banal, so stereotyp, so kitschig wie die Larven,
die ffir geistlose Faschingsulkereien fabriziert werden, ist fiber-
gestfilpt, damit keines Menschen Auge mehr die wahre, bezaubemde
Physiognomic erblicken kann. Die steinerae Maske, so kunst- und herz-
los wie sie fiber die Schdnheiten des Piccadilly geflickschustert worden,
spart uns wenigstens Zeit ; am Potsdamer Platz braucht keiner mehr als
lfistemer Schdnheitsjiger seine Bahn zu vers&umen ....
PAUL WESTHEIM
KATINKA, DIE FLIEGE
*
hat selbst in der von Herbert Eulenberg zum erstenmal beobachteten und
entr&tselten eigen tfimlichen Punkt-Schrift ihres Volks den Titel zu der Bio-
graphic, durch die sie dieser Dichter vor allem Getier ehren will, auf tin
carmoisin rotes Umschlagpapier gezeichnet. Zugunsten der Fliege Katinka,
die wir in Eulenbergs „ztitgendssischem Roman" als ein Wesen von Bildung
undGeschmack kennen lemen, sti dies unsympathische Papier auf Rechnung
des Verlegers Ernst Rowohlt in Leipzig gesetzt und angenommen, er habe
Kadnka wider ihren Willen kein anderes zur Verffigung gestellt. Es muS
gesagt werden, daS dieser Umschlag nicht zur Lektfire lockt, wie denn
fiberhaupt der Weg zu dem Buche nicht leicht ist. Bei aller Liebe ffir den
Dichter mag man doch zunfichst denken: sind also alle Probleme unseres
Seins schon kfinstlerisch bew<igt, dafi ein Schriftsteller von solchem Rang
uns emsthaft die Schicksale einer wirklichen, sechsbeinigen Fliege erz&hlt,
und dies nicht am Ende als kurze amfisante Geschichte, sondem in einem
dickleibigen Roman von fast 400 Stiten — ? Ffir diese Ueberlegung gibt
Eulenberg den „lieben Lesem" gleich zu Anfang einen Nasenstfiber und
den freundlichen Rat, doch lieber „auf den Markt oder die Borse oder ins
Wirtshaus oder Theater oder zum Rennen oder zu ihrer Geliebten als zur
bentidenswertesten Besch&ftigung zu gehen“ , und hort auch sp&ter nicht
auf mit allerlei boshaften Bern erkungen vor dem Weiterlesen zu wamen.
Wer sich durch alle diese liebenswfirdigen Grobhtiten des Autors nicht ab-
schrecken l&fit, dem zickzackigen Lebensflug Katinkas zu folgen, wird mit-
unter das kluge Gesicht Jean Pauls, des ebenso undisziplinierten DichtersJ]
Uchelnd neben Herbert Eulenbergs Physiognomic auftauchen sehen, wenn
zwischen erzfihlenden Abschnitten auf einmal roman tische oder exakte
Naturwissenschaft doziert wird, wenn der Dichter immer wieder personlich
in die Erzihlung sich einmengend — bald das p. t. Publikum, bald dessen
„Lieblinge“, bald die deutschen Verleger oder auch den unerschfitterlich
treuen Leser mit gutgezielten Nadelstichen trifft. V. FI.
KAMMERSPIELABE ND
i
Im Deutschen Theater hat man sich endlich zur Aufftthrung tines
liebenswfirdigen Stfickes entschlossen. Peter Nansens „Glfickliche Ehe“
wurde (von den M&nnern Moissi, Arnold, Tiedtke ausgezeichnet) gespielt,
und es gab einen Abend Sentimentalit&ten und Boshtiten, Lichtin und
322
Kammerspieiabend
jenes Kopfnicken, das „Ja, ja, so ist die Welt“ — heiflt, Geist, Anmut
kurz, die D nge, die man sonst in berliner Theatem selten bekommt.
Naturlich gilts auch „abtr“ Vor allem, dafl der Roman, aus dem das
Stuck gemacht ist, zehn Jahre alt ist. Deshatb wird man gelegentlich
meiken, wie dunn die dramatischen StrSnge sind, an denen die Menschen
dieser Komodie bewegt werden. Und deshalb mochte man, ebenfalls ge-
legentlich, e;n wenig frischere Tone, mochte den Reiz dieser Frau, die so
viele Manner glucklich macht, st&rker spfiren ; denn sie, wie sie da oben
kfiflt und gekfifit wird, begehrt man von unten nicht genug, um selbst
lyrisch zu werden und ehebrecherische Wfinsche zu haben. All das war
anders als wir den Roman lasen. Ich denke mir aber: das ist ebcn zehn
Jahre her, und jetzt sind andere ungefahr zehn Jahre jfinger, die werden
schon ebenso viel Lu.t auf das Biegen solcher gliick'icher Ehen haben und
darum das Stuck gerne si hen. Unsachiich, wie ich eben bin, wunsche
ich namlich, dafl es ein grofl. r Erfolg wird. Dieses Dichters Peter Nansen
wegen, der eine entzfickmde Gestalt in der modernen Literatur-Atmosphfire
ist, das seltene Exemplar eines Dichters voll Liebenswiirdigkeit — voll
innerer, nicht stilisierter, erzwungener — imd der in seinen Werken von
seiner scharmanten (diesmal mufl das Wort seinl) Natur so viel mit-
zuteilf n wuflte, dafl es einem leid tut. keine neuen — Romane von ihm
zu bekommen. Nur ist das Motiv, weshalb er schweigt, so schon, daB
einer, dem das Menschliche stets wichtiger ist als das Kunstwerk, es
doch nicht allzu tief bedauem kann, daB Nansen statt selbst Bucher zu
schreiben, die anderer verlegt, ihnen zu Erfolgen verhilft. Er hat namlich
das Geffihl, das, was sein eigenstes ist, schon gegeben zu haben, will nicht
' mfihselig erarbeitete L teratur machen, legte deshalb die Feder weg und
freut sich an der Arbeit anderer, die er als Leiter des groflten skandina-
vischen Verlags zur Wirkung bringt. Wie gut ist so was, wie selten; gibt
es einen Dichter voll dieser frohen Klarheit fiber sein Vermogen bei uns ?
F.
Wir bitten, Mitteilungen und Beitr&ge nur:
An die Redaktion, Berlin W. 10, Victoriastrasse 5, zu adressieren.
Bei umfangreicheren Zusendungen ist vorherige Anfrage notwendig.
Sprechstunde: An Werktagen, mit Ausnahme des Montags, 1 — 3 Uhr,
Berlin W., Victoriastrasse 5.
Verantwortlich filr die Redaktion : Albert Danun, Berlin- Wilmersdorf.
Gedruckt bei Imberg ft Lefson G. m. b H in Berlin SW 68
t
Religion 323
Religion
Von HERMANN BAHR
Religion hat, wer einer hdheren Sicherheit des Lebens, als
der . menschliche Verstand geben kann, ganz unmittelbar durch
Geffihl inne wird und ganz unmittelbar des Rechten so gewiss ist,
dass er es tun muss, auch ohne dafiir Beweise zu haben. Wenn
einer alle Fragen an das Leben gestellt und aul keine bei seiner
Vernunft Antwort bekommen hat, nun aber in seiner Not ent-
deckt, dass er trotzdem das Leben zu bestehen vermag, gleichsam
als wenn ihm alles zum Handeln Notwendige von innen her
diktiert wiirde, diese innere Festigkeit, die wir, wenn alles andere
zusammengebrochen ist, an uns selbst haben, an dem was wir
sind, und daran dass wir leben, ist Religion, Religion ist der Aus-
druck einer Not, in der ein Mensch sich keinen Rat mehr ge-
wusst hat und in der ihm doch von innen her wunderbar ge-
holfen worden ist. Das Gesch&ft, niemals dem Zufall preis-
gegeben zu sein, immer nach einem Plan zum Notwendigen
gefiihrt zu werden ist Religion. Religion ist das Bewusstsein
einer zuverl&ssig das Leben bestimmenden inneren Macht, das
Bewusstsein eines inneren Organs, das, w&hrend die Vernunft
unsere Handl ungen bloss zu beraten vermag, unsere Handlungen
entscheidet.
Religion ist eine innere Tatsache. r Religios ist, wer diese
innere Tatsache kennt. Aber auch wer sie nicht kennt oder gar
sie zu leugnen yersucht, wer nicht religios ist, hat Religion.
Auch ihm wird innerlich gesagt: Du sollstl Er hdrt es, auch
wenn er nicht gehorcht. Er mag dagegen handeln, aber auch
dann hort er immer noch das innere: Du sollst. Dagegen zu
handeln schmerzt ihn, und alle Vorteile, die solches Handeln
bringt, konnen diesen Schmerz nicht lindern. Der inneren
Stimme zu gehorchen aber tut ihm wohl, so sehr, dass diese
Lust ihn fiber jeden Schaden trosten kann und ihm noch mit dem
eigenen Leben selbst nicht zu hoch bezahlt scheint. Daraus,
dass er bereit ist, lieber sein Leben selbst als dieses innere Organ
verletzen zu lassen, folgt, dass ffir sein Geffihl dieses innere
Organ lebendiger sein muss als alles, was er sonst sein Leben
nennt.
Die Tatsache der Religion kann in Menschen unbewusst
wirken oder sie kann ihnen als blosse Tatsache bewusst werden,
sie kann ferner ihre Vernunft in T&tigkeit setzen, und sie kann
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324 Religion
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endlich Gestalten annehmen. Die Vernunft, vom religiosen
Gefiihl in Bewegung gesetzt, ergibt sittliche Maximen. Dem
Menschen wird innerlich zugerufen, was er soli, er l&sst sich das
nun von der Vernunft ausdeuten und erhilt eine Gruppe von
Grunds&tzen und Lebensregeln; wer sich aber auch nur ein
wenig zu beobachten weiss, erkennt, dass er niemals aus diesen
Grunds&tzen handelt, sondem sie begleiten sein Handeln bloss,.
sie sind ein Mitlaut seines Handelns. Des rechten Handelns ist
er ganz unmittelbar gewiss, jenes Organ sagt ihm, was er muss,
und aus dem was zu mlissen er daher webs, folgert er nun und
2ieht ein ganzes logisches Gebilde. Was er muss, bt ihm ge-
geben, und davon aus fragt er : Wie muss mm die Welt, muss
unser ganzes Leben sein, damit es einen Sinn hat, dass ich das
muss, was ich nun einmal muss? Die Antwort darauf ist dann
seine Weltanschauimg, eine Randglosse zu seiner Religion. Aber
diese Religion kann zuweilen auch so stark sein, dass ihre Kraft
nicht ganz in seinen Handlungen aufgeht, es bleibt ein Rest
davon iibrig, der unmittelbar produktiv zu wer den verlangt und
Gdtter, Heilige, Himmel, Hollen, ein ganzes Reich schafft. Das
religidse Gefiihl, das sich sonst im lebendigen Handeln erschdpft,
verdichtet sich zuweilen so, dass es sich dann in Gestalten ent-
laden muss: es schafft Mythen. Man spricht dann von einem
religiosen Zeitalter. Wir sind in einem, wenn wir es auch noch
kaum bemerken.
Noch die letzte Generation war selbst gegen die Tatsache der
Religion gleichgiiltig. Doch befreite sie sich schon vom Aber-
glauben der vorigen, zum Handeln mit der Vernunft auszu-
kommen. Ihr wurde kalt. So fing Religion an, wenigstens wieder
ein Gegenstand der Betrachtung zu werden. Zunachst bei den
Amerikanem und bei den Englandern. James’ wunderschdnes
Buch von der religiosen Erfahrung zeigte, worin Religion besteht,
und mancher mag so zur eigenen Verwunderung zum ersten
Mai an sich selbst Religion gewahrt haben, der bisher nichts
von ihr zu wissen meinte. Eucken in Deutschland, Bergson in
Frankreich erschienen und weckten das Gefiihl fiir die Geheim-
nisse wieder auf, fiir das unbekannte Hinterland im Menschen
und im Leben, das unserer Vernunft nicht erreichbar ist und
doch von uns als die Heimat unserer Handlungen empfunden
wird. Die katholische und protestantische Kirche hatten
plotzlich „Modernisten“, M&nner, die mit grosser Herzenskraft
aus erhohter Glaubenszuversicht unser Leben umzuschaffen,
eine freudigere Menschenart, ein neues Dasein t&tiger Liebe zu
verkiinden unternahmen. Und was man noch vor einigen Jahren
nicht fur moglich gehalten hdtte: nun sah man wieder Menschen
Religion
325
fur ihren Glauben leiden, sich opfern, das Kreuz auf sich nehmen.
Diese neue Religiosity hat schon cine ganze Literatur ge-
zeitigt. Die Hauptwerke sind etwa: George Tyrrells „Mediae-
valism“ und sein bei Diederichs deutsch erschienenes Buch
, , Zwischen Scybilla und Chary bdis“, ferner Campbells „Die neue
Theologie" (ebenfalls bei Diederichs) und seine Zeitschrift ,,The
Christian Commonwealth**, in der auch Philip Snowden von der
Labour Party regelm&ssig schreibt, der ,,Demain“, der dann dem
Papst geopfert wurde, und der „SiUon**, die Schriften fiber Jatho,
Traubs Zeitschrift „Die christliche Welt**, des katholischen
Bischofs Keppler „Mehr Freudel**, Arthur Bonus* „Zur religiosen
Krisis** (bei Diederichs), die Werke Johannes Mullers (C. H.
Becks Verlag) und seine „Grfinen Blatter**, das „Programm
der italienischen Modernisten** und Giuseppe PrezzoUnis „Wesen,
Geschichte und Ziele des Modernismus** (bei Diederichs), die
Arbeiten von Heinrich Driesmans und die Bucher des Zfircher
sozialistischen Pfarrers Hermann Kutter. Nirgends . aber ist das
Gemeinsame der s&mtlichen religosen Bewegungen und ihr
ganzer Sinn tiefer aufgefasst und seiner ausgedrfickt werden als
in der „Orientation religieuse de la France actuelle** Paul
Sabatiers, des protestantischen Franziskaners aus dem Elsass
(Librairie Armand Colin).
Eigentlich Ist alle diese neue „Theologie** durchaus franzis-
kanisch. Des heiligen Franziskus grosse Tat war der Versuch,
Religion zu leben. So sind auch diese neuen Franziskaner weder
frommer, noch anders fromm als sonst die Gl&ubigen ihrer Kirchen,
aber sie unterscheiden sich von diesen dadurch, dass ihre Frommig-
keit zum Handeln drfingt. Die anderen horen die Bergpredigt
mit Entzucken an; dieses Entzficken zu geniessen genugt ihnen.
Den Neuen genugt das nicht, es dr&ngt sie, die Bergpredigt an-
zuwenden auf jeden Augenblick ihres Lebens. Das christliche
Gefiihl genugt ihnen nicht, sie wollen den Menschen umwandeln,
bis das christliche Gefiihl in ihm Fleisch geworden sein wird. Sie
glauben an das Reich Gottes auf Erden; es liegt nur an uns,
es aufzurichten. Die Menschen sind ja ganz einig in dem, was
sie fur recht und gut halten. Wenn sie sich nur erst entschliessen,
nichts zu tun, als was sie fur recht und gut halten, werden sich
alle finden. Im Ideal sind sie ganz einig, sie haben also nurendlich
einmal das Ideal t&tig anzuwenden. Aber da wartet jeder, dass
der andere anfange. Das Beispiel fehlt. Das Beispiel zum Anfang
des Christentums zu geben, eines alles Tun erfiillenden und
durchdringenden Christentums, ist das gemeinsame Ziel dieser
neuen Theologien. Sie wollen alle, dass der Gefiihlsinhalt der
christlichen Offenbarung in den Taten und Werken der Menschen
Religion
3*6
lebendig werde. Welche Maximen, Dogmen und geistigen Hilfs-
mittel einer aber braucht, urn sein christliches Gefiihl in lebendige
Taten umzusetzen, das ist ihnen nicht so wichtig, wofern er nur
am Ende wirklich zu solchen cfaristlichen Taten kommt, mit
Gottes Hilfe Oder ohne sie. Sie haben Ehrfurcht vor den Maximen,
Dogmen und geistigen Hilfsmitteln, durch die sie selbst zu
diristlichen Gefiihlen erzogen worden sind. Wird es einem aber
durch andere Maximen, Dogmen und geistigen Hilfsmittel
leichter, zum t&glichen Gebrauch der christlSchen Geftthle zu
kommen, so mag er auf seinem Weg nach ihrem Ziele gehen.
Doch meinen sie, dass man die hilfreiche Macht ererbter frommer
Gewohnheiten nicht verschm&hen soil, und so bemiihen sie sich,
die christlichen Figuren zu schonen, wie das junge Christentum
einst auch die heidnischen G fitter geschont hat. Sie trauen sich
zu, den neuen Mythos in die alten Figuren zu fiillen.
Aber von alien religidsen Erscheinungen der Zeit ist die
Sozialdemokratie die grosste. Es war ein genialer Einfall von
Marx, Religion als Wissenschaft zu verkleiden, um den Argwohn
cincf unr6li^ids6n Zcit 6uizuschl&fcrn* Die SoziftldemokrAtie
ist darin religios, dass jeder ihrer Bekenner seiner Pflicht, des
von ihm zu Leistenden, seiner Schuld unmittelbar unbedingt
gewiss ist; er bedient sich der Dogmen, aber seine Gewissheit
kommt nicht aus den Dogmen, sondem umgekehrt. Auch darin
ist sie religios, dass sie dem Menschen einen Zweck setzt und dass
ihr dieser gemeinsame Zweck der Menschheit, also etwas Ob-
jektives, mehr gilt, als irgend ein einzelner Mensch. Und religids
ist ebenso ihr Bediirfnis, eine Kirche zu schaffen, ihre Organi-
sation, aus der tiefsten Erkenntnis aller Religionen, dass in der
Gemeinschaft der Hingebung aus jedem mehr wird, innerlich
und dusserlich, als er einzeln ist. Aber sie ist auf unsere Art
religios, gerade dieser neuen Zeit gem&ss, indem sie sich durchaus
nicht mit der inneren Form des Menschen begnUgt, sondem darauf
dr&ngt, mit dem inneren Menschen auch sein dusseres Leben
umzuformen.
Wenn man sich eine Begegnung jener neuen Theologien
mit dieser ungeheuren Organisation der Sozialdemokratie vor-
stellt, erbliekt man ein Zeitalter, das vielleicht das ganze Leben
der Menschheit so von Grand aus er neuen wird, wie das Ur-
christentum einst.
Selbst-Rezension 327
Selbst-JKezension
Von FERRUCCIO BUSONI
■ 1 . : ■ . , ■ ,
r ► i
,,Nun gibt es F&lle, wo ein Mann
so von einem Erlebnis erfQllt ist, daB
or sich gedringt fQhlt, es darzustellen.
er greift zur schriftlichen
Mitteilung — als Beichte ; zur tiber-
tr&genen Form des gestalteten Bildes
— als Spiegelung. Mag es Klarheit
fOr ihn, Aufkl&rung , Bereicherung
fOr die Freunde, fQr GleichfOhlende
bringen, Werbung oder Verteidigung
sein, es reinigt und entlastet ihn.“
JAKOB WASSERMANN
in „Der Literat"
Am 19. Januar dieses Jahres erwies mir die von Oskar Fried
geleitete Gesellschaft der Musikfreunde die Ehre, einen ihrer
Abende ausschliefilich meinen Kompositionen zu widmen. Der
Abend war fiir mich bedeutsam ; die Ausfuhrung war gl&nzend,
das Publikum aufmerksam uud zur Anerkennung bereit, die
Kritik — nachtrdglich — im ganzen voller Achtung, von gutem
Willen getragen und in der Ansicht iiberemstimmend, daB ich
das Neue wolle. • — Mit Betonung auf das M Wollen“. — Diesem
Vorwurf hatte ich (vergebens!) schon einmal vorgebeugt, als
ich schrieb: ,,Der Schaffende erstrebt im Grunde nur die
die Vollendung. Und indem er diese mit seiner Individualit&t
in Einklang bringt, entsteht absichtslos ein neues Gesetz.“
In dem Begriffe des ,,Schaffens“ ist jener des ^Neuen^
enthalten; dadurch unterscheidet sich das Schaffen von der
Nachahmung.
Man folgt einem grofien Beispiele am treuesten, wenn man
ihm nicht folgt: denn dadurch wurde das Beispiel grofi, daB
es sich von seinem Vorg&nger abwandte.
In diesem Sinne sprach zu einer kleinen Gemeinde Arnold
Schdnberg als er bewies, wie wenig hilfreich die Theorie der
Komposition sei; indem sie einem nur das Bekannte lehre.
Der Schaffende will jedoch das Unbekannte.
Das Unbekannte aber ist vorhanden.
Es gilt nur, es zu erfassen. Es gibt kein Altes und Neues.
Nur Bekanntes und noch nicht Bekanntes. Von diesen scheint
Selbs t-Rezension
mir, daB das Bekannte bei weitem noch den kleineren Teil
bildet.
Auf dem Programm des 19. Januar stand zuerst eine
Fantasia contrappuntistica. Dieses Werk entwuchs dem
Versuche, die unvollendete letzte Fuge Job. Seb. Bachs aus-
zugestalten. Es ist eine Studie. (Jedes Selbst-PortrSt Rem-
brandts ist eine Studie; jedes Werk: eine Studie fiir das n&chste;
jede Lebensar beit : eine Studie fur dip Sp&teren.) Das Bachsche
Fragment ist auf vier Fugen geplant, von welchen zwei
vollendet und die dritte begonnen vorliegen. Das Fragment
bricht ab an dem Moment, wenn die drei Themen zum ersten
Male zusammentreffen. — Zundchst fehlte die „Durchfiihrung“
dieser drei Themen.
Eine Fuge mit drei Subjekten ist immerhin eine recht ge-
furchtete Aufgabe. Aber die drei Subjekte waren gegeben,
ihre Aufeinanderstellung war pr&zisiert, und die Themen sind
kontrapunktisch-fruchtbarer Art.
Die vierte Fuge dagegen war vollends neuzuschaffen. Fiir das
noch unausgesprochene (vierte) Thema war kein Anhaltspunkt
gegeben; es wire denn die unabwendbare Bedingung, dafi
dieses vierte Thema mit den frtiheren drei gleichzeitig
zu erklingen hatte, alo zu ihnen „passen“ muBte. — Da das
Hauptthema der „Kunst der Fuge* 4 (von welchem Werke das
fragment** den AbschluB bildet) unter jenen gegebenen drei
Themen sich nicht befand, so war es leicht zu raten, dafi
dieses Hauptthema — als viertes — hinzutreten und so den
Kreis des Gesamtwerkes schliefien sollte. Diese Frage be-
an twortete bejahend und endgultig Bernhard Ziehn in Chicago
und ich konnte auch diesen Teil meiner Arbeit auf sicherem
Grunde beginnen.
Aus Bachschen Intervallen baute ich, auf diese vier, noch
ein fiinftes (deutlich kontrastierendes) Thema, so dafi mein
Schiff nun mit ffinf gespannten Segeln fiber das schwierige Ge-
wfisser fuhr.
Ein fiinffadier Kontrapunkt l&Bt 120 Umkehrungen der
Stitnmen zu. Hierbei sind die MSgliChkeiten der Engfiihr ungen,
Umkehrungen, VergrBBerungeh, Verkleinerungen und der Trans-
position nicht mitcrerechnet. Schon eine einziee Form der
it mitgerechnet. Scl
lifeBe sich wiedetum
zu
posinon nicnt mitgerecnnet. ocnon erne einzige r orm aer
Engfiihrung liPfie sich wiedetum x 20 mal „umkehren**. zu
diesen altehrwiirdigeh Mitteln aus der Riistkammer der Schule
brachte ich noch aus eieenem Vorrat die Alteration det
Dracnre lcn nocn aus eigenem vorrat ate Alteration oer
Intervalle, des Rhythmus und die Variation des Themas.
Die KombinatiOnsrndglichkeiten wurden dergestalt so unttber-
sehbar zahlreich, wie jene des SchaChspiels. Damit konnte
Selbst-Rezension
329
r
man eine so wohl angelegte Meisterpartie fortfiihren und zu
Ende bringen. y
Seit friiher Kindheit habe ich Bach gespielt und Kontra-
punkt geubt. Damals war es mir zu einer Manie geworden,
und tats&chlich kommt in jedem meiner Jugendwerke mindestens
ein „Fugato“ vor. Nun fand ich mich wieder als Kontra-
punktiker, wenn auch auf einem fur mich durchaus neuen
Standpunkt. Die ununterbrochene, versteckte Arbeit derNatur
hatte vieles in mir unbewufit gewirkt und ich wurde unver-
muteter Erru ngenschaf ten gewahr, die innerlich gereift waren.
Von diesen eine der wertvollsten war die durch rucksichtslose
Poliphonie sich neu gestaltende Harmonik. So hatte ich viele
Werkzeuge in der Hand zur Fertigung eines guten technischen
Bauwerkes: vor allem aber fiihle ich mich als Kiinstler, und
mir ist das Kunstwerk das Endziel aller menschlichen Be-
strebungen. Mir erscheinen die Wissenschaft, der Staat, die
Religion, die Philosophie als Kunstgebilde und erfreuen und
erregen mich nur als solche.
Dem Kiinstler sind die Form, die Fantasie und das Geffihl
die Unentbehrlichen, die Geliebkosten, die, welchen er opfert,
sich selbst opfert. DieSe trug ich in meine Erginzungsarbeit
hinein und dadurch wurde es mein Eigen es. Ich glaubte im
Geiste Bachs zu wirken, wenn ich die letzten Mdglichkeiten
unserer heutigen Kunst — als organische Fortsetzung der
semen — in den Dienst seines Planes stellte; wie ihm selbst
die letzten Mdglichkeiten der Kunst seiner Zeit zum Ausdruck
wurden.
Die Fantasia Contrappuntistica ist weder fur Klavier,
noch fflr Orgel, noch fiir Or Chester gedacht. Sie ist Musi&
Die Klangmittel, welche diese Musik dem Zuhdrer mitteilen,
sind nebens&chlich.
Als Zweites folgte am selben Abend ein Berceuse ilegiaque,
ein der toten Mutter eesuneenes Wiegenlied, fiir eine gewdhlte
ein ' der toten Muttdr gesxmgenes Wiegenlied, fiir eine g<
kleine Besetzurlg Von Streich- und Blasinstrumenten,
rmd Celesta. Bel diesem Stiicke, welches nun zwei
z&hlt. gelang es mir zutn ersten Male, einen eigenen
zu treffen, und die Form in Empfindtihg aufzulSser
so befremdender war es mir. mein Werk mit der J
h . y *■
* ■ f
j > * ■ V J
■ |
1 . 1. ■
so
mit der Art des
Franzosen Debussy verwechselt zu lesen. Diesem Irrtum will
ich entschieden entgegentreten .
Debussys Kunst fordert seine personliche, scharf be-
grenzte Empfindung — aus seinem Gemiit — in die Aufien-
welt: ich bemiihe mich, aus dem Unendlichen, das den
Menschen umgibt, zu schopfen und, gestaltet, zuriickzugeben.
Selbst-Rezension
Die Kunst Debussys bedeutet eine Einschr&nkung, die aus
dem Alphabet manchen Buchstaben streicht und nach dem
Beispiel scholastisch-poetischer Spiele, Gedichte mit Auslassung
des A und des R konstruiert : mein Bestreben ist die Bereicherung ,
die Erweiterung, die Ausdehmmg alter Mittel und Ausdrucks-
arten. Debussy’s Musik iibersetzt die verschiedensten Gefiihle
und Situationen mit gleichlautenden Formeln ; ich bin bestrebt, zu
jedem Sujet andere und entsprechende Tdne zu ftnden. Debussys
Tongebilde sind parallel und homophon: Die meinen wollen
polyphon und ,,multiversal“ sein. Bei Debussy sehen wir den
Dominant-Nonenakkord als harmcnische Grundlage, den Ganz-
ton als Prinzip der Melodie, ohne dafi die beiden sich ver-
schmelzten; ich versuche jedes System zu vermeiden, Harmonie
und Melodie zur unaufldsbaren Einheit zu giefien. Er unter-
scheidet Konsonanz und Dissonanz; ich lehre diesen Unterschied
zu leugnen. Ich versuche, ich will, ich „bin bestrebt"
nicht, dafi ich es bereits in der Vollendung und in umfassender
Weise t&te ; denn ich fiihle mich als An f finger — und Debussy
ist ein Abgeschlossener.
Das ,,Concerto“ fiir Klavier, Orchester und M&nnerchor
bildete die dritte und letzte Nummer des Abends. Es ist ein
Opus, welches die Ergebnisse meiner ersten Mannesperiode zu-
sammenzufassen trachtete und das ihren eigentlichen Ab-
schlufi darstellt.
Wie jedes Werk, welches in einen solchen Zeitraum der
Entwicklung ffillt, ist es reif durch gewonnene Erfahrung und
auf Tradition gestutzt.
Es weist durchaus nicht auf die Zukunft, sondem reprfisentiert
die Gegenwart seines Entstehungsmomentes. Die Proportionen
und die Kontraste sind bedachtsam verteilt und dadurch, dab
der Plan endgiiltig feststand, bevor die Ausfiihrung begann,
ist in ihr nichts Zuffilliges.
Das Alte ffillt nicht vor dem Neueren, wohl abet vor dem
Besseren. Wir haben das den . Akademikem vor aus, d&B wir
das Neue erhoffen, indem wir das Alte ehren ; dafi wir .leiden
konnen und geniefien zugleich; dafi wir uns willig beugen,
ohne unt&tig zu bleiben.
Der Giinstling des Publikums 331
Der Giinstling des Publikums
Von AUGUST STRINDBERG
r ■
Der Giinstling des Publikums ist eine eigen tiimliche, aber
sehr gewdhnliche Erscheinung. Es ist nicht das grofie Talent,
die Zierde der Biihne, der anerkannte Erste, der Unbestrittene,
sondem es kann etwas sehr Durftiges sein. Etwas Ein-
nehmendes, Gewinnendes bei einem unbedeutenden Menschen,
der ein einschmeichelndes Wesen besitzt, friih von einer
Koterie lanziert, von Freunden in der Kritik zu den Wolken
erhoben wird ; der sympathische Rollen von nicht verwickelter
Art erh<, der einem gutmutigen Publikum so oft aufgenfitigt
wird, daB es sich geschmeichelt fiihlt, dafi eine Biihnengrdfie
ihm den Hof macht.
Er spielt mit einem gliicklichen Naturell, mit zwei schdnen
Augen, einigen klingenden Tonen, einer niedlichen Gebftrde,
einer dreisten Miene; spielt aber nicht seine Persbnlichkeit,
denn die ist nicht vorhanden. Gibt eine Art antispiritistischer
Sitzungen, bei denen alle Kniffe zu sehen sind, weil sie nicht
verborgen werden kdnnen . Kann Dimensionen annehmen, bei
festlichen Gelegenheiten zum Genie emannt werden und als
ein Illusionist die Illusion von Talent geben. Biihnenkunst ist
fiir ihn oder fiir sie eine hohere Koketterie, und der Zu*
schauerraum ist ein Salon, in dem die Triumphe des Salon-
lebens als Biihnensiege gefeiert werden.
Acht Jahre lang verfolgte ich eine solche Kometenbahn.
Als ich im ersten Jahr aufgefordert wurde, mich zu Hufiem,
gab ich, von einem natiir lichen Schwung uberwunden, die an-
geborene Anlage zu; konnte mich jedoch nicht vor einem
Talent, das nicht vorhanden war, beugen, wenn ich auch
hoffte, hier werde etwas Bedeutendes heranwachsen. Was ich
dann sah, war nichts. Ich horte nichts, obwohl ich Gehor zu
besitzen glaube, und was ich sah, war unwirklich, unbestimmt,
ein Projektionsbild auf Rauch. Aber ich wurde verwirrt, da
Publikum und Kritik das Talent zu den Wolken erhoben ; ich
hielt also mein Urteil zuriick, aus Furcht, dafi ich mich geirrt
habe.
Wir entnehmen diesen Abschnitt
MQnchen) erscheinenden letzten Band
Strindbergs Werfcen ,^>raRiaUirgi«“.
dem soeben (bei Georg MtUler,
der Gesamtausgabe von August
Der Gfinstling des PubUkums
Die nichste Aufgabe war groB und ernst, aber lcJht jxict tilths
den Erast nicht; keine Miene oder Gebdrde war beobachtet,
immer aber war da ein einschmeichelndes Wesen, das sich ans
Publikum wandte und Zustimmung suchte ; und das gelang ihm.
Als ich aussprach, es sei tauter Falschheit, wurde ich nieder-
gestimmt. Dann blieb ich sieben Jahre fort. W&hrend dieser
Zeit war mir der Ruf iiber die Ohren gewachsen. Der Gunst-
ling war zur GroBe gestiegen, und man hatte ftir den Sieges-
zug einen blutigen Weg gem&ht, auf dem Kleine und Grofie
Iagen.
Parallel ging jedoch ein Unterstrom von Kritik und Wider-
stand: ungeteilt war der Beifall nie. Die Opposition konnte
zuweilen durchbrechen und sagen: Das ist Abwesenheit von
Talent, das ist das blanke Nichts! Die Wirkung war, daB die
Gegenpartei ihr Bieten noch steigerte, und bald war der Gipfel
erreicht.
Da muBte ich eines Tages mitgehen nnd mir das Wunder
ansehen. Ich kam und sah ! Hatte guten Willen, war bereit
zu bewundern, im Notfall nachsichtig zu sein; glaubte das
aber nicht ndtig zu haben. Und jetzt sah ich nach 8 Jahren:
einen Raisonneur ohne Stimme, einen ausgesungenen Tenor,
der von keiner Seelenregung getragen wurde, ohne Spannung,
ohne Inter esse, leblos, talentlos.
Es war das blanke Nichts! Es konnte nichf berichtigt,
nicht verbessert werden, denn da war nichts vorhanden, das
man h&tte verbessern, aus dem man etwas h&tte machen
kdnnen. Aber er machte doch Gltick ! Das Publikum sah
seinen GUnstling noch, so wie er einmal ge wesen, aber jetzt
nicht mehr war; hdrte eine Stimme, die nicht existierte.
Diese Erscheinung kann man nur als eine hypnotische
Stance erklSren, auf der Schwachkopfe veranlasst werden, alles
mogliche zu sehen und zu horen ; auf der aber auch das
Publikum dem Gunstling den Eindruck zuHlckgibt, er sei eine
GrdBe, denn ein flberlegtes Schelmenstflck kann man es nidht
nennen. Um so weniger als der Gunstling in einer ewigen
Unruhe lebt, er kdnne aus seinem Rausch erwachen und die
Fihigkeit zu illudieren verlieren; von dem Zweifel gepeinigt
wird, ob Talent vorhanden ist oder nicht. In Augenblicken
tiefsten MiBmutes w&chst der Zweifel zur GewiBheit; dann
verachtet er die Kunst und das Publikum, „daB sich anfiihreti
l&fit“.
Das Erwachen auf beiden Seiten ist schreckHch. . Aber' der
KBnstler, der die Biihne miflbraucht hat, um seine Eitelkeit
auszustellen, und Ehre und Gewiksen fiir die Gufist des Augeh-
333
Der Giinstling des Publikums — Fasching als Logik
blicks opferte, hat keinen anderen Lohn zu erwarten, auch
wenn das Mitleid auf rich tig ist.
Das Unbegreiflichste ist jedoch, dafi die Dupierten die Fehler
des Guns t lings als Verdienste lesen und die Mangel als Un-
vollkommenheiten sehen; und wenn schlieOlich das Einzige,
was nicht zu bestreiten war, das reizvolle Naturell, die Schon-
heit der Jugend, die schlanke Gestalt verschwunden ist, sehen
die Verblendeten noch immer — was nicht mehr da ist. Das
erinnert an die Ausdriicke : einem das Gesicht verkehren,
Zauberei uben; und die weiblichen Giinstlinge altem auch wie
Hexen.
Fasching als Logik
Vortrag eines Marsbewohners
Mitgeteilt von Dr. S. FRIEDLAENDER, Halensee
Die verehrten Herren, den Herm Paul Scheerbart (eventuell)
ausgenommen, irren sich alle, alle. Als Dr. Robert Mayer die
Konstanz der Kraftsumme konstatierte, behielt er soviel geniale
Besonnenheit, dieses Gesetz nicht in sein Privatleben dringen zu
lassen, allerdings war er hier nichts als ein guter Christ, und es
fiel ihm also auch nicht ein, sein Privatleben in jenes Gesetz
dringen zu lassen. Und iiberhaupt, meine verehrten Leute : was
h&tte wohl das selbsteigene Privatissimiun
auch abgesehen
davon, dass Sie es sich meistens durch Ihre hochinteressanten
sozialen Fragen ersparen
mit den Gesetzen der sogenannten
Natur, welche doch nicht etwa Ihre eigene ist, zu schaffen? —
, , Wer ISsst den Sturm zu Leidenschaften wiiten ?“ Der Dichter l
Bloss der Dichter 1 Wer l&sst gleich die Erde beben, wenn ein
Heiliger und eine Gans sich paaren ? Immer wieder der verfltichte
Dichter, der deh Gott, so ihm im Busen wohnt, bekanntlich nichts
nach aussen bewegen lassen kann.
Glaubt man emstlich : Natur sei immer so ieblos gewesen wie
heute ? So abendlich ? Kraftverlust gegen Kraftgewinn 1 5 d -
lie h exakt abwggend? Maschinenm&ssig starr ? Diese so-
genannte Naturgesetzm&ssigkeit, die ihr Geheimnis, das nicht ih
der Zahl, aber in der Null liegt, kaum wittert, ist nur die Pro-
jektion der Pathologic des eigenen Erlebens. „Da$ wollen alle
Herm sein, und niemand ist Herr von sich. 1 * Man findet unter
ihnen die merkwiir digste n Plus- und Minusmacher, die extrem-
sten Negativisten und Positivisten. Aber sobald es sach darum
■-•-v -M
Fasching als Logik
handelt, eins gegen das andere abzuwigen — ja I Dasind sie
sich alle einig : das gibt nichts und wieder nichts ! Und „schlank
und leicht aus dem Nichts zu springen", ist gar nicht ihre Sache.
Das ahnt nur der Narr, der verdammte Dichter.
So wollen wir sie denn necken, wollen ihnen logisch so-
perpetuierlich mobil vor den klugen Augen herumrollen, bis diese
ihnen ubergehen : Wir werden die Wollust auskosten, allgemein
unfasslich und „gleich geheimnisvoll fiir Weise wie fur Toren**
durch unsem vollkommenen Widerspruch zu werden ; wir
bringen alle ihre Ja's und Nein's in einen Ateml Und unser
Atem weiss, wo aus und ein.
Alsol Es gibt gar keine „Welt“, sondern Welt ( — ®=>) erlebt
Welt (+ °°) • gibt nicht dieses Ungeziefer, diese Lfiuse, Flohe^
Menschen; sondern oo grenzt lebendig an oo in begrenzter Figur,
in einem Etwas, das von jenen zwei Toden lebt, sie gegeneinander
atmend, balancierend. Oh, diese Sicherheit zwischen zwei Gef&hr-
dungen, zwischen den beruhmten zwei Meeren. Auf hohem Joche
wandelnd ! Niemals verlierbar — vom Schein des Selbstverlustes-
geneckt ; niemals feststellbar vom Schein der endgultigen Ge-
winnung geneckt : wird sie schweben lernen zwischen so magnetic
schen Polen fast zerquetscht, fast zerrissen ? Wird sie endlich
atmen lernen ? Diese lebendig-tote Indifferenz ? Meine Herren I
Die Verkennung des Nichts richtet uberall diese grauenhafte
Verwirrung an, welche Sie die Gute haben, Leben zu nennen r
menschlich - allzu menschliches Leben. Aber das Nichts ist ja
Indifferenz der Welt, des oo, dieser monstrosen Differenz. Wollen
Sie denn partout in diesem kitzlichen Punkte sich ewig lahm
legen ?
Alle Differenzen des oo sind polar , d. h. einander spie>
gelnd wie — oo das -f* oo, seien sie nun mechanisch, chemisch,
vegetabilisch, animalisch, anthropologisch. „Ob nicht Natur zu-
letzt sich doch ergriinde ?“ G e w i s s ! Wenn es meine eigene
Natur ist, und Sie besitzen ja, meine Herren, dieses Ich alle,
wenn auch nioch so tnino- oder majorisiert: wollen Sie nicht
helfen, es echter zu differenzieren, dadurch dass
Sie es auf die echte Indifferenz einstellen : auf die Mitte
Nichts?
4
■fc t
Eine saubere Alternative ! Entweder nfimlich bin ich ge-
zwungen, mich fur ein Atdmchen, ein Elektrdnchen, einen
lumpigen Weltpunkt zu halten ; oder diesen Punkt fiir die leben-
dige Indifferenz der Weltpolarit&t : in der als Spezialfal! des — «•
auch jenes Punktchen, also das erste Glied der Alternative
figuriert. Entweder ist meine Logik die Logik des <» ; oder sie
ist — es ist ihr selbst auszudenken unmoglich : w i e unbedeut-
T
Fasching als Logik 335
sam. Und entweder ist dieses ganze Entweder — odern das ebbende,
flutende Aethermeer der Polaritlt, welches uns Seekranke,
Gleichgewichtskranke seegesund, gleichgewichtig schwebend und
schwimmend will : oder der Irrsinn ist Anstandssache.
’ W
t
Ohne das Leben freilich, ohne eignes Leben wire die
Paradoxie des 00 besiegelt. Aber ,,L e b e n“ bedeutet eben den
. Bindestrich, das elastische Syndetikon seiner Inkommensurabilitlt
mit sich selbst : Indifferenz der unaussprechlichen Diffe-
renz von — 00 und + «»• Dass nlmlich c« sich tot indifferen-
ziere, ist nicht zu befiirchten : dagegen kann es sich eben deswegen
nur dann exakt, rein, prlzis die Wage halten, wenn es deren
Zunge scharf auf Null einstellt: eben hier wird sich, weil das
eigentlich sein freiwilliger Selbstbetrug ist, das lebendigste Leben
das pulsierendste Atmen erweisen. Aber das ist allein zuerst und
zuletzt ein . . . . sittliches Kunststiick des eigensten Er-
1 ebens und kann sich deshalb am Weltleibe nicht eher vollkominen
offenbaren als bis die Weltseele, die Weltindifferenz, exakt
funktioniert. Wie sollte dies nun gelingen, so lange man zwar
ausserst scharfsinnig differenziert, aber weder die Polaritlt der
. Differenzen des ca erkennt, noch den Charakter des Erlebens
. als dessen Indifferenz, dessen nihil vivum, mors viva ? ?
„E n d 1 i c h k e i t“ ist das Monogramm des <x> aus dessen
Initialen — eo und -j- ea. Aber wie sollte sich denn die Kalli-
graphie dieses Monogramms evident machen, wenn die Initialen
des «» gar nicht als solche gelesen werden : wenn man im „End-
lichen“ gar eine Art Gegenteil dazu oder ein blosses Fragment
oder etwas agnostisch Empirisches erblickt, das den Geist anti-
nomisch depotenziere ? ?
■ ■ 1 1
Meine Herren I Stellen wir die echte „Endlichkeit u , G r e n z e
her, und wir erfassen das echte o» und mit ihm das echte
r r r
Perpetum mobile. Also begreifen Sie doch dieses kaprizidse
Wesen eo, es ist ihr eigenes und das aller Welt 1 Was treibt es
denn? — Balance, Balance, Balance, das ist sein ganzes Leben.
Seine unausrottbare Inkommensurabilitlt mit sich selber gibt
ihm alle Ewigkeiten hindurch zu schaf fen. Es ist in jedem
Betracht — fur sich selber zu gross ; fur sich selber zu klein. Es
uberholt sich, es bleibt hinter sich zuriick ; ist Monstrum, so per
excessum wie per defectum. Stttrzt es ins Plus, gleich stiirzt sein
Minus hinterher und zerrt es zuriick. Und das ganze Leben
dieses Wesens strahlt und dunkelt von einem Null-Punkte aus,
• h
der nicht Plus noch Minus treibt ; sondern Balance, Balance,
Balance, Herren. Die Natur offenbart sich niemandem als sich
selbst und tun so leuchtender, je herzhafter man diese persdnliche
Identification mit ihr vornimmt. Wer hierin keinen Rest llsst,
33 $
Fasching als Logik
dem gibt sie sich resttos zu eigen. Gibt es etwas Resttoseres als
das Nichts?
a
Von hier aus also soil man sehend leben lemen wie man es -
handlings gar nicbt anders kann. Alsdann wird auch Natur ihre
perpetuierlich mobilen Gleichgewichtswunder so hell zu erkennen
geben, wie sie sie jetzt schamhaft verbirgt. Es ist ein netter
Unterschied, ob man eine menschliche Halbnatur Oder gottlich
runde Natur sei. Halbnaturen tendieren nach dem -f- «© ; repel-
liert, resignieren sie mehr und mehr im — co ; aufgeriittelt,
schwanken sie entweder dazwischen hin und her oder sie
stabilieren ihre Labilitftt endgiiltig, bis Mme. la mort ihnen diesen
Standpunkt sehr klar macht. Runde Naturen, Gdtter schweben
gleichgewichtig, weil sie vom Zentrum, vom Nichts der Diffe-
renzen aus die Differenzen erleben. In der Zeit sind sie des
Jetzt m&chtig, dadurch aller Vergangenheiten und Zukiinfte.
Im Raum des H i e r s , dadurch aller p o 1 a r e n Entfernung } in
der Bewegung des Gleichgewichts, dadurch aller Richtungen und
Geschwindigkeiten, aller Varianten, aller Polaritdt. Und das
alles bloss deswegen , weil sie die Konstanz der Naturkrdfte, der
Kr&fte ihrer selbsteigenen Natur erleben, aber nicht ertoten.
Weil sie einsehen, dass ein co sich zwar paralysiere, aber nicht
todlich , sondem wie der rechte Fliigel eines Adlers den linken.
Wer das Perpetuum positiv (+ °°) nimmt, ist naiv. Desgleichen,
wer es dann sogleich negiert ( — co) : Wer aber die Oszillation der
Bewegungs null, ihr nihil vivum, scharf und klar in sein
dann nicht mehr menschliches Auge fasst, hat
den Punkt getroffen, auf den es bei aller TheopSdie und perpetuier-
lichen MobiUt&t ankommt. Man hore ! Denn hier geht es auf
Tod und Leben, auf Mensch und Gott. Ja, hier entscheidet sich
das Leben !
Erst der Selbstvernichter ist der echte Selbst- und Welt*
schopfer. Die Leere erst wird Lehre; man denke an Faust’s
Gang zu den Miittern. Dieser Selbstmord, bei dem man leben
bleibt, diese Erlosung von sich, durch die man wesenhafter wird,
ist geisterhafter Natur, unmerklich: „Erlosung ist ein himmlisch
leichter Zwang.* 1 Mit sich eins werden kann man nur dadurch,
dass man das Zentrum der eigenen Differenzen absichtlich
sein lernt, wie man es instinktiv-reflektorisch gar nicht anders
sein kann. Unter dem Namen Philosophic wird die Vemunft
des Lebens erst noch gesucht; wdhrend Kunz und Hinz ver-
meinen, sie ware langst vorhanden. Also das verniinftige, fiber
sich durch und durch hell gewordene Leben wird erst noch
gesucht: es ist immer erst noch scheinlebendig, scheintot, dunkel,
blind, bevor unser Gedanke seine Differenzen verm&hlt; und
Hi
I
vn
■ h
Fascbing als Logik
>
337
zwar ohne den geruigsten wahmehmbaren Rest, in einer pr&zis
ezakten reinen Mitte — : diese, nur diese wird leben und per-
petuierlich mobil sein, d. h. Ezistenz fortwihrend aufgebend,
um zu ezistieren. Diese reine Mitte erst zwingt alle Kontraste
des Lebens bis in seine Mechanik hinein zur reinsten Entscheidungl
Diese Synthesis analysiert auf das entschiedenste. Zwingt euer
Ich in einen Punkt, in ein Nichts zusammen — und alle Wunder
des Gleichgewichts erscheinen hell so wie sie dunkel bereits
allenthalben spuken; erscheinen rand wie sie halb und halb
immer bereits als Gleichnisse hinken.
Aber darin liegt's. Die Menschen kennen alles, nur nicht
das Nichts! Das Nichts von Allem (von <*> 4-), das Nichts von all
dessen Unterschiedenheit. Und wehe I wenn sie Mystik damit
treiben: Dann endet in ihm die Unterschiedenheit, wie in einer
fizen Idee. Ueberhaupt Menschen erkennt man sofort daran, dass
sie j a Oder n e i n sagen, ohne dieses Entweder — Oder lebendig-
neutral zu kommunisieren. Sobald sie dieses iiberhaupt ver-
suchen, scheinen sie den Gefahren der Hypnose, des Irrsinns,
der Ekstase, des om-mani-padma-hum gar nicht mehr wider-
stehen zu konnen. Widersprfiche zu balancieren ist eine Squi-
libristische Fertigkeit, und die menschliche Physis ist hierin
geistreicher als die menschliche Psyche, dieser Minotaurus des
physiologischen Labyrinthes, der lieber dessen Ariadne abgeben
sollte. Man beachte doch, <*«-« sogar der eminenteste Logiker,
der alte Kant, aus bejahenden und verneinenden Urteile un-
endliche, aus Realit&t und Negation Einschr&nkung als
wie eine Tiefendimension aus zwei Flachansichten hervorgehen
lasst. Also tertium semper datur certe! Selbst also, wenn im
Falle des Lebens und Daseins dieses Tertium zwischen dem
Minus und dem Plus seiner Unerschopflichkeit wie tote Konstanz,
wie nichts und wieder nichts, wie leblose Indifferenz, wie blosse
Grenze, wie Endlichkeit, anmuten sollte — , wie weder Ja
n o c h Nein: so lasse man sich doch nicht gleich ins Bockshorn
jagenl Diese „Vernichtung“ ist ja der (wahrhaft iiberkugellager-
massig reibungslose) Hebelpunkt des gesamten Weltbalkens,
um den dieser eben spielen lemen muss und kann. Der Mensch
hat ein wahrhaft kolossales Vertrauen zum ,,Tode“,
eine ganz und gar dumme Vertrauensseligkeit ohne ein Arg;
er ist das wahre Rindvieh des Todes, wirklich monstros viel mehr
des Todes als des Lebens. Je mehr Misstrauen, desto mehr
Philosophic, riet Zarathustra, ohne den Rat besser zu befolgen
als . ... mysterids, also, wie gesagt, schldfrig, trdumerisch,
mittern&chtig. Die sonstigen Unsterblichkeitslehren sind schon
wegen des thorichten Wortes Missverstftndnisse der polaren
33 »
Fasching als Logik — Eine Audienz bei Goethe
Natur des «>, des Lebens,
zu sasren. das von iau
das „stirbt und wird“, um es rasch
zu sagen, aas von iquilibrischer Wechseldauer ist, kelnen
dummen „Tod“ zwar, aber Sterblichkeit haben muss. Der
„Tod“ ist nichts als die Lebensdummheit des Menschen, die
er doch mindestens vor Allem logisch beseitigen kdnnte: denn
der echten Logik fiigt sich die gesamte Natur wie das Orchester
dem Kapellmeister: der polaren Logik, die das Nichts,
als zittemde Indifferenz des •», zum Mittelbegriff ihrer gesamten
Differenzierung hat; zum lebendigen Balancement (perpetuum
mobile logicum). Denn ohl Wer den Mosesstab erhebt. um
zwar. aber Sterblichkeit haben muss.
Der
mobile logicum).
Wer den Mosesstab erhebt. um
trockenen Fusses durch das blutige Meer menschlicher Wider-
spriiche zu schreiten — welche grimmigen, wenn auch vergeb-
lichen, Anbrandungen wird er erleben. Ja, die Gesundheit, die
Vemunft ist ein Wagnis, eine Gleichwagung. Aude valerel
Sapere audel Hier ist ein Gipfel! Hier ist das Hier, das Jetzt,
das Leben, das echte Perpetuum mobile, das weder bejaht noch
vemeint, weder stabilisiert noch explodiert: sondern dessen
Labilitit erkannt und von seiner Pathologie durch Neutralisation,
Zentralisation, restloses Gleichgewicht saniert werden kann.
Hort, verehrte , aber dumme Manns- und Weibspersonen, Oder
seid des „Todes“. —
Eine Audienz bei Goethe
Von EMIL SCHAEFFER
■
Linger als eine Stunde diirfte ich nicht verweilen. Unter
dieser Bedingung ward mir Einlafi ins Empyreum der Dichter
gewihrt. Einen J iing ling, der mir gerade begegnete, frug ich
nach dem Wege zu Goethe. Es zuckte seltsam um seine
Mundwinkel: „Hitte ich ihn da unten finden konnen, vielleicht
wire manches anders gekommen. Aber dort sehen Sie schon
sein Haus ; man baute es ihm genau nach dem Vorbilde des
Weimarischen ; und sagen Sie dem Herrn Geheimrat einen
schdnen Grufi von Heinrich von Kleist! <(
Beklommen und nachdenklich zugleich legte ich die wenigen
Schritte bb zu Goethes Wohnung zuriick, wurde, indes mir
vor Angst das Herz klopfte, in das Junozimmer geftihrt, und
bald darauf erschien er selbst, gerader, beinahe steifer Haltung,
schwarz gekleidet, den Ordensstern auf der Brust. Wihrend er
gelassen auf einen Sessel deutete, forderte er mich freundlich
auf, mein Anliegen vorzubringen. So begann ich denn mit
stockender Stimme: „ Vielleicht haben Ew. Exzellenz bereits er-
Eine Audienz bei Goethe
fahren, dafi ein Leipziger Verlag, der uns oftmals schon zu
Dank verpflichtete, der Insel ‘Verlag, von Ew. Exzellenz „Italie-
nischer Reise“ eine prachtvolle Ausgabe . . .“ Goethes Antlitz
verdiisterte sich. ,,Was,“ — rief er unwirsch — „eine jener
entsetzlichen Prachtausgaben, wie solche von ,, Hermann und
Dorothea* 4 oder meinem „Faust“ in den guten Stuben auf den
Tischen herumliegen ?“ „Nein, Exzellenz, “ — beeilte ich mich zu
erwidem — „dieser Verlag begeht derartige Barbareien nicht;
das Format des Werkes ist zwar grofi, aber trotzdem gef&llig;
xnit Vergnugen gleitet der Blick fiber die edlen Typen des
Buches, dessen herlichsten Schmuck die trefflich wiedergegebenen
Zeichnungen bilden, die Ew. Exzellenz und dero Freunde in
Italien schufen.**
Goethe lachelte, wehmutig und doch zugleich, wie mir
deuchte, etwas geschmeichelt : „Mein armselig bifichen Zeichnen 1
So kommt es doch noch einmal zu Ehren!** „Mehr als das,
Ew. Exzellenz, man bewundert es, und die Berliner Secession
Ififit hiermit Ew. Exzellenz wissen, dafi diese Kiinstlervereinigung
stolz wire, wenn sie Ew. Exzellenz zum Ehrenmitglied er-
nennenl dfirfte, und sie hofft um so eher auf dero zustimmende
Antwort, als manche Zeichnungen Ew. Exzellenz ja erfullt
sind von einem ganz modemen Impressionismus** . . . Ein
fragender Blick der unvergeflbaren Augen liefi mich inne-
halten . . Ach ja, der uns vertraute Begriff mufite hier erst
erklfirt werdenl
„Der Impressionismus also, zu dem sich Neunzehntel dieser
Maler bekennen , will** — mfihsam suchte ich eine Definition
zusammenzukleistern — „unter moglichster Ausschaltung
anderer Vorstellungen den Natureindruck als Ganzes unmittelbar
wiedergeben.** . . „Hm . . so . . . so . . . aber welcher Natur?**
,,Jeglicher Natur, Ew. Exzellenz, jeder farbigen, von Luft um-
spielten Oberfiache. Der Gegenstand an sich ist diesen Malem
vollkommen gleichgultig.** „Hm,*‘ Goethe wiegte mifibilligend
das Haupt. „Das ist nicht recht. Nur wenn er einen echten
Gegenstand hat, kann der Kiinstler etwas E( htes machen.”
„Und doch haben Ew. Exzellenz selber einmal geschrieben,**
wagte ich schiichtern — ,,dafi der rechte Kiinstler ebenso fein 1
das Gesicht seiner Geliebten wie seine Stiefel oder die An tike
darstellen konne?“ Hier wurde Goethe verdriefllich : „Man
mdge sich doch nicht immer auf Ausspriiche meiner unreifen
Jugend berufen; als ich na< h Italien fioh, um, wie mein
werter Freund, der Professor Schiller, sagte, von innen beraus
und auf einem nationalen Wage ein Griechenland zu gebiren, .
Eine Audienz bei Goethe
34 <*
da lemte ich es anders und besser.“ Mit starken Schritten
auf- und abschreitend fuhr er fort.
, Jede farbige, von Luft umspielte Oberfliche, sagenSie . . ?
Nein . . . ! Dann muflte diesen Herren doch Venedig ein
Dorado sein und sehen Sie, ich habe dort Alles mit einem
feinen stillen Auge betrachtet, aber in mein SkizzenbUch
blofi das Bildnis des Advokaten Rucaini eingetragen, der alles
war, was ein buffo caricato nur Sein sollte. In Venedig wird
die Kontur ja von der Far be aufgesogen; was hitte ich da
zeichrien mogen, wo es mir doch, vielleicht im Gegensatz zu
Ihren Berliner Kiinstlem und auch zu der markigen Roheit
ernes Rembrandt, gerade auf die Form und ihre Bestimmtheit
anzukommen scheint?“ „So stehen Ew. Exzellenz unseren'
Tendenzen feindlich gegeniiber ?“ „Hm . . . das wohl nicht.
Ein Arbeiten vor der Natur kann den jungen Leuten nur
fordersam und ersprieBlich sein, vorausgesetzt, daB ihr Blick.
stetS auf das Ganze gerichtet bleibe. Nur muB man allerdings
den Vor der Natur gewonnenen Eindruck zu Hause dann
hubsch zum Bilde abrunden und vollenden, wobei ich, als
Dilettante, dann freilich oft der Hilfe des treff lichen Hackert
und meines Freundes Tischbein mich bedienen mufite . 44
4 m
„Und just diese Blatter diinken uns fremdartig, so . . wie
soil ich’s nur sagen ... so gar nicht zUgehdrig: Ew, Exzellenz
haben, um dero eigene Wendung zu gebrauchen, die Natur doch
stets aus grofien Augen angeschaut, Kleines und Unbedeutendes
Ubersehend, den Blick immer auf das Wesentliche eingestellt.
Aber Tischbein und Hackert haben die Intentionen Ew. Exzellenz
nicht erfassen konnen, und eben durch dieses Abrunden und
Vollenden dero grandiose Impressionen zur freundlichen
Vedute verniedlicht . 44
s. ■ ■
„Still„ junger Mann , 44 — unterbrach mich Goethe streng —
„ Hackert besaB eine groBeMeisterschaft, die Natur abzuschreiben
und der Zeichnung gleich eine Gestalt zu geben, und von Tischbein
hatte ich zu lemen, nicht er von mir l 44 Da vermochte ich
nicht linger mich zu halten, mit j&hem Ruck aufspringend
rief ich laut: „Wolfgang Goethe, du Grdfiter, du Allumfasser!
du hottest den Stein der Weisen und wolltest von Weisen
lernen, denen der Stein mangelte, Warum ist dir in deinem »
ganzen Erdendasein kein wirklicher Maler begegnet? Was :
hftttest du fiir dich, was hfttten wir dadurch gewonnen ? !‘ ‘
Tiefes Schweigen ...
Endlich r&usperte sich Goethe sehr stark; „Hm . . . hm
haben Sie vielleicht sonst noch Gesch&fte hier oben ? 44 Ehe
sich Goethe sehr stark; „Hm .
* 4
Sine Audienz bei Goethe — Koniglich preussischer Urnsturz 341
1
ich eine Entschuldigung stammeln konnte, offnete der Diener
die SeitentQre und meldete Herrn Eckermann. Mit kurzem
Kopfnicken wollte Goethe scheiden. Auf der Schwelle jedoch
wandte er das leuchtende Haupt noch einmal zuriick: ,,Hm . . .
ja . . . was ich beinahe vergessen hfttte: Sagen Sie, bitte, den
Berliner Herren, dafi ich die mir zugedachte Auszeichnung als
ein Unterpfand freundlicher Gesinnung wohl zu sch&tzen wiiBte,
aber doch Bedenken triige, mich zu einem Ehrenmitgliede der
Berliner Secession emennen zu lassen . . . Leben Sie recht
wohl. 4 ' Damit entschwand die hohe Gestalt meinen bewundernden
Blicken, und die Audienz bei Goethe war zu Ende.
P
Koniglich preussischer Umsturz
Alle Strafen der irdischen und himmlischen Gewal ten werden
den Liberalen angedroht, die in den Stichwahlen fur einen
Sozialdemokraten ihre Stimme abgegeben haben. Konservativ-
klerikale Blotter beschuldigen diese armen Liberalen der F6r-
derung des Umsturzes, ein Vorwurf , den auch Herr v. Bethmann-
Hollweg, aber philosophisch vorsichtig, erhebt, indent er die
Bezichtigung ausspricht , die Liberalen hfttten eine neue
Situation geschaffen. Wie kann ein anstfindiger Mensch sich
auch verleiten lassen, an der Herbeifiihrung neuer Situationen
mitzuwirken ? Derartiges Tun steht nach preufiischer Auf-
fassung hochstens den dazu autorisierten Behdrden und Par-
teien zu, schon weil man ,,amtlicherseits“ es nicht dulden
kann, durch irgendwelche Verinderungen ilberrascht oder ge-
stort zu werden.
■v
, Unsere echt preuBischen Leute mit der patentierten staats-
erhaltenden Gesinnung, die liber den Umsturz fbrdemden
Liber alismus entriistet sind, iibersehen aber ganz, dafi die
Regierungen andauernd und planm&fiig die Grundlagen
der heutigen Wirtschaftsordnung nicht nur durch Worte
gef&hrden, sondern durch Taten untergraben. Am Tage
der Reichstagshauptwahl ist zwischen dem preuBischen Berg-
fiskus und dem Rheinisch -Westf&lischen Kohlensyndikat ein
Abkommen getroffen worden, von dem die Vertreter der
preuBischen Verwaltung behaupten, es sei darauf gerichtet, das
Xohlenkapital unter die Kontrolle des Staates zu bringen, den
Syndikatswillen zu brechen; die Lobredner der preuBischen
Regierung scheuen sich sogar nicht, den Kohlenvertrag gerade
34 *
Kdniglich preussischer Umstun*
*
wegen seiner sozi alistischen Tendenz zu feiem. Dem Synditad
wird der Verkauf der fiskalischen Ruhrkohlen tibertragen, ausr
geschlossen bleiben nur die Kohlenmengen fiir die Reichs-, und
Staatsbahnen, sowie die Kohlenquantitaten, die bereits vorher
an Dritte verkauft waxen. Damit ist das MonopoL des
Rheinisch-Westf&lischen Kohlensyndikats, das durch syndikat^*
freie Zechen in verschiedenen . Gebieten durchbrochen war*
wieder hergestellt r denn auch die Konkurrenz der bisherigsn
Aufienseiter wird nunmehr ausgeschaltet, sie folgen dem Bet-
spiel des Fiskus und treten in die Reihen des Syndikats. Was
dem Fiskus als Gegenleistung zugestanden wird, scheint blut?
wenig zu sein, er hat das Recht jederzeitigen Rucktritts vop$
Vertrage. Durch dieses Recht sail er die Mdglichkeit erhalten.
eine ihm nicht. genehme Preispolitik des Syndikats zu ver-
hindern, denn die Anktindigung eines Riicktritts miifite nacfi
der Auffassung der Verteidiger des Vertrages stets die Folge
haben, das Syndikat zur Anerkennung der fiskalischen Wiinsche
zu zwingen. Vorl&ufig werden die Dinge zwar anders ver-
laufen, bei den innigen Beziehungen zwischen dem Syndikat
und der fiskalischen Verwaltung yrird der Herr Fiskus sioh
immer von der Zweckm&Bigkeit aller sjmdikatlichen Mafinahmen
iiberzeugen lassen- Mit groBer Promptheit beschloB das Rhei-
•Westf&lische Kohlensyndikat wenige Tage nach der grofiefaji
Verbriiderung mit dem Staat Preiserhohungen bis um etw4
i Mark fiir die Tonne Kohlen. «...
Nich tsdestoweniger ist der neue Kohlenvertrag im Kern
sozialistisch, wenn er auch der Staatsgewalt eine Kontrolle
fiber die Ausbeutung der Kohlenschatze noch nicht verschaift.
Schon die VergrdBerung seines Bergwerkbesitzes hat . PreuBea
in den letzten Jahren mit der Notwendigkeit begrfindet, groBerea
Einflufi auf die Kohlenversorgung des Landes zu gewinnen, die
Regierung unternahm sogar im Jahre 1904 den miBgliicktex?
Versuch, die Bergwerks-Gesellschaft Hibernia zu dem gleichea
Zweck in ihren Besitz zu bringen. Durch diese Bestxebungen
erfuhr die Freundschaft zwischen der Regierung und dem.
Grubenkapital auf die Dauer keine EinbuBe, und es wire eine
arge Tauschung, wollte man etwa annehmen, daB der Fiskus im
Kohlensyndikat jetzt ein fiir die privaten Zechen peinliches
Aufsichtsrecht erlangen wollte. Was aber heute nicht ist, kann
morgen werden. Weit fiber die Absichten der Urheber des*
Kohlenvertrages hinaus gehen die Wirkungen dieser Verein-
barungen.
Das vielleicht als Unterstfitzung des syndizierten Gruben—
kapitals gegen alle AuBenseiter gedachte Abkommen ebnet dene
1
Kdniglich preussischer Umsturz
Wfeg fur eine sozialistische Entwicklung, fur eine Unterstellung
der Kohlenwerke unter die Aufsicht des Staates und schliefllich
fair die Verstaatlichung des privaten Kohlenbesitzes selbst.
' ' GroQe Erfolge waren den sozialistischeii Umtrieben durch
die Annahme des Kaligesetzes im Jahre 1910 beschieden.
Das sozialistische Prinzip feiert in diesem Gesetz einen fdrm-
Das sozialistische Prinzip feiert in diesem Gesetz einen form-
lichen Triumph, den nicht nur die Sozialdemokraten, sondern
auch die Nationalliberalen. Konservativen. das Zentrum und
auch die Nationalliberalen, Konservativen,
nicht zuletzt die Regierungen schaffen halfen. Zunachst bo>
absichtigte das Gesetz nur den Kommunismus des Mammons,
die Produktion der einzelnen Kaliwerke wurde kontingentiert,
die gesetzliche Festlegung von Hochstpreisen fiir das Inland
und von M aximalpreisen fiir das Ausland vorgesehen, um einen
preisunterbietenden Wettbewerb zu unterbinden. Doch die
Reichstagsmehrheit wurde nachdriicklich auch an die ArbeiteT
m. der Kaliindustrie er inner t, und sie gab den von der
Sozialdemokratie im Interesse der Arbeiterschaft erhobenen
Ebrderungen nach. So kam denn in das Gesetz die Be-
Stimmung hinein, da8 ein Kaliwerk fiir den Fall von Lohn-
kurzungen unter den im Durchschnitt der Kalender jahre 1907
>1 L
bis 1 909' gezahlten Lohn durch Kiirzung seines Produktions-
kontingents um mindestens 10% bestraft werden mufi. Die
gleiche Strafe tritt ein, wenn die Arbeitszeit im Jahresdurch-
schnitt ungtinstiger war als in den Jahren 2907/1909.
Auf diese Weise ist zum ersten Mai in Deutschland die
Festlegung eines Mindestlohnes und einer Maximal-
arbeitszeit herbeigefiihrt worden. Von nicht geringerer
grunds&tzlicher Bedeutung sind die Pfiichten, die dem Unter-
nehmertum bei Fusionen auferlegt werden. Kaliwerksbesitzer
dtirfen nach dem Gesetz den ihnen zustehenden Anteil am
Absatz ganz oder teilweise auf andere Kaliwerke iibertragen.
Warden nun infolge der Ubertragung von Beteiligungsziffern
Arbeiter oder Beamte beschaftigungslos, ohne eine
ihren Fahigkeiten entsprechende Arbeitsgelegenheit zu finden,
Oder erleiden sie eine Verminderung ihres Arbeitsverdienstes,
#0 hat der iibertragende Kaliwerksbesitzer ihnen den
entstehenden Einnahmeausfall bis zur Dauer von
*6Wochen zu ersetzen.
Was durch dieses Gesetz zur Anerkennung gelangte, gait
las dahin mit den Grundlagen der herrschenden Wirtschafts-
verfassung als unvereinbar, wenigstens nach den Versicherungen
der Reprdsentanten kapitalistischer Interessen. In Konsequenz
sdner Politik verlangte der Zentralverband Deutscher Industri-
elka- die Ablehnung des Kaligesetzes aus der Erw&gung, daB
i
344
Koniglich preussischer Umsturz
mit demselben Rechte morgen fur andere Arbeiterkategorieh
gefordert werden kann, was heute den Kaliarbeitern zugestanden
wurde. Unter ‘ dem Zwang der Verh<nisse setzten sich die
Regierungen und die Mehrheitsparteien liber diese Bedenken
hinweg, und die Offizidsen versicherten, daB durch das Kali-
gesetz kein Pr&zedenzfall geschaffen werde, da es sich um den
Schutz eines nattirlichen Monopols handle, wobei die Arbeiter-
schaft nicht ganz unbeteiligt bleiben durfe. Wie haltlos diese
Kalilogik der Offizidsen war, ist leicht zu erkennen. Gesteht
man bei staatlichem Schutz eines natiirlichen Monopols auch
der Arbeiterschaft gesetzlichen Anspruch auf einen Anteil an
den Vorteilen, die dem Kapital daraus erwachsen, zu, so ergibt
sich ein derartiges Recht der Arbeiterschaft in einem viel
groBeren MaBe bei der Bildung klinstlicher Monopole. Direkt
und indirekt haben kleine Kapitalsgruppen ganze Wirtschafts-
gebiete monopolisiert, abgesehen day on, dafi durch Gesetze
private Monopole geschaffen wurden, wie durch die Spiritus-
politik, das Zlindbolzsteuergesetz, das die liber den bisherigen
Produktionsumfang hinausgehende Erzeugung so wie die Pro-
duktion neuentstehender Fabriken mit einem um 20% hdheren
Steuersatz belegt, ferner durch das neue Brausteuergesetz der
Reichsfinanzreform, nach dem neuentstehende Brauereien bis
zum Jahre 19x8 eine wesentlich hohere Brausteuer als schon
existierende Betriebe zu zahlen haben.
Von der Sozialdemokratie selbst ist die Annahme des Kali-
gesetzes mit groBer Genugtuung als ein Sieg des sozial-
demokratischen Prinzips bezeichnet worden, und am Ende
wird man die Sozialdemokraten hierflir als die zust&ndigen
Gutachter ansehen mussen. Unter Flihrung der koniglich
preuBische Regierung ist im Reiche dieser bedeutsame Sieg
des sozialistischen Prinzips durchgesetzt worden, eines Prinzips,
das, wie man in diesen Tagen besonders oft horen und lesen
konnte, nicht nur die Vernichtung der bestehenden Ge-
sellschaftsordnung, sondern den Zusammenbruch aller Kultur
bedeuten soli. Krites.
'1
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*
Der Lokomotivftihrer
PER LOKOMOTIVFUHRER.
Naumann ist unterlegen — Posad owsky ist gew&hlt. Eine skufrile
Laune der zeitgenSssischen WShlerpsyche, worin ein hfibsches Endchen
■ Symbolik steckt. Der nfichterne Politiker mit dem weitschauenden Blicfcl
Der Praktiker, der fiber den Theoretiker, der Kenner der Staatsgeschftfte,
‘der fiber den unverantwortlichen Ideologen den Sleg davontrfigt ! Und
so wetter.
_■
. . Das gesamte Bfirgertum hat ihn gegen den Sozi&ldemokraten Severing
Kleinkram. Derarti ges sch&tzt das Philisterium. Man weiB doch in diesem
Fall wenigstens, was man hat — wenn sich auch vemfinftigerweise nicht
erwarten l&Bt,dafi der eine wildeGraf etwa dasReichswohnungsgesetz Oder
die Erbbaubanken durchbringen wird. Er ist so isoliert, HaB er beim bestens
Willen nicht viel Boses anstellen kann I Aber immerhin : Diese schdnen
Dinge stehen auf seinem Programm! Und das ist ja {fir den Durchschnttts-
wilder in der Regel das Wichtigste.
' * ■ - *
Eipen homme de chiffres hat einmal der gerissene Graf Witte den
<ein$tigen Staatssekretar genannt. T r otzdem ~ oder vieileicht gerade deshalb!
— gait er in der Blfite seiner Amtsw irksamkeit bei uns zu Lande alsder
Lokomotivftihrer der deutschen Sozialpolitik. Und mitunter, wenn eine
etwas schirfere Kurve der Gesetzgebung zu nehmen war, pustete das sonst
so geffigige DampfroB gar gewaltiglich, so daB Herr v. Heydebrand ihn
wiederholt vermahnen muBte, nicht so stark zu heizen. Mit tl Materialis-
mus", rief Posadowsky in seiner Etatsrede vom 12. Dez ember 1905 aus,
„ringt die bfirgerliche Gesellschaft die matedalistische Sozialdemokratie
nicht nieder ! Nur eine sittlicheWiedergeburt,wie sie Deutschland zuBeginn
des 16. und 19. Jahrhunderts erlebt hat, kann der bfirgerlichen Gesellschaft
wieder den EinfluB und die Schwerkraft geben, die sie in jedem Staate,
bei jedem Wahlrecht und jeder Verfassung besitzen muB und in jedem
zivilisierten Staat in der Tat besitzt." Derlei schlecht verhfillte Apellationen
an den Geldbeutel der in Deutschland herrschenden Cliquen kosteten ihn
denn auch am Ende sein Amt, obgleich er wieder bei andem Anlissen,
etwa in der Diskussion fiber die Einffihrung von Arbeiterkammern oder
gelegentlich der Beratung des Gesetzentwurfs fiber die Rechtsf&higkeit
der Berufsvereine, seine Geschicklichkeit im Bremsen unwiderleglich nach-
gewiesen hatte.
Diese Geschicklichkeit beruhte im Grande auf einer sehr glficklichen
Veranlagung seines sozialpolitischen Naturells, die ihm gestattete, sich
vorkommendenfalls von der anscheinend in voller Fahrt dahinsausenden
Lokomotive in das Schneckengeh&use des amtlichen Fachbetriebs zurfick-
zuziehen. Da bekamen denn die Dinge freUieh ein ganz anderes Aus-
sehen. Der Abgeordnete Naumann hatte im April 1907 in seiner denk-
wfirdigen Rede fiber den Tarifvertrag die Aufmerksamkeit der Gesetz*
gebung auf das Kern- und Grundproblem der sozialen Frage hingelenkt:
auf die Frage der Arbeitsverfassung. Aus Industrieuntertanen sollen
Industri ebfir ger werden. Aus Arbeitsautomaten, denen ihre soziale Ver*
einzelung, ihre bedingungslose Abhingigkeit vom Unternehmerkapital
nur ein in Silberlingen zu bezifferndes MaB von personlichem Interesse
346 Der Lokomotivfiihrdir
herausgehauen. Seine Stkrke; Die Besch&ftigung mit sozialpolitischero
an ihrem Arbeitsprodukt gestattet, soil das Gesetz bewuBt Mitwirkende
an dem groBen ProduktionsprozeB des nationalen Wirtschaftslebens her-
anziehen, Werkgenossen, denen ihre aul unbedingter Koalitionsfreiheit
beruhende Solidarit&t jenen EinfluB auf den Gang der Produktion einraurat,
der allein den Obergriffen der Unternehmertrusts die Spitze zu bieten Tec-
mag. Und was hatte der Praktiker Posadowsky auf diese Rede, deren
groBtes Verdienst eben das. der theoretischen Klarstellung war, zu er-
widern? — „Es war ein philosophisches Programm, aber wenn man
lange in der Praxis des Lebens steht, so sehen die Dinge n&chtemer aos
(Zustimmung rechts), und wenn wir die Bestrebungen auf dem Gebiet der
Sozialpolitik, die mit Recht von den arbeitenden Klassen geltend gemacbt
werden, fordern wollen, so mBssen wir aueh die Dinge mehr im einzelnen
und nOchtemer betrachten.“ ’
Heute aber zieht Graf Posadowsky-Wehner selbst mit allerlei allge-
meinen Programmpunkten beladen in den Reichstag ein, als ,,Ideologe“,
als „unverantwortlicher Politiker“. Er wiinscht beispielsweise ein Reichs-
wohnungsgesetz, das strengere gesundheitspolizeiliche Kontrolle und die
Reservierung bestimmter GelMnde fflr Kleinwohnungsbau unweit vom
Stadtzentrum vorsehen soli. Recht schon: ungefdhr sagt das Naumann
audit Aber eS 1st tausend gegen eins zu wetten, daB die „in der Praxis
der Lebens stehenden* ' ' Bodenmonopolisten und ihre Geldhintermdnner
diese Forderung „unverantwortlicher Ideologen**, als zu wenig nQchtem
und ins Einzelne gehend, bis aufs Messer bekdmpfen werden — mit den-
selben Grunden also, die einst der Staatsmann Posadowsky vertrat. Und
nach den zweifelhaften Erfahrungen, die man mit der Wertzuwachssteuer
machte ■ — deren Kosten am Ende doch die Konsumenten zu tragen haben
— ist es sehr fraglich, wer in diesem Kampfe obsiegen wird.
,3s war ein philosophisches Programm
JKcht anders steht es mit den sonstigen Forderungen des grdf lichen
VoUcsboten von Bielefeld- Wiedenbrfick. Wenn er auf unsere aus ganz
anders gearteter Trad tion erwachsenen Parteiverh<nisse die politischen
Gesetze der englischen Parlaimentskonstellation angewendet wissen will,
wenn er an die Moglichkeit glaubt, das bunte Mosaik unseres Parteien-
wesens auf die einfache Formel „hie liberal — hie konservativ 1“ zurflde-
ffkhren zu konnen, wenn er vollends immer im Geleise des irreffihrenden
fremdl&ndischen Vorbilds, die Viermillionenpartei der Sozialdemdcrafie
als cine vdllig fiberfl&ssige Zeiterscheinung registriert: heiBt das vielleicht
die. Dinge nfichtem und analjrtisch betrachten ?
,,Es war ein philosophisches Programm 1“
Auf alle F&lle kann es nur ntitzen, wenn auch der Praktiker par
excellence einmal in die Lage versetzt wird, sich ausschlieBlich auf die
Durchschlagskraft seiner Ideen verlassen zu mflssen. Ideologische Utopien
unverantwortlicher Politiker werden dann oft im Handumdrehen zu sitt-
lichen Notwendigkeiten, handfeste Tatsachen und Sachlichkeiten ver-
flBchtigen sich zur Phrase. Es kommt lediglich auf den Standpuiikt an.
Mag der Privatmann Posadowsky immerhin sein sozialpolitisches Sprbchlein
hersagen, unbeschwert von ministerieller Verantwortlichkeit und Staats-
raison; der Rechten wird er stets zu radikal, der Linfcen in ihr.er groBen
Das heimliche Theater und Wedekind
Mehrheit zu konservativ sein, und nur das Zentram, dem er in Kbln so
*Oifrige Wahlhilfe geleistet hat, wird ihm zujubeln. FOr ihn wie fOr uns
stehtalso emsthaft zu befOrchten, daB seine T&tigkeit als Volksbote nicht
rid mehr zu bedeuten haben wird, als eine F eierabendbesch&f tigung far
pensionierte Lokomotivfuhrer ..... Dr. MAX ADLER. ''
DAS HEIMLICHE THEATER UND.WEDEKIND
' *
•f 1 - „
; Heinrich Lautensack empfiehlt in der ,,Aktion“ die GrUndung des
„heimlichen theaters", um die Xensur zu umgehen. Ein M&zen wird die
Kosten tragen. „Die und did Leute werden eingeladen" ; richtig einge-
laden, nicht nur aufgefordert. Niemand braucht etwas zu bezahlen. Der
Zensor hat nichts dreinzusprechen. Als erstes Stack soil Wedekinds
„Totentanz“ aufgefOhrt werden. ; — Gegen den Gedanken w&re nichts ein-
zuwenden. tfbrigens hat es der „Pan" im vergangenen Jahre &hnlich ge-
macht, als er die „Bachse der Pandora" auff&hren liefi.
Das Resultat? Das Publikum stellte sich auf die Seite des Dichters.
■ ^ ' ' 1 - * *
Heft sich von der Kraft des dramatischsten Dramas unserer Zeit ergreifen.
After die Presse, die zhnftigen Kritiker I Die meisten traten beistimmend
zur Seite des Zensors. Welcher Nutzen fOr Wedekind war erreicht ? Fast
*
nictyts ! Wedekind war besiegt, . der Zensor war in der Gloriole. Wenigen
iSenschen wird der Abend unvergeBlich bleiben. Die groBe Masse erfuhr
von den Kritikem — die ihr Reporteramt nicht erfiillten und statt von
dem Erfolg des Dichters beiro Publikum zu berichten, von ihrem Durchfall
beim Dichter erzShlten — der Zensor habe Recht, das Stack sei schlecht
und widerlich. Die Idee des. heimlichen Theaters lot gut, aber nicht fOr
Wedekind. Far ihn: das offentliche Theater.
Wedekind ist ein Dichter und ein Prophet. Er erstickt, wenn man
ihm das Maul verhindet. Er will reden, wirken, ttberzeugen, Proselyten
machen. Ein Moralist, dem es unertr&gfich, unmoglich ist, seine Moral
nicht predigen zu dCrfen. Wedekind will lieber in der Waste predigen,
Fische zu GlSubigen machen, als schweigen. Er braucht die Offentlichkeit,
er mufi sie haben oder er vergeht und verdirbt. Sein Genie totet ihn und
sich. Die Wirkung, die ein Dichter austtbt, hat einen bedeutenden EinfluB
auf . ihn ; im heimlichen Theater wird Wedekind die Wirkung nicht fOhlen.
oder die Kritiker werden. sie ihm wegdisputieren. Wollen wir uns einen
GenuS bereiten, so lafit uns das heimliche Theater grOnden, wir werden
den„Totentanz"sehen; und uns ist ein groBer Eindruck sicher, aber Wede-
kind wird nichts davon haben, um ihn wirds so still sein wie frOher, und
die Bangigkeit, die jetzt aus seinem Dichten und aus seinem Tun spricht,
wird so bedngstigend sein wie sie war.
Man sollte einen Aufruf erlassen. MSnner von Namen sollten sich
zusammentun, dem Zensor schreiben: „Erlauben Sie eine dffentliche Auf-
fOhrung. Wir stellen uns als Bttrgen, daB Niemandem ein Schade ge-
schieht. Wir werden den Theater besuchem durch ein of fentliches
Schreiben mitteilen, daB StUcke gespi elt werden, die nicht fOr unreife
Menschen sind." Alle Sthcke Wedekinds, die noch nicht in einer 8ffent-
.348 Sozialdemokratie, Agadier und Aualand
lichen AuffQhrung gesehen worden sind, sollen tragiert werden. Bine
Wedekind-Woche. Der Zensor wird gebeten, den AuffQhrungen bdni-
wohnen, das Publikum zu beobachten. Lehnt das Publiktim die StQcfce
ab, gut, dann mag der Zensor — wie unnQtz es auch ist — seines Amtes
walten. Entscheidet das Publikum in der ersten Vorstellung fQr den
Dichter, dann wird der Zensor nicht den Mut haben, erwachsene Menschen
zu bevormunden.
Die Entschuldigung fQr die Prfiventiv - Zensur war stets die: naan
kann nicht die Premidre zulassen, die Wirkung nicht abw ar ten, weil
schon in der Premiere der Schaden angerichtet sein kann.
Der groBe Zensurbeirat, den wir ad hoc grBnden wollen, nimmt dem
Zensor die Verantwortung ab. Theater, Schauspieler und Publikum zu
finden ist Kinderspiel.
Die Arbeit allein : so henrorragende Mfinner zu suchen, die
daB es heut keine wichtigere Aufgabe im Bereiche der dramatischen und
theatralischen Kunst gibt, als Wedekinds Rettung vor dem Zensor.
C.
SOZIALDEMOKRATIE, AGADIR UND AUSLAND
Reaktionfire Blitter (Kreuzzeitung, Lokalanzeiger und Zukunft, auch
noch viele andere) fOrchten eine bedenklicheWirkung des sozialdemokra-
tischen Sieges auf die ausw&rtige Politik. Die Franzosen sollen nimlich
glauben, Deutschland sei jetzt schwach, die roten BrQder wOrden Deutsch-
land daran hindern, zu siegen.
Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein.
Die Franzosen glauben das gar nicht ; unnQtz, sie zu warnen, sie find
nicht so dumm, sie wissen es gut, daB ein freies oder ein um seine Freiheit
ringendes Volk sich am allerwenigsten stSren 15Bt.
Angeblich wird der Krieg dann erkl&rt, wenn der leitende Mum des
angreifenden Staates sagt : Wir sind gerQstet, alles in Ordnung und unsere
BedQrfnisse, unsere Entwickelung verlangen den Krieg. Basta, jetzt gehts
los. Ist das wahr ? Man droht mit dem Krieg. Man meint, morgen ist er
da ; statt dessen jahr el anger Frieden. Man holt die Drohung wieder hervor,
man steckt sie wieder ein. Frieden. Plotzlich ist der Krieg da. Nicht weil
dasWohl des Staates jetzt gerade den Krieg verlangt, sondem weil die
Menschen ihn jetzt wollen. Es ist mit dem Krieg wie mit alien D ingen in
der Welt ; man kann sie rechnerisch vorbereiten, man kann sie aber nicht
errechnen. Angebot und Nachfrage sind Funktionen, ohne die LQsternheit
der Menschen sind sie nichts. Der Mensch ist Qberall das Subjekt ; das
Mechanische das Objekt.
WQrden die BedQrfnisse allein entscheidend sein, dann wQrde jedes
Samenkom eine Ahre, jeder Baum trQge FrQchte, jeder Knabe wQrde ein
groBer Mann, und kein Sterblicher verdQrbe sich je den Magen.
Wir haben Frankreich zwei Provinzen genommen. Gut, es will sie
zurQck haben, Frankreich ist unser Feind. Unser Handel macht den
Engl&ndem Kopfweh; sie haben ein Inter esse, uns zu sch&digen. Was
aber haben wir den Italienem getan? Und den andera VBlkern, die uns
nicht leiden mdgen ?
Retie
349
Waram lieben uns die Holllnder nicht, die all dem Auf schwung unseres
Handels mitverdienen ?
Ich fragte eines Tages ’einen gescheiten Hollfinder: Ja, sagte er, Sie
haben Recht, Hollands Interessen verlangen den AnschluB an Deutschland.
Ich weiB es. Wir haben auch nicht vergessen, was England uns und
unseren Kolonien getan hat. GewiB, gewiB. Waren Sie aber einmal in
einem kleinen St&dtchen an der Unterelbe, in Stade?
„Ja, antwortete ich, ich habe da einmal auf einer Tour zu Mittag
gegessen, ubrigens vorzfiglich. Eine entzhckende Stadt.“
Ja, haben Sie .aber gesehen, wie zwischen den kleinen niedrigen
reizenden Hdusern ein wider licher riesiger mattroter Block hervorprotzt,
das Postgebdude ? Sehen Sie — und der Mensch' vergaB seine gute Er-
ziehung und schrie — sehen Sie, ehe ein PreuBischer Postminister in
unsere Stadte solche ScheuBIichkeiten setzen darf, wollen wir lieber unser
Land arm und elend sehen; wir wollen lieber nach unser er Fagon arm,
als auf preuBisches Kommando reich sein.
„Die Leute in Stade finden die roten Postpal&ste auch nicht schdn. M
„Warum lassen sie es sich dann gef alien ?“
„Tja!“
„ Sehen Sie**, sagte er noch und sah mich ver&chtlich an.
Agadirl Die Franzosen schfitzen das deutsche Volk gering, weil es
sich von derKlasse, die die Agadirdiplomaten produziert, beherrschen ISfit.
22. Januar: Die Franzosen bekommen wiederRespekt vor Deutschland,
weil es sich nicht von dieser Klasse beherrschen lftfit.
Unsere Diplomaten werden jetzt leichtere Arbeit haben. Den Dank
schulden sie den Siegern vom 22. Januar. W.
REUE
Ich glaubte, einige unhofliche Worte gegen Siegfried Jacobsohn sagen
zu miissen. Fhr ihn antwortet Herr Steinthal in der „Deutschen Montags-
zeitung“. Das nenne ich noch eine Antwort ; das kann nur einer, der
seine Lehrzeit bei der „GroBen Glocke u mit Erfolg absolviert hat. Er er-
z&hlt, dafi ich die groBten Gemeinheiten in der Jagow-Aff&re begangen
habe (u. a* teilt er auch mit f daB ich von einer Schuhfabrik bestochen
worden bin). Er hat die empfindlichsten und schwersten Beleidigungen,
die es hberhaupt gibt, gegen mich ausgesprochen. Es ist mir dabei merk-
wurdig ergangen. Ich habe nicht einen Augenblick den Wunsch gehabt,
gegen ihn Stellung zu nehmen. Man whrde, wenn der Urheber ein halb-
wegs anstandiger Mensch ist, das unbezfthmbare Bedurfnis fiihlen, gegen
ihn vorzugehen, ihn zu verklagen oder ihn zu schlagen. Ich habe dieses
Bedfirfnis Herrn Steinthal gegenfiber in keinem Augenblick gehabt. Dieses
vollst&ndige Ausbleiben jedes Zorngefhhls, hberhaupt jeder Erregung kann
ich mir nicht anders erklftren als damit f daB in mir der Instinkt zu stark
entwickelt ist, man konne sich mit Menschen, die unter einem gewissen
Niveau sind, nicht abgeben. Jacobsohn war gerade noch auf der Grenze.
Ich glaubte es wenigstens. Ich habe Reue. Ich wuBte, daB er vor Jahren
etwas getan hat, was nicht hhbsch war, und ich wufite auch sonst alter-
hand Vorteilhaftes von ihm. Aber, was ich nicht wuBte : daB Herr Stein-
35®
Die Unterirdischen
thal von der „Groflen Glocke“ sein Freund ist. Sage mir, mit wem Du
umgehst, und ich werde Dir sagen, wer Du bist. Ich bereue meine Worts
gegen Herrn Jacobsohn. Schimpfen Sie ruhig, verleumden Sie! Ich tue
Ihnen nichts.
C.
DIE UNTERIRDISCHEN
Redakteur der „Deutschen Montagszeitung" in Berlin ist ein frflherer
Redakteur der ,,GroBen Glocke“, namens Walter Steinthal.
Er schreibt einiges nicht ganz Wahre (das Gesetz nennt es ver-
leumderisch) fiber die Art meiner Trennung von Paul Cassirer, fiber meine
zutreffenden und beweisbaren AuBerungen gegen nicht waschechte Zeit-
genossen, fiber meinen Standpunkt in der J agowsache.
Ich hatte von Herrn Steinthal drucken lassen: ,,Der Herr . , . ist ein
wegen seines Wirkens an der GroBen Glocke vorbestrafter junger Mann."
Er war damals eben hierffir bestraft worden.
Herr Steinthal hat nachher versucht, seine Tatigkeit an der ,,GroBen
•Glocke -1 durch Unwahrheiten wegzuleugnen. Er ist hierbei abgefaBt Und
gezfichtigt worden. Dies der Tatbestand.
Alfred kerr.
V
Wir bitten, Mitteilungen und Beitrkge nur:
An die Redaktion, Berlin W. 10, Victoriastrasse 5, zu adressieren.
Bei umfangreicheren Zusendungen ist vorherige Anfrage notwendig.
Sprechstunde: An Werktagen, mit Ausnahme des Montags, 1 — 3 Uhr,
Berlin W., Victoriastrasse 5.
Verantwortlich fttr die Redaktion : Albert Damm, Berlin-Wilmersdorf.
Gedruckt bei Imberg ft Lefson G. m. b H. in Berlin SW 68.
Die Windmtihleft
Die Windmiihlen
b
l * t f f + + t
Eln Akt von AUGUST STRINDBERG
Aus der schwedischen Handschrift iibersetzt von Emil Schering
BcwSIkter Himmel im Hintergrunde. Auf jeder Seite eine Windmflhle,
genannt Adam und Era; einWirtshaus rechts. An einem Tisch sitxen der
jWanderer und der J&ger; sie haben GUaer tot aich.
DER WANDERER
Es 1st ruhig hier unten im Tal.
DER JAGER
Etwas zu ruhig, findet der Muller,
DER WANDERER
der schl&ft, wieviel Wasser auch wegfliessen mag;
DER JAGER
weil er Wind und Wetter nachl&uft. . .
DER WANDERER
welche nutzlose Miihe bei mir einen gewissen Widerwillen gegen
Windmiihlen geweckt hat;
DER JAGER
game wie bei dem edlen Ritter Don Quichote de La Mancha,
DER WANDERER
der doch nicht den Mantel nach dem Winde hing,
DER JAGER
sondern eher das Gegenteil;
DER WANDERER
weshalb er auch in Schwierigkeiten geriet Wollen wir den
Fuchs aushungem?
DER JAGER
Herr Incognito, warum trinken Sie so viel ?
DER WANDERER
Weil ich {mmw auf dem Operationstisch liege, datum chloro-
formiere ich mich!
t 1*
Die; lyindipfihlen
.#■ ■ ■■ ^ ^
DER JAGER
Dann wollen wir nicht mehr fragen!
DER WANDERER
. i - ,
Ich habe vielleicht schon zu viel gesagtl
\ : ■ nt?n. t X r^T* TD‘ ' '
Dassich nicht erraten kann, was Sie sind!
DER WANDERER
\ ^ . 1 - - . ' :
Lassen. Sie das Raten; es ist so viel netter!
DER JAGER
Eigentlich ja! — Es ist heute so bewdlkt.
DER WANDERER
Lassen Sie mich etwas hinuntergiessen, dann werden Sie sefaen,
dass es sich aufkl&rt! (Trinkt.) Konnen Sie griechisch ? Wissen
Sie, was oinos bedeutet?
Eigentlich ja!
DER JAGER
Oinos bedeutet Wein,
DER WANDERER
Ja, das ist Wein! Sie haben also studiert?
*
DER JAGER
v
Noli me tangere! . Riihren Sie mich nicht an! Ich stechel.
t *
DER WANDERER
"1
Haben Sie bemerkt, dass die Beere der Traube einer Flasche
gleicht, und die Ranke einem Korkenzieher ? Das ist eine
, > ■ \ i 4J *
Signatura,
DER JAGER
- i
Beerensaft hat keine von den Eigenschaften
forms
WANDERER
I ■ s
zerstampft
* .M
DER JAGER
so dass der Geist des Weins von der schmutzigen Hiille der
Materie befreit wird,
DER WANDERER
und an die Oberflftche steigt wie ein Meeresschaum ,
r J I
DER JAGER
* « * * « r- ' - w ■ i - *
aus dem Aphrodite geboren wurde,
Die Windmiihlen
DER WANDERER
t .
unbekleidet.
DER j A cer
Nicht einmal ein Weinblatt hatte sie, um sich zu bedecken,
DER WANDERER
I* - ■ X ■ ’ T
denn die Kleider sind nur eine Folge des Siindenfalls.
Sie immer so emst?
DER JAGER
Sind Sie immer so scherzhaft ?
DER WANDERER
a
Wer von uns beiden ist am neugierigsten ?
DER JAGER
Jetzt streckt er die Fangarme aus . . .
Sind
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DER WANDERER
j
h
dem allgemeinen Gesetz der Anziehung unteirworfen,
DER JAGER
das von gegenseitigem Abstossen begleitet wird,
DER WANDERER
weshalb es am besten ist, zwei Schritte Zwischenraum zu lassen
und in offener Kolonne zu marschieren . . .
DER JAGER
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nach dem ttbereinkommen, Tag und Datum wie obenl
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Punktl Hier kommen die Schauspieler!
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DER WANDERER
f - ■ ■ -
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Dari ich Ihr Glas tnir leihn, ich seh’ nicht gut. —
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Was, hat das Glas? Sieht aus wie Reiffrost,
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kristallisiertes Wasser oder Salz;
verwischte Tr&ne, in der Quelle heiss,
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erkaltet bald und ward zu Steinsalz;
der Stahl des Bogens ist v$rrostet!
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Er weinet oft, doch im Geheimen,
* i * ■ . - . * * r -
■■ ' ■ ■ j
und Tr&nenb&che gruben ihren Hohlweg
vom Aug’ zum Munde nieder, zu erloschen
das L&cheln, das zum Lachen sich entzundet.
Du armer Mensch, dul
25 *
Die Windmiihlea
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Die Halbmask* ist verbraucht,
und werui du Seigst die Zihne,
man w
nicht, ob
* » t
beginnt das
Beissen oder L&cheln!
*
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ill Ein Idyll mit Windmiihlen
*
DER WANDERER
ein Pastoral in Moll-Dur; passen Sie aufl
flUlftl T UP A
Nun. Nachbar, jetzt ist
Spiel gleich, da tiberhaupt keia
Wind weht; sonst aber denke ich daran, deine MQhle ▼eraetzen
t a- ™
zu lassen, weil du mir Schaden in meinem Gewerbe suffigst
MULLER R.
Du meinst, ich nehme dir den Ostwind fort: da du mir aber deh
I ■ r
West fortnimmst, so gleicht es sich aus.
MULLER A.
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Aber xneine Miihle stand zuerst auf dem Platze, und deine wurde
■ • I .
aus Bosheit gebaut. Da es schlecht fur uns beide geht, wire es
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dock besser, es ginge gut fur etnen
MULLER E.
Du meinst, , flir ^ ?
T 1 -I
MULLER a.
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Du meinst, fur dich ?
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* 4 T
MULLER E.
* : V
Ja, nattirlich!
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MULLER A.
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Aber ich meinte einen von uns, den Wfirdigsten, auf desseh Seite
das Recht ist.
MULLER E.
Wer sollte das sein?
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i : . -
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MULLER A;
Kommt es
zu, diese Sachezu entscheiden ?
MULLER E.
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* : f i * J
* 1 /* i*
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Ich habe bessere Mehlbeutel Wie du, und meine Eva mahlt
schneller, dreht leichter, trftgt neue Zapfen. >
Die =' Windmuhlen
355
' +
MULLER A*
Aber mein Adam ist vor deiner gebaut, mein MOhlenrumpf ist
aus Buchsbaum . . ,
MULLER E.
Haiti Wir wollen die Herren fragen, die dort sitzenl
DER WANDERER
Sehen Siet Jetzt werden wir hineingezogen!
DER JAGER
Sie wollen im» als Zeugen stehlen, und vielleicht zu Richtern,
um nachher fiber unser Gericht zu richtent
*
MULLERFRAU A. (erscheint)
Komn Mittag essen, Mann!
MULLER A.
MULLER A.
1st es Kohl? Das ist etwas anderes! Dann komme ich sofort
*
Aber dann geht ja die Welt unter, und^ein Wort gilt nicht mehr!
Sagte ich das? Dann nehme ich zurfick!
(Sie gehen ab.)
DER WANDERER
Er verkaufte sein Erstgeburtsrecht . . .
DER JAGER
ftir eis Gcricht Kohl,
Die Wihdtto&hleh
D
und so viel< Wert war es.
WANDERER
■ • t / • . *. ■
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DER JAGER
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Jetzt aber kriegen wir deri Eva-Muller aui den Hals: sehen
wie er zauderf
etwas Von ims haben, eine Auskunft
um sein Wissen zu bereichern ; jetzt kommt er direkt auf uns
zu . . . er visitiert uns mit den Augen* untersueht Kleider, Schuhe,
Haar und Bart : das ist ein Dieb 1
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mUller e.
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Entschuldigen Sie !
DER WANDERER
Er will uns zum Sprechen verlockfen. I —
M0LLER E»
Wo kommen die Herren her?
ripn 11/ A uncbtiD
Antworten Sie nicht t
. . f
Das geht dich nichts an !
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MULLER E.
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Streng genommdri ftfcht !
DER WANDERER
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Nun nehmen wir es sehr streng : geh also deiner Wegd 1
MULLER E.
Ich denke nichts zu hehnien ...
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DER WANDERER
Das wire auch nicht so leicht ...
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MULLER' E.
Icli dachte dagegen etwas zu geben . . .
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DER WANDERER
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* 1 *
t . *
Wir braucheri nichts !
t i
MULLER e.
Wiiklich nicht ? — Ja, ich dachte den' Herren etwas zu geben,
und nehme nichts dafiir. — Eine Auskunft! Eine wertvolle
Auskunft! (Pause.) Eswird namlich hier in den Felsen ge-
sprengt, gerade hinter Ihneri - — (Pause) und eins;2Wei, v dr6i
sprengt, gerade hinter Ihneri — (Pause) und eins; iWei, 'drei
kdnnen wir einen Steinregen aufiinsere Kdpfe haben. (Der
Jiger und der Wanderer erheben sich.) ' if, • >
Die Windmiihlen
MOLLER E.
Jetzt hole ich den Nachbar und seine KneChte : dann warden
wir
d das Alibi konstatieren . . .
DER WANDERER
s ¥
Das ist eine seltsame Art ...
MttLLER E.
Ja, ich bin Polizeimann, und der Nachbar ist Schdffe
(Geht.)
DER WANDERER
Und jetzt werden sie Freunde, Herodes ««d Pilatus !
DER JAGER
Ich war eigentlicb ausgegangen, urn mich selbst zu behalten;
a*-
aber wer behalten will, der wird verlieren. Werfen wir tins
also wieder ins Gewimmel . . ,
DER WANDERER
mit der Gefahr, zu sinken,
DER JAGER
ohne auf den Grand zu gehen,
dank
tragen !
DER WANDERER
gewissen Rettimgsgurtel , den rerst&ndige Leute
Das ist ein Weib,
DER JAGER
das man in der N&he von Adam und Era erwarten konhte,
DER WANDERER
■ 1 ; , ■* | ' ■ : ■ J -
ohne darum din Paradies zu erwarten.
DER JAGER
Punkt ! Jetzt beginnt es!
H *
n
(Das M&dchen kommt.)
DER WANDERER
. * ■ ■
Ich glaube, die Offensive ist rorteilhafter . . . Wie heisst
* i ■ ■ ' ' I ’ • ± ■ i ‘ h ’ , ’ * i 1 : ' ’ . ’’ ■ * - J ‘
mein schdhes Kind?
Wie heisst du.
Raten Sie I
DAS MADCHEN
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h 1 1 H .. ,
■> h / -i
DER WANDERER
t < ’ * i
+ * *
Warte I
Blond, MQllertochter, kleinvon Statur, rundes Ge>
sicht : du heisst Amalia !
t < *
Die Windmuhten
DAS MADCHEN
Wie wissen Sie das?
DER WANDERER
Ich idle es dir an !
DAS MADCHEN
Wenn ich dunkel, gross und oval gewesen wire, wie hitte ich
denn als Tochter des Schmiedes geheissen ?
DER WANDERER
Jenny, natfirlich !
DAS MADCHEN
I
Das ist rich tig !
DER WANDERER
Jetzt hast du etwas von mir gelernt : was kriege ich daffir ?
DAS MADCHEN
Sie werden es schon . . . Sagen Sie mir erst, woher Sie diese
Weisheit haben, Menschen ablesen zu kdnnen.
DER WANDERER
Das Leben, Erfahrung, gewisse Bticher, ein angeborener tiber-
legener Verstand und eine gute Portion erworbener Scharfsinn
. . Sag mir: warum willst du den Burschen des Nachbar-
miillers nicht haben?
DAS MADCHEN
Das wissen $ie auch!
DER WANDERER
Aber du musst ihn nehmen, dann wird die Miihlenfrage ohne
■
Prozess geldst : ihr verkauft die eine Miihle und lasst sie ins
n&chste Kirchspiel versetzen, wo sie ndtig ist.
nae MXnrtiPN
Wie klug, wie klug Sie and . . .
DER WANDERER
■ . a ■ . *
! • h , • h ■■ ■ ’
Aber ich sehe dir an, dass du den Mfillerburschen nicht haben
willst; ich ahne, du willst lieber einen von den R&ubern des
Waldes haben, was? Den mit den schwarzen Augen und dem
grossen Schnurrbart ...
DAS MADCHEN
Jetzt wird mir bange ... Sie sind ein Wahrsager?
Die Windnrfihlc&t
DER WANDERER
Wie du horst ; aber ich kann nur jungeri Leuten wahcsagen.
DAS MADCHEN
Wie kommt das?
i *
■ i-
DER WANDERER
Weil alte Leute so hstig siiid.
DAS MADCHEN
1
Mi *
Vi)
(zum J&ger) 1st das wahr ?
‘ ' 1
DER WANDERER
.. i » ' t
▼i - 9 * -
Sprich nicht zu ihm, er will nicht hineingezogen werden l
Sprich zu mir 1 Gib mir etwas fiir alles, was du in dfcSer iktirfcen
h
Stunde gelernt hast, sonst bleibst du mir etwas schuldig, und das
willst du dock
* .
p -
DAS MADCHEN
Ja, Sie sollen etwas haben, und zwar so viel, dass Sie belohnt
▼on hier fortgehen, reicher, als Sie herkamen, mit Lehreii be-
laden, fiir die ich nichts riehme < . *
1
t f *
DER WANDERER
Da bin ich aber neugierig 1
DAS MADCHEN
' 4 1 1 f *
/ r ■■ * ‘ r-
Erstens heisse ich nicht Amalie ...
DER WANDERER
h *
sondem Jenny, was sagte ich?
DAS MADCHEN
“ * y r h ^
Nein, auch nicht ! Zweitens : gibt es keinen Mtillerburschen.
Drittens besitzt das n&chste Kirchspiel vier Mtihien : die Mfihlen-
frage bleibt also ungelost: Als Zugabe sollen Sie noch einen
guten Rat oder einige haben. Duzen Sie nicht ein unbekanntes
M&dchen : Sie kbnnen nie wissen, mit wem Sie sprechen, wie
scharfsichtig Sie auch zu sein glauben. Femer, seien Sie nicht
treulos gegen einen Freund, wenn e|ne dritte Person sich n&hert ;
wenn Sie wieder allein bleiben und ihn notig haben, so ist er
▼ielleicht nicht mehr zu finden.
A. W ’
DER WANDERER
Ich bin nicht treulos gfeweseii !
- *
■ . *
t
/ t
Die Wihdntiihldh
DAS MADCHEN
Doch, Sie woUten ihn l&cherlich machen, um sich bei mir ein-
zuschmeicheln — und das war nicht schon. Jetzt sind Sie zur
Defensive gekommen — und wenn Sie mich nun fragen* wie ich
heisse, werde ich nicht antworten, wie Sie ' vorhin deni' : M tiller
geantwortet haben, ais er sie von den R&ubem des Waldes
retten wollte .
* , . i * ' i * 1 ' * ■ 1 '
' DER JAGER
(erhebt sich) Wollen Sie sich nicht setzen, mein Fr&ulein?
DAS MADCHEN
’ , * 1 » ‘ 1
Ja, ich bin Fr&ulein, vom Herrenhof, und nicht Miillertochter
. . . (Zum Wanderer) Gehen Sie zum Muller und bestellen Sie
einen Grass von mir, dann erhalten Sie den Pass ; gehen Sie und
bestellen Sie nur einen Grass vom Fr&ulein . . .
DER WANDERER
Aber ich muss Ihren Namen wissen 1
* f
: ; > i > * l * ' * * J r i \
DAS MADCHEN
(setzt sich) Ich liefere meinen Namen nicht an Unbekannte aus,
und wenn Sie fein sind, so fragen Sie nicht danach ! Dorthin
W ‘ i ' j ■ t ^ * M , ► 4
mtissen Sie gehen 1
(Der Wanderer ab.)
DAS MADCHEN
Sie haben es gut, diirfen wandem,
und treffen Menachert, lernen viele kennen . . .
Wie, kennen lernen?
DER JAGER
DAS MADCHEN
fe
'll* « t ■
f * ■ ‘ ■ *
Nein ! Das tut man nicht 1
+ * '
Man wird bekannt ...
DER JAGER
Kaum das; doch R&tsel raten < 1
ist auch ein Zeitvertreib !
*
i ■■
ist nicht viel wert i
DAS MADCHEN
Deim was gesagt wird,
3 6* Die Windmiihleo
DER JAGER
O doch ! Man muss es ttbenetzen ;
denn alle Sprachen heissen fremde,
und fremd einander aind wir, blelben es.
Incognito wir reisen alle,
DAS MADCHEN
incognito auch vor tins selbst !
Sie haben Trauer, tragen doch nicht Trauer,
DER JAGER
und Sie sind Fr&ulein auch im Miillerkleid !
DAS MADCHEN
I
p
Ihr Kamerad ?
DER JAGER
Nur ein Bekannter, unbekannt dwrchaus !
a- " f
I " t
DAS MADCHEN
m
Was glauben Sie von ihm?
ffcfJT) * X
Nichts und alles !
#
Ich habe ihn noch nicht summiert !
DAS MADCHEN
Was taten Sie dort oben?
DER JAGER
Atmete, vergass !
JFUEi JPI
Warum vergessen? Ohn’ Erinnerungen
wfir* unser Leben ja ein leeres Nichts . . .
DER JAGER
und mit der Ladung sinkt das Schiff !
DAS MADCHEN
p
Doch ohne isf s ein Spiel der Wellen . . .
DER JAGER
und datum pflegt man Ballast einzunehmen . . ■
DAS MADCHEN
und zieht die Segel ein,
Die Windmfihlen
DER JAGER
wie bei Windmfthlen,
DAS MADCHEN
denn soost die FHigel brechen ...
DER JAGER
am beaten geht sie auf den Hohen . . .
DAS MADCHEN
am allerbesten in][den flachen Tllern .
DER JAGER
dick die Uplift istty
DAS MADCHEN
. . . dass man Meilen sieht.
mit blossem Auge alle Kirchen z&hlt ;
wo alle Sterne nachts sich zeigen . . .
DER jXGER
am Horizonte nicht,
DAS MADCHEN
: doch im Zenith ;
Zenith du iiberall hast, wenn den Horizont
du hast erreicht ...
DER JAGER
h j ■
Sag, wann erreicht' ich den?
DAS MADCHEN
■
Du sitzest hier, wohin du wolitest
Morgen dieses Tages ! 1st es nicht schdn,
zu finden Neues, ist das Alt' erlahgt ?
DER JAGER
Das feme Land jedoch?
DAS MADCHEN
; J - *
Geh, du erreichst es . . .
1 ,i
Ermfidest du, so zieht es sich zuruck ! —
Noch niemand den Polarstem im Zenith sah,
und doch sie reiseh dorthin, k^hren um,
und andre warden auch zurfickgeschlagen.
Wie diese tu’ ! Doch leme unterwegs.
■
' * i v
Die Windm'Qhlen
DER JAGER
dreggt undbaggert mit der Nas im Nadir
DAS MADCHEN
Das Aug zuweilen im Zenith doch 1 —
(Homsignale.)
* *
DER JAGER
Hdren Sie !
DAS MADCHEN
Ich hdre, doch begreife nicht !
DER JAGER
T
Ich iibersetze !
Sie hdren Laute bloss, ich hdre Worte !
DAS MADCHEN
Was sagt das Messing?
DER JAGER
H
„Antwort gebt: woseid ihr ?“
(Es wird auf dem Horn geantwortet ; „Hier I' 4 )
DAS MADCHEN
Es raft Sie jemand !
(Neue Signale.)
DER JAGER
„Koxnm gleich hierher, konun gleich hierher 1 Hierher !"
DAS MADCHEN
4 ■ * " V
Ich hor’, Sie sind Soldat, ich seh’ es ehe^ i ,
Man raft Sie ; scheiden wir, wie wir uns trafen !
DER JAGER
Nicht ganz so kurz f nicht ganz so leicht . . .
Begleiten Sie mich bis zum nachsten Dorf
auf meinem Wege !
DAS MADCHEN
Und Ihr Kamerad ? .
r ; . ^ ' 1 1
DER JAGER
O solche findet man in jeder Kneipe !
DAS MADCHEN
Wie grausam sind Sie I
1*
Die Windmiihlen
DER JAGER
Krieg hab .ich gefuhrt i
Da heisst es vorwarts 1 Bleiben nicht !
DAS MADCHEN
f *
Und darum gehe ich ; sonst muss ich bleiben !
4 t * f./. J h J • H ► ^ ^ _ —
DER JAGER
Und gehen Sie, so nehmen Sie etwas.
DAS MADCHEN
Und bleibe ich, so nehmen Sie mir etwas !
DER JAGER
(sieht hinaus)
Sieh da, sie zanken ! Gleich sie schlagen sich
Sie schlagen sich ! Und ich muss Zeuge sein !
f
Sie miissen gehn, sonst zieht man Sie hinein.
DAS MADCHEN
'J- ■
Sie dehken doch an mich?
DER JAGER
Ja, ah Sie, fur Sie,
mit Ihnen, durch Sie ! Jetzt lebwohl I
Die Blume, durch den Gartenzaun gesehen,
a ■■ h
erfreut den Wandrer einen Augenblick ;
am schdnsten ungebrochen, sendet sie den Duft
im Wind, ein Weichen nur, dann ist’s vorbei !
Uhd Torwftrts nun!
DAS MADCHEN
Lebwohl ! Und vorwdrts nun ! (Geht.)
I
DER JAGER (allein)
Nun bin ich unten ! Bin verstrickt, gebunden,
ins Muhlwerk des Gerichts hineingezogen,
in der Gefiihlsverwirrung Netz gefangen,
▼erbiindet einem Unbekannten, interessiert,
an einer Sach’ , die mich nichts angeht.
DER WANDERER (kommt zuriick)
Sie sind : noch da ? Ich glaubte, Sie seien gegangen, aber Sie
mussen eine treue Seele sein.
Die WindmOhkn
DER JAGER
Haben Sie sich in eine Schl&gerei eingelassen ?
DER WANDERER
Ich gab dem Mtiller eine Maulschelle, weil er mich gefoppt hatte.
Das ganze Gerede voxn Sprengen und den R&ubern war Ltige.
Docb sind wir zum Herbstgericht geladen, ich alsBeklagter und
Sie als Zeuge.
DER JAGER
Haben Sie denn unsere Namen genannt?
DER WANDERER
Nein, ich nannte zwei beliebige Namen.
r 1
DER JAGER
Wie konnten Sie das wagen ? Wir konnen ja noch wegen
F&lschung verfolgt warden . . . Wie kdnnen Sie mich' auf
solche Weise hineinziehen ! — Wie nannten Sie mich ?
DER WANDERER
Ich gab an, Sie reisten unter dem Namen Incognito I Und das
glaubten die Bauern !
DER JAGER
Und jetzt soil ich gegen Sie Zeugnis ablegen ?
DER WANDERER
■
In drei Monaten, ja! Benutzen wir also unsere Freiheit und
ziehen wir weiter ! — Im n&chsten Dorfe soil ein Fest gefeiert
werden !
DER JAGER
Was ist das fiir ein Fest?
DER WANDERER
Eine Art jeuz: floraux oder Eselsfest, bei dem der grfisste Dumm-
kopf mit einer goldenen Krone aus Papier gekrfint wird . .
DER JAGER
Das ist seltsam ! Wie heisst das Dorf?
DER WANDERER
Es heisst Eselsdorf ! Aber dieser Ort hier wird Liigenwald ge-
nannt, weil nur Liigner hier wohnen.
*
Yuanschikai Kunktator
h
DER JAGER
Enteuten exclaunein, darauf zogen sie,
DER WANDERER
*
parasangas treis, drei Parasangen ,
DER JAGER
und das taten sie !
Yuanschikai Kunktator
Von THEODOR TAGGER
4
Die symbolischen Aktionen gehen den notwendigen in China
weit voraus; so zeigt sich am klarsten und harteSten das Un-
reife, Fruhreife.
Als Yuanschikai die seidene Schnur ins Haus bekam —
derart forderte bis gestem die Mandschuregierung einen auf , sich
zu erh&ngen — durchschnitt er sie lachend mit dem Schwerte.
Aber die Sensation dieses Protestes, der im Durchschneiden
liegt, verblaBt: weil Yuanschikai eine treue Armee hinter sich
wufite, als er den kaiserlichen Imperativ verhohnte ; und die
Verallg emeinerung dieses Falles war erst nach sehr vielen
Monaten moglich.
Sehen wir auch von dem immerhin unbedeutenden Zopf-
abschneiden ab; aber eine zweite symbolische Aktion zeitigte ,
das allerjiingste China: die Republikaner haben den Gott Ku-
^ well er &ls Schutzpdixon der zu ver^
treibenden Mandschudynastie angesehen ist.
Auch das war verfriiht: weil es kein Bedurfnis erforderte.
Denn das grotesk-verzerrte Gottgesicht wirkte suggestiv auf <
das Landvolk, dem einen neuen Gott yon solcher Kraft die
Republikaner nicht geben konnen. Die Gebete um eine gute
Reisemte nahm das Ohr des Himmels entgegen ; und dieser
zertriimmerte Gdtze wird wieder erstehen, wenn die nichste
r W M m
Emte schlecht ausfallen sollte. Da wird ihm die kompakte
Masse der Bauem wieder fordern: und hierin liegt die grofie .
Gefahr einer baldigen reaktionaren Strdmung, welche die von
ihrem Fanatismus verblendeten Republikaner selbst herauf- ; ,
beschworen werden.
4
m
Yuanschikai Kunktator
wm
Inzwischen verzogert die nach mandschu-rechts und re-
publikanisch-links best&ndig pendelnde Gesinnung Yuanschikais
jeden weiteren Schritt ins Klare; d. h. vorerst das Edikt der
dynastischen Abdankung. Der kleine, fette Yuanschikai ist ein
eitler Mann; im Grunde nur auf sich selbst bedacht. Dies
wissend, ernannte ihn die schlaue Kaiserin-Witwe, sobald sein
Gleichgewicht sich nur etwas nach links neigte, rasch zumMarquis.
(Eine hochste Auszeichnung : denn abgesehen von den Deszen-
denten des Konfucius, sind nur die drei Niederwerfer des Taiping-
Aufstandes bisher in Grofi-China geadelt worden.) Und Yuan-
schikai, der sehr wohl die PrSsidentschaft anstrebt, unterstiitzt,
da er nun Marquis geworden, wieder die Kaiserlichen auf
einige Zeit. Von den Republikanern ist ihm keiner gefShrlich ;
auch nicht der Doktor Sunjatsen, ein scharfer Analytiker ohne
jede geringSte milit&rische Erfahrung. Die besitzt im hohen
Mafie der Generalissimus, der einzige Reformator des Heeres:
derart kann Yuanschikai jeder nichtpapiernen Aktion erfolg-
reich entgegentr eten . Solange er nicht die vollste Gewifiheit
hat, daB die Nationalversammlung ihn zum Prasidenten er-
wthlen wird, ldflt er die republikanische Bewegung schwanken;
obgleich er sie mit einem StoB in das richtige Fahrv asser
bringen konnte: und bleibt der Diktator in dieser absolutistischen
Monarchic. Ihm ist es wenig um das Wohl seines Vaterlandes
zu tun; sein gef&hrliches Spiel iibt nur einen Druck auf alle
Parteien : welchen schlieBlich nichts anderes iibrig bleiben wird,
als ihn so anzuerkennen, wie er anerkannt sein will. —
Inzwischen ist Europa die Geduld ausgegangen: diese un-
entschiedene Wellenbewegung bedeutet eine Sch&digung seines
Handels, dessen normales Niveau auf das Zweidrittel gesunken
ist und tdglich tiefer sinkt. Die indirekte Beschleunigung der
chinesischen Aktion betreibt Europa nicht durch Eingreifen,
sondem nach altenglischem Muster durch die Zerfetzung des
f
Reiches.
RuBland verhalf mit wenig Geld und wenig Miihe der
Mongolei zur Selbstdn digkeit : das ist der erste groBe RiB am
Leibe Chinas. RuBland macht das ja nicht umsonst: denn
der Mann, der jetzt Geghen heiBt und friiher einmal Cheptsun
Dampa Chutuktu hieB, welcher der Mann ist, der jetzt in der
Mongolei zu regieren hat, wird sich bewegen und benehmen,
wie es RuBland von ihm will. Da erinnern wir uns noch an
eine hiibsche Tatsache: vor vielleicht zwei Jahren schon wollte
der treffliche General Popoff die Mongolei ganz einfach be-
setzen, ohne jede weitere Erklarung; heute besitzt sie RuBland
ohne jede weitere Besetzung.
Yuanschikai Kunktator
369
Wahrenddessen, um den eigenen Magen zu fiillen, und um
die Mdglichkeit einer gelben Invasion zu vernichten, hetzen
die vereinten Briten und Japaner das siidliche auf das nord-
liche China; wieder nach altenglischem Muster, das ein Fetter-
werden ohne Selbstgef&hrdung ermoglicht; nur, indem man
zwei Parteien (vor ein paar Jahren waren es Rufiland und
Japan) aneinanderprallen l&Bt, sie derart schwacht und sich
derart stdrkt.
Die Republik, deren Proklamation man ohne jeden Zweiiel
in nicht mehr femer Zeit hdren kann, wird nicht halb so groB
sein als das ehemalige Reich. Und das Parlament dieser Re-
publik wird aus Holzpuppen bestehen, aus gefugigen Mario*
rietten, die hubsch schweigen werden und deren Drahte
Yuanschikai in Hinden haben wird. Denn bis dieser speku-
lierende Chinese sich nicht ein solches Parlament gesichert
haben wird, ISBt er es nicht zur Verkundigung des Abdankungs-
ediktes kommen. Die Kaiserin-Witwe, die schon seit langem
zur ganzlichen Meinungslosigkeit gelangt ist, wartet nur, bis
Yuanschikai diese Bekanntmachung erlauben wird (wahrend
die anderen kleineren Prinzen uberhaupt nicht in Frage
kommen; vielmehr Strohm&nner sind zur Deckung der kaiser-
lichen Unschliissigkeit. )
Deswegen ist es im Grunde gleichgultig, ob China sich
Republik nennt Oder Monarchie: regiert von Yuanschikai wird
es immer eine Monarchie sein, solange dieser lebt. Und eine
Republik, die mehr als nominell ist, wird es auch nach dessen
Tode nicht werden konnen: dazu fehlt dem Volke jede Reife.
Was momentan nicht nur von den anderen Staaten, sondem
in erster Linie vom verwirrten Kleinbttrger- und Bauerntum
ersehnt wird, ist irgendein Friede. Wann aber alle inner en
Brknde in diesem unglilcklichen Lande verloscht sein werden,
l&fit sich nicht voraussagen; denn Yuanschikai fahrt mit seiner
Politik der Passivitfit schlau und gut: er macht bestandig
Konzessionen an die Westmdchte und kokettiert mit ihnen,
indem er schweigt. Es ist moglich, daB er sich durch dieses
Nicht-entschliefien-wollen noch festf&ngt im Spinngewebe seiner
vielseitigen Kompromisse; aber es ist wahrscheinlich, daB er
eine Deckung verbirgt, wenn ihm sein verwegener Plan, alle:
die Mandschus , die Republikaner und besonders auch den
Wes ten zu befriedigen, miBlingen sollte.
26 *
370 In memoriam Herman Bang
In memoriam Herman Bang
Von C. F. W. BEHL
Irgendwo auf einer kleinen, unbekannten Bahnstation in
den Vereinigten Staaten hat er diese Erde verlassen, ganz
plotzlich, jfth, wie in heimlicher Flucht . . . Und mitten in
der fernen, fremden Welt, weit fort von Bangsbd, das sein
eigener Wunsch zur letzten Ruhe sich erkor.
Noch waren gerade in bunt wechselnder Hast neue Im-
pressionen der eben begonnenen Weltfahrt an ihm voriiber-
gehuscht ... da kam schrill und uberstiirzt das Ende . . .
*
Vor mir liegt eine Photographie Herman Bangs . . . aus
S. Fischers Jubilaumsbuch . . . eine der letzten wird es sein.
Ober dem seltsaxn wachen, vom nervosen Nachschwingen do*
subtilsten Regungen dieser Welt gezeichneten Gesicht liegt ein ,
Schein von Verwitterung . . . wie ein Wetterleuchten dieses '
j&hen Schlusses. Und aus dem Tode steigt wie in letzter, ab-
geschlossener Gestaltung nun das Dasein Herman Bangs auf.
Erinnerungen an das Eindrucksvollste und St&rkste aus seinem
Schaffen werden wach.j
*
Bang war keine naive, unbewuBt gestaltende Schopfer-
natur. Allzu genau und angstlich hat er sein eigenes Schaffen
betrachtet, zergliedert, zerpfluckt. Immer ist er neben sich
selbst gewissermaflen einhergegangen . . . wie ein Arzt, der das
eigene Fieber beobachtet und analysiert.
So findet man gerade in dem, was Bang mit der fein-
fuhligen Sicherheit des Dekadents fiber sich und seine Ge-
staltungen gesagt hat , den Grundzug seiner dichterischen
Personlichkeit.
In dem Vorwort zu seinem Roman ,,Tine“, darindes
Dichters Kindheitseindriicke sich zu Bildem von dumpf ver-
d&mmernder Tragik verdichtet haben, klingt das Leitmotiv all
seines Schaffens in den Worten auf:
,,Mein Geschlecht schrieb in mir wohl viel, sehr
viel in meiner Jugend.
Aber auch du, Mutter, schriebst das Deinige."
Eine mude, mit fernsten Erinnerungen beladene Kunst, die
aber durch eine geniale Bildhaftigkeit und eine reiche, unend-
In memoriam Herman Bang 371
lich feine Stilistik Schopfungen wie den vom ersten bis zum
letzten Worte gewaltigen Roman „Michael** und wie die an
das Letzte und Tiefste der Menschenseele rtihrenden , ,Hoffnungs-
losen Geschlechter'* hervorbringen konnte.
— ,,Lebend“ zu machen, das ist das schwere — und sicher
•ft mifilungene Bestreben.
Aber das Leben ist ja Bewegung und Mannigfaltigkeit —
so bekennt der Dichter wiederum im Vorwort zur ,,Tine“.
„ Bewegung und Mannigfaltigkeit* 1 sind das GrdBte an seinem
„ Michael* Es sind unausloscbliche Eindriicke, wenn beispiels-
halber Bang eine Gesellschaft beim Meister Claude Zauret
malt — ganz impressionistisch , mit kurz hingeworfenen Farben-
flecken, aus denen doch die letzten und feinsten Schattierungen
herausspringen . . . Oder wenn er des jungen Michael Liebes-
taumel vor uns ausgliihen l&fit wie ein wildes Feuerwerk,
dessen Flammen immer wieder einander iibersttirzen.
Hier in der ungestum packenden, einander jagenden Bild-
folge liegt die eine Seite von Bangs Meisterschaft.
Die andere aber ist die seltene F&higkeit, „ ferae und schnelle
Lichter im Halbdtmkel des Seelenlebens zu entziinden*'. Un-
vergeBlich bleibt jene Szene in den „Hoffnungslosen Ge-
-schlechtern**, da in dem Zimmer eines Frankfurter Hotels des
alten Hog langverhaltener Wahnsinn ausbricht und zum Ende
fiihrt — eine Szene, erfullt von groteskem Grausen, spielend
auf der schattenhaften Grenze zwischen Tod und Leben.
Dieser Dichter, begabt mit dem Hellsehen und der Fein-
horigkeit seines alten Geschlechtes, kann ganz tief nieder-
tauchen zu den verborgensten Vorgdngen in der menschlichen
Psyche. Fflr ihn gelten Hugo von Hofmannsthals erkennende
Zeilen vom poite maudit:
„Ganz vergessener Volker MQdigkeiten
Kann ich nicht abtun von meinen Lidern
Noch weghalten von der erschrockenen Seele
Stummes Niederf alien ferner Sterne.**
*
Herman Bang war kein urspriinglich, in groBen Wurfen
Schaffender. BewuBt und tmermiidlich hat er gerungen nach
der letzten Vollendung. Ein wenig bekanntes Skizzenbuch
,,Aus meiner Mappe“ legt davon Zeugnis ab. Gleich Mau-
passant, der durch zehnj&hrige entsagungsvolle Obungen seine
Meisterschaft sich erwarb, hat auch Bang wirklich gearbeitet
und, wie er im Vorwort zu einem kleinen dreiseitigen Prosa-
fragment, das ihn 27 Stunden gekostet hat, sich der kritischen
Anstrengung unterworfen, das „eine*‘ Wort zu suchen, und
Der Eidbruch des Ministers
versucht, den Satz um den Stahlleisten der Stimmung zu
formen.
Hier liegt das Bekenntnis des geborenen Prosakiinstlers, hier
finden wir die Wurzeln des unvergleichlichen Stilisten, dessen
Werke einen seltenen Zusammenklang von Form und Inhalt
offenbaren.
*
Herman Bang gab Milieukunst im edelsten Sinne. , Aus dem
Milieu sprangen die Seelen seiner Menschen heraus. In seinem
stilisten, von feinstem lyrischen Schmelz iiberhauchten Buche
„Das weiBe Haus“ findet diese Kunst ihre hochste Vollendung.
Aus dem meisterhaft gezeichneten Milieu des weiBen Hauses
heraus vemimmt man das angstvolle Fliigelschlagen einer ge-
fangenen Frauenseele, durch die Sehnsucht und das Entsagen-
mussen in stummem ewigem Reigen dahinhuschen . . . Und
zu innersl getroffen fiihlt man, dafi nur das nahe oder feme
Dazwischentreten des Todes diesen Reigen je enden kann.
*
Ein mehr von der Vergangenheit als von der Gegenwart reiches
Leben ist j&h mitten in der femen, fremden Welt erloschen . .
auf irgendeiner kleinen, unbekannten Station eines Landes,
das vergangenheitslos den Rhythmus der Gegenwart regiert.
Der Eidbruch des Ministers
Den Konservativen ist nach ihren Versicherungen der per-
sonliche Willen des Monarchen das heiligste Gesetz . . .
Im vergangenen Jahre reiste der Kaiser nach England. Ihm
zu Ehren veranstaltete auch der Kriegsminister Haldane ein
Fest in seinem Hause. Unter den Gasten fiel besonders der
englische Sozialistenfiihrer Macdonald auf. Ein suddeutsches
Blatt wuBte seinen Lesern von der gewifi harmlosen Tatsache
Kenntnis zu geben, dafi der Kaiser eine langere Unterhaltung
mit Macdonald gefiihrt hatte.
Wutgeheul in der konservativen Presse. Ein unbegreifliches
Versehen des englischen Ministers, den Sozialistenfiihrer in die
NShe des deutschen Kaisers zu bringen.
Liberate und sozialdemokratische Zeii ungen stellten nach
englischen Angaben fest, daB Macdonald auf Anregung deutscher
Amter nach ISngeren Verhandlungen eingeladen worden und
erschienen war.
i
m
i
Der Eidbruch des Ministers
Das schlagt bei den Konservativen dem Fafi den Boden aus.
Von dem Reichskanzler fordern sie Rechenschaft ; Herr v. Beth-
mann-Hollweg beeilt sich, in der , ,Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung 44 feierlich erkl&ren zu lassen, daB der Kaiser von der
Anwesenheit des Sozialistenftthrers nichts geahnt habe. Wahr-
heitswidrig und blddsinnig.
Ein hervorragender Parlamentarier der Rechten, natiirlich
ein englischer, sprach ein Wort der Kritik, das die ganze Ver-
achtung dieses Tuns erschdpfte: negerhaft.
H&tte der englische Konservative statt negerhaft „preuBisch“
gesagt, wdre seine Charakterisierung unseres Mandarinentunls
und seiner junkerlichen Herren noch treffender gewesen.
Der persdnliche Wille des Konigs ist nach der konservativen
Theorie heilig, aber wehe, wenn der Monarch den Willen hat,
einen Sozialistenfuhrer im Hause des englischen Kriegsministers
zu sprechen. Das erlauben die preuBischen Junker nicht, dehn
schlieBlich konnte bei den Biirgersleuten durch derartige Aff&ren
die ldinstlich groflgezogene Angst vor den Sozialdemokraten
schwinden. Am Ende f&nden sich gar Liberate und Sozial-
demokraten zusammen, um mit dem politischen Paschatum der
Feudalherren aufzur&umen.
Immer das gleiche Spiel. Als ,,Eidbrecher“, „Lugner 44 und
„Heuchler“ beschimpft der preuBische Minister v. Dallwitz im
preuBischen Landtage die Beamten, die als Reichstagsw&hler
bei der Haupt- Oder Stichwahl ihre Stimme fur einen Sozial-
demokraten abzugeben fur ihre Pflicht hielten. Dafi preuBische
Minister den Sauherdenton kultivieren, ist keine Seltenheit;
Herr v. Dallwitz f&Ut deshalb nicht besonders auf. Von Inter -
esse sind seine Schm&hungen gegen eine sicher nicht kleine
Zahl von Beamten aus anderen Griinden.
Bis zur BewuBtlosigkeit schrien die Konservativen und
Klerikalen seit Wochen, daB kein Beamter einen Sozialdemokraten
w&hlen darf, ohne seinen Diensteid zu brechen. Herr v. Dall-
witz wiederholl das Spriichlein vom Bruch des Treueides durch
Abgabe eines sozialdemokratischen Stimmzettels. Warura Bruch
des Treueides? Der Diensteid der Beamten enth< folgende
Stelle: „Sie schworen zu Gott, dem Allm&chtigen und AU-
wissenden, daB sie S. M. dem Konige treu und gehorsam sein
und die Verfassung gewissenhaft beobachten wollen.“ Schon
die eidliche Versicherung, die Verfassung zu beobachten, beweist,
daB der Diensteid nicht der Person des Konigs, sondern dem
Konig als Reprasentanten des Staates gilt. Der Beamte ist
nicht Diener des Monarchen, sondern Staatsbiirger, der dem
Staate dient. Sein Eid auf die Verfassung verpfiichtet ihn aber
i
374 - Der Eidbruch des Ministers
auch ganz ausdriicklich, als W&hler, seine Entscheidung nach
bestem Wissen und Gewissen zum Wohle des Staates zu treffen.
W&hlt er gegen seine Oberzeugung, dann nur wire er ehrlos.
Im Jahre 1899 wurde vom preufiischen Landtag dieKanal-
vorlage abgelehnt. Der preufiische Kfinig hatte seinen person-
lichen Willen fflr die Ausfiihrung des Kanals wiederholt in
feierlicher Weise bekundet. 20 Landr&te und 2 Regierungs-
pr&sidenten, die im Abgeordnetenhause gegen den Entwurf
gestimmt hatten, wurden unter Verleihung von Wartegeld in
CP ' CP CP
den Ruhestand versetzt. In einem Erlafi wurde ihnen gesagt,
daS sie ,,als Beamte die Tr&ger der Politik der Regierung Seiner
Majest&t sind und den Standpunkt derselben wirksam zu ver-
treten haben, unter keinen Umstinden aber auf Grand ihrer
persfinlichen Meinungen die Aktion der Regierung zu er-
schweren Berechtigung hatten**. Unter den auf Wartegeld
i ■■ ^
gesetzten Landr&ten war auch der damalige Abgeordnete
v. Dallwitz, der inzwischen auf einen preufiischen Ministersessel
hinaufgefallen ist. Zu seiner und seiner Freunde Verteidigimg
schrieb damals das fuhrende konservative Blatt: ,,Die Ab-
lehnung der Kanalvorlage lauft den Wunschen Seiner Majest&t
und den Oberzeugungen seiner Regierung zuwider. Das ist
bedauerlich, aber in jedem konstitutionellen Staate moglich.
Wenn derartige F&lle an sich unmoglich wfiren, so h&tte than
fuglich darauf verzichten konnen, eine Verfassung zu fordern.**
Herr v. Dallwitz vertrat damals konsequent seinen Stand-
punkt auf Unabh&ngigkeit seiner politischen Oberzeugtmg. Fur
den Beamten als W&hler hat dieser Ansprach zweifellos noch
e
mehr Geltung als fur den Beamten als Abgeordneten. Ist Herr
▼. Dallwitz heute der Meinung, dafi der Beamte in Ausiibung
seiner Staatsburgerrechte durch seinen Diensteid gebunden sei,
sich dem jeweiligen Willen des Kdnigs oder seiner Regierung
zu fugen, dann besinne er sich zun&chst gef&lligst auf den.
eigenen „Eidbruch“. Krites
375
Tschudi-Ged&chtnis-Stiftung
TSCHUDI- GEDAC HT NI S-STI FTU N G
Was die Freunde Tschudis so benannten und was sie mit vieler Mfihe
unter diesem Namen zusammenbr achten , das besteht, kann aber bis auf
weiteres nur im Keller der alten Pinakothek gezeigt werden. Genau wie
damals in Berlin, wo man die van Goghs auch nur in den unteren Ver-
lieBen der Nationalgalerie privatim sehen konnte. In Berlin entschied so
die Krone, in Mfinchen will es so die Krone der Kfinstlerschaft, und das
ist ein emsterer Fall.
Den Freunden Tschudis gelang es, auf privatem Wege und ohne einen
Pfennig Staatsgelder in Anspruch zu nehmen, etwa vierzig Bilder m (Us
auf Hodler) nur franzdsischen Malem zu erwerben, teils durch Kauf, tells
durch Schenkung. Es sind darunter: 3 Manets (Frfihstfick im Atelier,
zwei Landschaften), 3 van Goghs (das grofie Selbstportrftt, die Sonnen-
blumen, eine Regenlandschaft) a Renoirs (Damenbildnis und Markus-
platz aus den 7oer Jahren), 2 Daumiers (das Drama und eine Don
Quichotestudie) , 3 Courbets, 3 Cizannes (Selbstportr&t, Bahndurchstich,
Stilleben), 2 Toulouse-Lautrecs, z Monet, z Gauguin (weiblicher Akt aus
Tahiti) ; ferner Bilder von Cross , Signac, Denis, Rhysselberge, Bonnard,
Matisse, Guerin u. a. Ferner eine grofie Studie von Delacroix und
Plastiken von Rodin und Majoll. Diese Bilder wurden in einem Saale
der Pinakothek schdn aufgeh&ngt und aufgestellt und warteten auf die
staatliche Konzession, die sie als Tschudi-Ged&chtnis-Stiftung in
Eigentum des Staates fibernehmen sollte unter der Bedingung, die
Sammlung anzunehmen wie sie ist und ungeteilt der allgemeinen Be-
sichtigung zug&nglich zu erhalten. Das war alles recht schdn. Man
dachte sich, der bayrische Staat konne sich freuen, . ein Geschenk zu er-
halten, das ann&hernd einen Wert von zwei Millionen repr&sentiert, ein
Geschenk, mit dem er einen vortrefflichen Anfang zu einer modemen
Galerie machen kann. (Die neue Pinakothek gehort dem koniglichen
Hause, das sie gern dem Staate verkauft h&tte : Tschudi kam gerade zur
rechten Zeit, um diese Trans aktion zu verhindem, denn die zehn brauch-
faaren Bilder der neuen Pinakothek sind die verlangten Millionen nicht
wert, in welche die andern hundert und sovielSchinken eingewickelt wurden. )
Es w&re aber sehr schdn gewesen.
Aber man hatte ganz die unverantwortlichen Machthaber der Mfinchner
Kunst vergessen. „Ja, was wfir denn jetzt ddsi“ kam es von dorther,
und die Kunde vom Einbruch der franzdsischen Maler schreckte die Ateliers
am Platze auf. Ich beherrsche den Gesch&fts j argon nicht genug, in dem
das Folgende geschrieben sein mfifite, um den Sachverhalt genau wieder-
zugeben. Kurz und gut: die Mfinchner Malerei ffirchtet sich in ihrem
Export bedroht, wenn in ihrer Stadt franzosische Maler zu solcher Ehrung
kommen. Es gibt einen Mfinchner Malartikel, z. B. die Portr&ts des
Ritters Kaulbach und die Schilder der Herren von der Scholle. Da rfihrt
man sidi gewaltig. Mfinchen ist ihr einziges Absatzgebiet; ein paar
zoo 000 Fremde gibts alle Jahre hier, die nichts andres sehen, nichts andres
kaufen dQrfen, als Fabrikate der Scholle, Fritz Erler&Cie. Manweifi es ja im
Reiche nicht, wie in dieser Stadt ohne Industrie und ohne eigenes Leben alles
Hand in Hand arbeitet — Zeitungen, Kfinstler, Hotels, Theater, Fremdenver-
Es denkt
kehrsverein— umdas „spezifisch Mftnchnerische' ‘ und Kundenartikel in Kurs
zu bringen, wie sich alle, die was zu verkaufen haben, darum bemuhen,
fQr ihre Ware den Musterschutz ,.Mtinchnerisch“ zu bekommen, wie sich
hier die sterilste Xmpotenz Macht und Bedeutung erschwindelt mit Gegen-
seitigkeit und unter der gemeinsamen Devise „MQnchnerisch“. Schon
den kleinen Gebirgsdorfem bekommt es auf die Dauer schlecht, wenn sie
sich auf die Fremden als ihre einzige wirtschaftliche Einnahtnequelle
etablieren. In groBen Gemeinwesen wie Mfinchen fflhrt es zu einer F&l-
schung aller wirklichen Werte des Lebens und zu drgstem Schwindel tnit
Surrogates Schon fSngt die Mfknchner Gemiitli chkeit an, sich einem
verehrlichen Fremdenpublikum als echte Mtinchner Gemfitlichlceit vorzu-
stellen. . Sie ist soviet wert wie der „biedere Alpler“ von Schliersee und
der „treuherzige Gebirgsbewohner“ von Garmisch.
Also es gelang den groBen MUnchner Malern mit heftigem Protzen bei
Bier und WeiBwfirsten, daB jene Bilder in den Keller kamen. Vorl&ufig.
Denn das letzte Wort spricht der Regent. Warum, das weiB man nicht,
denn es wurde die Stiftung dem Staate und nicht dem Hause Wittelsbach
geschenkt. Oder man weiB es doch. Wenn man sich in Bayern in etwas
nicht einigen kann, dffentlich und vor alien Dingen, so stellt man es auf
den Regenten ab, d. h. die streitenden Parte ien beginnen ein heimliches
Wettrennen um den EinfluB auf den alten Herm der rechts hdrt und
links hdrt und, menschlich ganz verstindlich, „im Sinne meiner lieben
Kunststadt" entscheidet.
Wenn nicht ein Wunder passiert, ist zu fflrchten, daB dem Prinz-
regenten der Ritter Kaulbach lieber ist als der Manet und der Daumier
zusammen. Und wir werden eine Rundfrage erlassen : Wer will einige
Meisterwerke der Malerei und vier Plastiken von Rodin und Majoll
geschenkt erhalten ? BONNIE
ES DENKT
„Der Schnee macht die Welt farbig durch den Kontrast/' — Dieser
Gedanke ist plotzlich da, wShrend ich durchs Fenster eines Stadtbahnzuges
auf den Gleisdamm blicke. Er wird anscheinend hervorgerufen durch
den Anblick der braunschwarzen und grauen Flecken, welche die weisse
Schneedecke an manchen Stellen durchbrechen.
Absolut genommen ist die Behauptung freilich unsinn ig. Wenn ein
grosser Teil der sonst farbigen Erdoberfl&che weiss ist, dann sehen wir
statt einer Unzahl Far ben nur einige Reste. Subjektiv aber hat sie insofern
einen gewissen Sinn, als unser Auge durch das ununterbrochene Farben-
schauspiel ermfidet, zwar Wechsel und Kontrast noch deutlich empfindet,
aber gegen die Tatsache der Farbigkeit indifferent geworden ist.
Wird ihm durch ausgebreitete Fl&chen von Weiss die Farbenempf indung
streckenweise entzogen, dann wird es in jedem dunklen Gegenstand den
Wert der Far be an sich und abgesehen von seiner qualitativen Modifi-
kation von neuem erleben miissen. Die Farbigkeit der Welt w&chst dadurch.
JUaw
Bs denkt 377
im Sinne der Intensit&t der Far be. Indem wir nicht nur Graugrfin von
Rotbraun, sondern auch Farbig fiberhaupt von Weiss zu unterscheiden
gezwungen sind, erh< die Far be einen Zuwachs an Existenzkraft. Sie
erscheint nicht mehr selbstverst&ndlich, sondern etwas Charakteristisches
und Bedingtes.
Doch kommt es hier weder auf eine fisthetische Konstatierung, noch
auf eine optische Erkl&rung an. Ein Wort fiber die Form des Satzes.
Es ist das Kennzeichen guter S&tze, dass sie, abgesehen von ihrem
Inhalt, einen Wert besitzen. Der notwendige Satz besitzt eine prS-
-existente Form. Bevor man die Grenzen des Urteils oder des Gedankens,
den man Kussern will, erkennt, weiss man, wie lang der Satz sein wird,
in dem er sich ausdrfickt, wie eine Relief arbeit in weichem Ton. Man hat
ein ungefdhres Geffihl von der Zahl der Worte, die er enthalten muss,
und besitzt diedistinktesteVorstellung vondemTakt ihrer Auf einanderf olge
und dem Rhythmus desGanzen. Ob es sich gleichmSssig entwickeln wird,
oder ob an der entscheidenden Stelle eine Zdsur erscheinen wird, ist
nicht zweifelhaft. In manchen Ffillen weiss man genau voraus, ob das
Endwort stumpf oder klingend ausgehen wird.
In solchen Elementen verbindet sich dasjenige, was begrifflich fiber-
haupt nicht oder nur sehr umst&ndlich gesagt werden kann, mit dem
Material der Sprache.
Aber nicht jeder Satz entMlt diese Elemente. Vielmehr gehdren sei
einer Kategorie von S&tzen an, die ich die f ormulierenden nenne. Formel
heisse ich den Satz, der sofort mit der unerschfitterlichen Bestimmtheit
des sprachlichen Ausdrucks ins Bewusstsein tritt. In seiner Wortstellung
und Wortwahl kann nicht das geringste geindert werden, ohne dass er
seinen Sinn wechselt oder ganz verliert. In der Formel ist Form und Inhalt
absolut eins. Darin gleicht sie dem Kunstwerk.
Es ist bezeichnend, dass derjenige, weichem eine Formel in den
Schoss fillt, oft daran korrigieren will. Er sieht die Notwendigkeit der
Aeusserung nicht sofort ein. Andrerseits ist es mdglich, dass sich die prfi-
existente Form nicht gleich auf das erste Mai mit Worten richtig anf fillt.
Dann treibt eine gebieterische Ahnung zu immer neuen Korrekturen, bis
-die Formel so ist, wie sie sein muss. Ohne Zweifel gehen viele Formu-
lierungen durch Unachtsamkeit verloren, d. h. sie gelangen nicht zu un-
gehemmter Entfaltung.
„Der Schnee macht die Welt durch den Kontrast farbig/* Der Satz
rfickt unruhig und ohne Gliederung weiter. Die Ungewohntheit des Ge-
dankens ist abgeschw&cht dadurch, dass die Erkl&rung („ durch den Kon-
trast “) vor das letzte und entscheidende Wort gestellt ist.
9
„ Durch den Kontrast macht der Schnee die Welt farbig/' Der Satz
hat keine Spannung. Das Erklfirende steht wieder dem zu Erkl&renden
voran. Der Anfang ist rhythmisch schwankend, das Ende verklingend.
Eine ZSsur ist nicht vorhanden.
„Der Schnee macht die Welt farbig" • — soweit ist der Satz eine blosse
Konstatierung und von der fiussersten grammatikalischen Reinheit. Der
Inhalt scheint auf den ersten Blick widersprechend, man will seine Wahrheit
leugnen — da folgt die ErklUrung: ,, durch den Kontrast". Zwischen Be-
hauptung und Begrfindimg ein Atemholen, eine kleine Spannung. Dann
*
37«
Dekorativ
lost sichs fest und bestimmt.
Mag dieser Satz auch nur relativ richtig sein — er ist genaiTdas, was
ich in diesem Augenblick nicht nur denke, sondem auch fiihle. Er spiegelt
meine eigene Ueberraschung wider. Der Seelenzustand, der ihn erzeugte,
hat in ihm ein gewisses Ende erreicht Er beruhigt sich gleichsam in der
Formel, die seinem Dasein entspricht. In jeder Formulierung kommt das
Leben einen Augenblick zum Stillstand.
Vielleicht ist fiir einen unendlich grosseren Komplex von Wahrneh-
mungen das poetische Kunstwerk dasselbe, was die Formel ist ffir eine
vorGberhuschende Sensation. ALFRED ALBIN
DEKORATIV
Bei einem musikalischen, literarischen und bei jedem andern Kunst-
werk empfinden wir einige Teile desselben als Dekoration ; denn dekorativ
ist alles, was keine Notwendigkeit hat, da zu sein.
Es ist dies aber etwas sehrSeltsames: je mehr das Dekorative mit der
eigentlichen Substanz des Werkes verbimden ist oder vermengt : um so
deutlicher fuhlen wir es als solches heraus ; und nicht etwa umgekehrt.
Steht dagegen eine Dekoration abseits vom eigentlichen Stoff, also
als Dekoration in ihrem naturlichen Sinne, so gewinnen wir leichter
einen harmonischen Eindruck der Gesamtheit: denn bei genauerem Be-
trachten schaltet sich von selbst das Dekorative aus; und wirft lediglich
eine Nuancewirkung auf die Klangfarbe und auf die Dynamik des Grund-
akkords.
Dieser wieder verliert, je tiefer man sich versenkt, um so mehr
seine dargestellte Inkamation : Das Dekorative ist das Konkrete eines
Werkes, wdhrend seine eigentliche Substanz nur mehr die Agitation des
Stoff es, die Rhythmik selbst ist; seine abstrakte Aktivitat; die Sensation
seiner sichtbarenExtramundanit&t — : die entmaterialisierteMaterie ist. —
T.
Wir bitten, Mitteilungen und Beitrilge nur:
An die Redaktion, Berlin W. to, Victoriastrasse 5, zu adressieren.
Bei umfangreicheren Zusendungen ist vorherige Anfrage notwendig.
Sprechstunde: An Werktagen, mit Ausnahme des Montags, 1 — 3 Uhr,
Berlin W., Victoriastrasse 5.
Verantwortlich ffir die Redaktion : Albert Damm, Berlin-Wilmersdorf.
Gedruckt bei Imberg & Lefson G. m. b. H. in Berlin SW. 68.
Die Zukuiift des Islam
Die Zukunft des Islam
Von M. URVILLE
T
Die politische Umwilzung in der Tiirkei vom Jahre 1908, die
panislamitische Bewegung in Aegypten und der starke Wider-
stand der Araber gegen Italien haben das Schlagwort vom
, ,Erwachen des Islams“ gepr>. Ueberblickt man jedoch die
Fiille der einzelnen Erscheinungen in der islamitischen Welt,
wie sie sich schon seit etwa fiinfzehn Jahren dem Auge des Be-
obachters darbieten, so kann man nicht von einem Erwachen des
Islam sprechen, sondem von einer Regeneration , die Schritt
fur Schritt vor sich geht und alle Merkmale der langsamen aber
stetigen Entwicklung aufweist. Wir haben es hier also nicht mit
einer spontan eingetretenen Erscheinung zu tun, etwa mit einem
Strohfeuer oder einer konvulsivischen Zuckung des „kranken
Marines", sondem mit einer tiefschiirfenden Bewegung des
ganzen Islam, die alle zweihundertundfiinfzig Millionen Bekenner
Mohammeds umfasst. Wie weit diese Regeneration greift, zeigt
ein Blick iiber die islamitische Presse. Im Jahre 1825 betrug die
Zahl der mohammedanischen Zeitungen und Zeitschriften kaum
zweihtmdert, die in tiirkischer oder arabischer Sprache geschrieben
waren. Um das Ende des vergangenen Jahrhunderts hatte sich
diese Zahl verdoppelt, im Jahre Z907 betrug sie fiinfhundert
und Ende 19x0 rund siebenhundertundfiinfzig. Am charakte-
ristischsten ist jedoch die Verbreitung der muselmdnnischen
Presse. Die engere Tiirkei weist 300 Zeitungen und Zeitschriften
auf; Aegypten allein 120. In Russland kommen bei den Tataren
der Krim und Orenburgs, ferner im Kaukasus zwolf islamitische
Zeitungen heraus, von denen eine, „Ischik“ (Licht), von einer
Frau redigiert wird. Das englische Indien z&hlt mehr als 200
islamitische Zeitungen, die in der Ordusprache geschrieben sind,
einem islamitischen hindustanischen Dialekt. Die dreizehn
w
mohammedanischen Zeitungen des holl&ndischen Indiens sind
in der malaischen Sprache gedruckt. Syrien und Persien weisen
fiinfzehn und Algerien und Tunis etwa zwanzig islamitische
Zeitungen auf.
Die Tendenz fast aller dieser Blatter, die durch das gemein-
schaftliche Band des Koran zusammengehalten werden und
derart als ein grosser Faktor betrachtet werden miissen, ist
liberal, dem Fortschritt zugeneigt, dabei bemiiht, den lokalen
geographischen wie politisch gegebenen Verhaltnissen gerecht
zu werden.
3* 0
Die Zukunft des Islam
Nachhal tiger noch, als durch die Presse, wird die Regeneration
des Islam durch , die Reformierung der mohammedanischen
Schulen betrieben, Vorschrift in der Turkei war es, dass jeder
Moschee, das heisst, jeder religidsen Gemeinde eine Schule fiir
das Studium des Koran angegliedert sein sollte, eine sogenannte
,,Medersch“. Diese Vorschrift war bis vor etwa zwanzig Jahren
Papier geblieben. Seit 1890 aber mehrten sich diese Medersch,
und was noch schwerer ins Gewicht f&llt, sie nehmen modemere
Foqnen an. Dieser langsame Umschwung zeigte sich besonders
im nordafrikanischen Islam. In Marokko gibt es jetzt vier solcher
Medersch, deren grosste, El Karauine, allerdings schon im
Jahre 895 begriindet wurde. Heute z&hlt sie 4100 Studenten, die
sich aus Algerien, dem Sudan und dem Senegal rekrutieren..
Gelehrt wird auf dieser Schule die Grammatik, die Rhetorik,
die Arithmetik und der Koran. In anderen Moscheeschulen
' r
Marokkos lehrt man Chemie, Medizin, Musik und Geometries
w&hrend man das traditionelle Studium der Astronomie, das-
1
im Berberland in so hoher Bliite gestanden hatte, vernachl&ssigt .
In Algerien wurden die Medersch durch einen Erlass der fran-
zosischen Regierung vom Jahre 1895 vollig reorganisiert. In den
Schulen von Alger, Tlemzen und Constantine wird das Arabische
und das Franzdsische eifrig betrieben. Tunis z&hlt zwei solcher
dffentlichen Schulen, die „Djama Eggituna“ in Tunis selber mit
etwa zooo Studierenden, die 22 Medersch umfasst und an der
1 12 Professoren in vier Fakult&ten dozieren, und dann die kleinere
Medersch in Kairuan. Schliesslich ware noch eine Art von
Hochschule zu erw&hnen, die Khaldunia, in welcher dennur
islamitischen Horern Vorlesungen fiber Wissenschaft und Lite-
ratur geboten werden.
Es ist iibrigens fur die Regeneration, wie auch fur die Un-
richtigkeit der Behauptung, dass der Koran jeden Fortschritt
verbiete, bezeichnend, dass in Tunis eine islamitische M&dchen-
schule gegrundet wurde, die sich grosser Beliebtheit und starker
Frequenz erfreut.
Aegypten weist eine noch stirkere Regeneration auf. Die
Hauptschule dieses ttirkischen Vasallenstaates war El-Hazar,
die im Jahre 970 begriindet worden war und unter der Herrschaft
der Fatimiden grossen Ruhmes genoss. Seither verfiel sie,
wurde aber im Jahre 1860 durch den Scheik Mahdi el Abbas
reorganisiert und zu einer richtigen Universit&t geschaffen, die
250 Professoren und etwa z z 000 Schuler z&hlte. Doch erstreckte
sich der Unterricht zun&chst nur auf den Koran. Nachdem
jedoch der Scheik Mohammed Abdu, der Grossmufti von Kairo,
Rektor der Universit&t im Jahre Z900 geworden war, wurde
(
Die Zukunft dec Islam
der mehr mittelalterliche Betrieb von El-Hazar durch modemen
Untefricht ersetzt und neben dem Koran auch Geschichte, Natur-
lehre, Mathematik und Philosophie betriebem Mustafa Pascha
Kamel verwandelte schliesslich im Jahre 1908 diese Schule zur
Universit&t, die vier Fakult&ten und eine weibliche Abteilung
umfasst.
In der eigentlichen Tiirkei ist den Leitem der Medersch, den
Softas, die moderne Wissenschaft, . speziell die Geschichte) zum
Teil noch fremd. Doch ist auch hier ein Fortschritt zu verzeichnen,
der angesichts der Tatsache, dass die Zahl der Schuler oder
„Medresseh“ iiber eine halbe Million betrftgt, nicht zu gering
gesch&tzt werden darf.
Am tiefgehendsten erweist sich die Regeneration des Islam
in zwei Gebieten, der Moral und der S i 1 1 e n.
Wie einer der besten Islamkenner, Bonet-Maury, mit
Recht betont, ist die islamitische Morallehre einer uberraschend
grossen Anpassungsf&higkeit an das Milieu und an die Epochen
der Kulturgeschichte fdhig. Daraus auch erkl&rt sich die grosse
Kraft der Propaganda, die dem Islam bei der Eroberung der
verschie densten Linder eigen war.
So sehen wir, dass in Indien unter der Herrscnaft Mongol
Akbars eine Verschmelzung des Islam mit dem MazdSismus
und Brahman ismus stattfand, die mit dem Namen Tauhidi-Ilahi
bezeichnet wurde. Nach Bonet-Maury wurde durch diesen
Synkretismus die Moral des Koran bedeutend erweitert und ihr
der Ahnenkultus und die Menschlichkeit gegeniiber Mohammeda-
nern, Nichtmohammedanern und Tieren beigefiigt, zwei dent
Brahmanismus und dem Parsikult entnommene Gebote. Eine
weitere Verschmelzung ist der Brahmo-Somaj, der den Kultus
der Veda, den Judaismus und das Christentum umfasst und
ebenfalls die islamitische Moral auf eine hohere Stufe hob. Des-
gleichen bedeutet die Bewegung des Ahmadyia der indischen
Muselmanner einen Schritt nach vorwirts, da diese Bekenner
des Propheten der Propaganda durch das Schwert entsagt haben
und nur noch eine solche durch friedliche Mittel anerkennen.
Die nachhaltigste Beeinflussung erfuhr die dogmatische
Koranmoral jedoch durch den Behaismus. Die Behaisten er-
kliren, im Gegensatz zu den Altgliubigen, alle Menschen fir
gleichwertig, welcher Rasse oder Nationalitit sie auch angehoren
mogen. Die Sittenlehre des Behaismus setzt als erstes Gebot
den Iktihad, die Pflicht der Anerkennung jedes Menschen als
seines Mitmenschen im vollen Sinne des Wortes, und als zweites
Gebot den Iftifak, die Einheit der menschlichen Rasse. Streng
verboten ist jede Luge, auch die NotHige.
»•
Die Zukunft des Islam
Eine dhnliche Umwandlung vollzieht sich in dem Begriff der
Vergeltung. Mohammed hat bekanntlich eine Hdlle gelehrt,
die der Dantes nicht viel nachsteht, und einen Himmel mit
etwas irdischen Gentissen. Auch diese beiden Dogmen schwinden
dahin. Schon der mittelalterliche Gelehrte Ibn-Masud hatte
das kiihne Wort gesprochen: „es wird die Zeit kommen, wo die
Tore der Hdlle often stehen werden, weil niemand me hr in ihr
sein wird". Der sogenannte Babysmus ging noch weiter und
leugnete sowohl das christliche wie das mohammedanische
Paradies und dessen Gegenstuck ab und liess nur die Verant-
wortung des Menschen fur seine Taten bestehen , womit also
mit dem durch gottliche Weisheit eingerichteten Himmel und der
Marterkammer Hdlle griindlich aufger&umt worden war. ,,Schreite
weiter in deiner Religion unter dem Banner der Wissenschaft,
ohne dich um Traditionen jeglicher Art oder Quelle zu kummem* *
— derart lehrte Zamakchari, ebenfalls ein bertthmter Gelehrter
des Mittelalters, im Jahre 1x14, der Vertreter des Mutazilismus,
einer der rationalistischen Schule, die die Moral des Islam auf
die hochste Stufe erhoben hatte und vor allem die Liebe und die
Briiderlichkeit aller Menschen lehrte. Heute ist das Haupt dieser
Schule Seyed Ameer Ali, ein Richter des obersten Gerichtshofes
in Kalkutta. „Der Ruhm des Islam", schreibt er, „besteht darin,
den Gefiihlen der Barmherzigkeit, die Christus mit soviel Be-
redsamkeit und so hehrem Beispiel predigte, eine greifbare
Form gegeben zu haben. Mohammed hat diese Vorschriften
Christi in gesetzliche undjpositive Formen niedergelegt."
Derartige Wandlungen konnten nicht ohne Nachwirkung
auf die Beziehungen der mohammedanischen Volker zu ihren
Nachbarstaaten bleiben. Mohammed, der der Begriinder des
Monotheismus in den arabischen L&ndem war, hatte den Djehat
oder Gotzenanbetem den Krieg erkl&rt; doch hatte er eine Aus-
nahme fiir ,,die Manner des Buches (der Bibel)" geschaffen,
indem er sagte: „Tut diesen Menschen keine Gewalt an wegen
ihres Glaubens." Dies Gebot blieb bekanntlich ein frommes
Wort, und die Bekenner des Propheten pflanzten mit blutiger
Hand die griine Standarte auch in christlichen Lfindem auf.
Doch ist diese weite Begriffsfassung des Djehat, als welcher auch
der Christ betrachtet wird, heute nur noch im Norden Afrikas
geltend, ohne Zweifel als Reaktion gegen die T dtigkeit christlicher
Missionare. In Persien dagegen herrscht voile Toleranz gegen -
iiber dem Nichtmuselmann, und die Mutazilisten halten im
Namen des Koran den heiligen Krieg nur dann fur berechtigt,
wenn er zur Verteidigung islamitischer Lander oder gegen
Gotzenanbeter gefuhrt wird. Der Behaismus geht noch weiter.
Die Zukunft des Islam 383
indem er kein Volk als ein auserw&hltes anerkennt. Interessant
ist es auch, dass diese weitverbreitete Sekte des Islam die Gleich-
heit aller Menschen lehrt, die Kasten und Klassen der mensch-
lichen Gesellschaft fur nichtig hftlt, den Sklavenhandel verbietet
und im Falle eines Konfliktes zwischen einzelnen St&mmen Oder
Vdlkem diesen auch im Schiedsgericht erledigt wissen will. Es
liegen also in der Lehre des Behaismus alle Keime zur Entfaltung
eines Zukunftsreiches enthalten, wie es den christlichen Staaten
bis jetzt als blosse Utopie vorschwebt, dann aber auch ist die
Lehre dieser Sekte alien modernen Bestrebungen im demokra-
tischen Sinne fiberaus giinstig gesinnt.
Auch in bezug auf die Polygamie sei es erlaubt, dem land-
l&ufigen Urteil eine Korrektur zu erteilen. Der Prophet selber
hatte schon gegen die Auswiichse der Polygamie, die er niCht
schuf, sondern als Brauch der arabischen Stamme beibehielt,
dadurch angekampft, dass er die Zahl der legitimen Frauen auf
hdchstens vier ansetzte. Im Koran selber finden wir die Rechte
der Frau und deren Eigentum durch eine iiberreiche Zahl von
Bestimmungen gewahrt. Doch gab der Prophet selber ein
schlechtes Beispiel dadurch, dass er eine grosse Zahl von Konku-
binen hielt. Hier vollzieht sich jedoch auch seit etwa zwei
Dezennien ein tiefgehender Umschwung. Zunachst ist zu be-
merken, dass die Muselmdnner Albaniens der Polygamie nicht
ergeben sind, dann aber kommt man von ihr besonders in Ae-
gypten, Tunesien, Algerien und im englischen Indien mehr und
mehr ab. Seyd Amer Ali erkl&rte, dass von dem Tage an, wo
der Widerstand gegen die neuen Ideen aufgegeben werde, es den
Juristen der mohammedanischen Lander ein leichtes sei, durch
Autoritatsbeschluss des Staates die Polygamie abzuschaffen.
Maksudoff, der Deputierte der russischen Muselm&nner in der
Duma, hat seinerseits eine Gesellschaft gegen die Polygamie
begrundet, die viele einflussreiche Mitglieder zthlt. Doch haben
die islamitischen Frauen des russischen Reiches ihre Sache in
die eigenen H&nde genommen und in einer Adresse an die Ver-
treter des Islam in der Duma auf Abschaffung der Polygamie
und vbllige Gleichstellung mit der europftischen Frau gedrungen
(April 1908).
Um dieser Emanzipationsbewegung eine solide Basis zu
schaffen, wurden Madchenschulen begriindet, in Skutari, in
Beyruth und in Tunis. Die islamitische Frauenbewegung hat schon
tuchtige Erfolge aufzuweisen, sowohl im allgemeinen wie im
einzelnen. Die Leiterin des „Ischik“ in Baku ist eine mohamme-
danische Frau, in Konstantinopel wirkt Halida Salih Hamm,
eine Gelehrte von grossem Ruf , f fir das Recht der muselm&nnischen
384
Die Zukunft des Islam
Frau als Mitarbeiterin oder Redakteur des „Tanin M , und die
bedeutende Dichterin Niguiar Hanun verleiht der Bewegung
poetischen Schwung. Der Sultan selber ist Frauenrechtler und
legte den Grundstein zu einer F r auenuniver sit&t , die alien Kon-
fessionen offen steht.
Die Sklavenfrage aber ist ein Problem, das mit grosser Vor-
sicht und vor allem mit Kenntnis des wahren Sachverhaltes
behandelt werden muss. Wirtschaftliche Notwendigkeiten ver-
bieten in vielen Teilen der muselm&nnischen Welt eine rasche
Abschaffung der Sklaven, doch ist der Anfang schon dadurch
gemacht, dass fast uberall der Sklavenhandel offizieU verboten
ist. Es wdre ganz falsch, die Stellung des Sklaven mit derjenigen
des russischen oder ehemaligen preussischen Leibeigenen zu ver-
gleichen, der an die Scholle gebunden war und mit ihr verkauft
werden konnte. Das Verhaltnis des Herrn zu seinem Sklaven
ist im Islam ein durchaus patriarchalisches, eine schlechte Be-
handlung fast vollig ausgeschlossen, da der Sklave sich ihr leicht
durch die Flucht entziehen kann.
Aus diesen Erorterungen ergibt sich zur Geniige die Unhalt-
barkeit des Dogmas von der Starrheit des Islams. Der Islam
ist nicht nur einer Evolution im liberalen Sinne fahig, sondem
schon in ihr begriffen. Basiert ist diese Evolution auf dem breiten
Fundament der allgemeinen Hebung der Bildung durch Presse
und Schule. Weit entfernt da von, den Errungenschaften der
Wissenschaft einen prinzipiellen Widerstand entgegen zu setzen,
sehen wir, dass sich der Islam diesen Errungenschaften mit Eifer
hingibt und sie dazu verwendet, seine Moral zu heben. Fiir den
Kenner der mohammedanischen Welt ist es keine Frage mehr,
dass dem Islam infolge der ihm eigenen Glaubenskraft wie der
Aufnahmef&higkeit neuer Elemente eine grosse Zukunft be-
vorsteht.
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Ah eine Erscheinung im Karneval
» ■ s
Von ALFRED WALTER HEYMEL
O, wie du kamst! Ach, dass du giiigest
Und liessest ULchelnd uns zuriick,
Die du in Netzen {ingest a
Aus hellen Haaren und aus Blicken,
Mit denen du an jedem von uns hingest
Und ihn bezaubertest.
O, wie du gingst! Ach, dass du liessest
Uns Beute, uns Gefesselte,
Uns, denen du verhiessest
Rausch, Kampf und Sieg und Opfergliick.
Ach, dass du gingst und nicht geniessest,
Was du erbeutetest!
Wie Sonne kamst du und verschwandest
Zu Nacht ; doch blieb ein Feuefband,
Mit dem du uns umwandest,
Und bandest uns, so dass dir folgen,
Wohin du willst, du landesi oder strandest ,
Die du erobertest.
■ 4
Du hast verfiihrt, entzweit und doch vereinigt,
Uns Sklaven gleich und Sfichtigen,
Von Eifersucht gereinigt,
Geblendet uns mit gleichem Licht;
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Du hast mit Sehnsucht uns gepeimgt,
Die du entzttndetest.
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386 Aus Flauberts Nachlass
Aus Flauberts Nachlass
Von THEODOR REIK (Wien)
Die beiden folgenden Stellen finden sich auf Seite 24 — 25
und Seite 89 — 90 des Manuskriptes von Flauberts „Par les
champs et par les graves". In der Edition Charpentier, welch e
sfimtliche Werke umfafit, sind sie nicht aufgenommen. Sie
wurden zum erstenmal zitiert von Rend Decharmes (,, Flaubert,
Sa vie, son caractdfb et ses idles avant 1857“), dessen Buch
bisher nicht ins Deutsche fibersetzt wurde. Sie scheinen mir
ebenso bedeutungsvoll fiir Flaubert als Menschen wie fiir
Flaubert als Schriftsteller. Flaubert erz&hlt bei der Besichtigung
des Schlofies von Amboise: Louis Philipp hatte gewisse Gegen-
stftnde in der Skulptur, welche die Treppenwolbung schmiickt,
entferaen lassen. Der Diener erkl&rt den Besuchem: es gab
darunter manches, was von den Damen unschicklich gefunden
wurde. Soweit die Ausgabe Charpentier. Das Manuskript
setzt ein:
„Niemand kann klagen, mich fiber irgendeine Verwiistung
seufzen gehort zu haben; fiber irgendeine Verheerung oder
Verwimmg. Ich habe niemals geseufzt fiber das Wfiten der
Revolutionen noch fiber die MiBgeschicke der Zeit. Ich wire
nicht einmal bestfirzt, wenn Paris durch ein Erdbeben auf den
Kopf gestellt wfirde Oder eines Morgens mit einem Vulkan
erwachte, inmitten seiner H&user; einem ungeheuren Brenn-
eisen, das ihm ins Gesicht rauchen wfirde; es wfirden daraus
vielleicht ganz nette Bilder entstehen und ein grandioses Fressen
im Sinne Martins 1 ). Aber ich trage einen schneidenden, be-
stindigen Hafi in mir gegen irgendein Beschneiden eines Baumes,
um ihn zu verschonern ; gegen jede Kastrierung eines Pferdes,
um es zu schwichen; gegen alle jene, welche die Ohren oder
den Schwanz von H unden beschneiden; gegen alle, welche
Sphiren und Pyramiden aus Buchsbaum darstellen; gegen alle,
welche restaurieren, schmficken, verbessem; gegen die Heraus-
geber sittlich gereinigter Werke; gegen die keuschen Holz-
floflffihrer gemeiner Nacktheiten ; gegen die Arrangeure von
Ausziigen und Verkiirzungen ; gegen alle jene, welche
etwas wegrasieren , um eine Periicke darauf zu setzen; und
welche grimmig in ihrer Pedanterie, unerbittlich in ihrer
') Franzoaischer Reisender und Naturforscher, geb. 1806
Albernheit, indem sie die Natur beschneiden, iiber diese schone
Kunst des guten Gottes hinwegschreiten, und, indem sie die
Kunst bespeien, diese andere Natur, welche der Mensch in sich
trigt wie Jehovah die eine, und welche die jungere ist — oder
die ftltere, wer weiB?
Ich habe Gewissensbisse, nicht den Menschen mit meinen
F ingem erdrosselt zu haben, der eine Ausgabe Mol&res ver-
offentlicht hat, welche anst&ndige Familien ohne Gefahr ihren
Kindern in die H&nde geben konnen. Ich bedaure, fiir den
Elehden, der Gil Bias mit demselben Unflat seiner Keuschheit
besudelt hat, keine scheufilichen Qualen und beschimpfende
Todeskampfe zur Verfugung zu haben. Und den braven
Idioten, einen belgischen Pfaffen, der Rabelais gereinigt hat —
warum kann ich in meiner Sehnsucht nach Rache nicht
diesen entschlafenen Kolofl wiedererwecken, um ihn dariiber
sein titanisches Geheul erheben zu horen ! ‘ ‘
Die zweite Stelle:
„Ich wiirde wohl den kompletten Villemain 1 ) her geben,
den ich in meiner J ugendzeit gekauft habe (eine unsinnige
Handlung, die man mir nicht verboten hat, was die Gut-
mutigkeit meiner Familie beweist); ich wiirde auch die Vor-
lesungen des Herm Saint -Marc Girardin 2 ) geben, welche ich
aufbewahre, wie Rend 8 ) sagt, „um mich in Zukunft jeder freu-
digen Regung zu berauben“. Ich wiirde selbst ein Paar
marokkanischer Pantofleln hinge ben, welches mir im Sommer
sehr angenehm ist, und noch dazu meine Biirgerrechte, die
Achtung meiner Mitbiirger, und den Rest einer Flasche Lack,
welcher anf&ngt, dick zu werden — ja, ich wiirde das alles
hochherzig und auf der Stelle hergeben, um das Alter, den
Namen, die Wohnung, die Besch&ftigung und das Gesicht des
Mannes zu kennen, der fiir die Statuen des Museums in
Nantes Weinbl&tter aus blankem Eisen erfunden hat, welche
aussehen wie Apparate gegen die Onanie. Der Apollo von
Belvedere, der Diskuswerfer und ein Flotenspieler sind mit
diesen sch&ndlichen Metallbadehosen aufgeputzt, welche glinzen
wie die Kiichenpfannen . Man sieht iibrigens, dafl dies eine
lange iiberlegte und liebevoll ausgefiihrte Arbeit ist. Sie sind
auf den R&ndern gezackt und mit Schrauben an den Gliedern
der armen Gipsfiguren eingerammt, welche sterben, vor
Schmerz sich abbrockelnd. In dieser Zeit flacher Dummheiten ,
>) FranzSsischer Literarhistoriker, 1790 — 1870
2 ) Publizist, 1811—1873
3 ) Held der gleichnamigen Erzfthlung Chateaubriands
Aus Flauberts Nachlass
inmi tten des normalen Stumpfsinnes, der uns verschuttet, 1st
eS erfreulich
und wfire es nur zu( Zerstreuung, wenigstens
einem wilden Blddsinn, einer riesenhaften Borniertheit zu be-
gegnen. Trotz meinen Anstrengungen habe ich es nicht dazu
gebracht, den Schopfer dieser keuschen Unversch&mtheit
mir vorzustellen. Ich glaube geme, dafi der ganze Stadtrat
daran teilgenommen hat, dafi die Herren Geistlichen sie an-
ger egt und die Damen sie schicklich gefunden haben.“
■. Wie selten trifft man bei Flaubert, diesem schweigsamsten
und hSrtesten aller Kiinstler, solche Selbstbekenntnisse. Hier
hat er einmal seine starken Affekte nicht verdrangt, sondern
„abr eagier t 4 ‘ . Die Griinde, welche den Dichter dazu gefiihrt
haben, diese Seiten nicht zu veroffentlichen, sind kaum schwer
zu finden. Die Darstellung vertrug sich nicht mit dem Prinzip
der impassibility und impersonnality des Kiinstlers, welche er
streng von sich und andem forderte.
Jedenfalls ergSnzen sie das psychologische Bild des Kiinstlers
und zeigen wieder (wie die Tentation, wie die Correspondance
und die Oeuvres de jeunesse), dafi er nicht immer der objektive
Dichter war, und fordern dringender eine Erklirung der Psy-
chogenese dieses Grofien.
Und vielleicht ist es gut, in diesem muckerischen Deutschland,
das die Strafie der Gerechten wandelt (um, wenn es dunkelt,
in Seitengassen einzubiegen), in diesem Deutschland, das es
gewagt hat, Seiten dieses einzigen Kiinstlers zu unterdrucken —
vielleicht ist es gut, hier seine eigenen Meinungen zu horen.
389
..Elegie der Stadt Berlin an den Baron von Pdllnitz
Elegie der Stadt Berlin an den
Baron von Pdllnitz
Von FRIEDRICH DEM GROSSEN
Baron ron Pdllnitz, an den Friedrich diese scherzhafte Elegie gerichtet,
war Oberzeremonienmeister und schon unter des Konigs Vater titig ge-
wesen. Anlass zu dieser Elegie hat das Entlassungsgesuch des Barons
v. Pdllnitz im April 1744 gegeben, der wegen einer fehlgeschlagenen
Heirat ins Kloster gehen wollte. Er hat aber diesen Plan auf gegeben
und kehrte schon, ein halbes Jahr darauf, nach Berlin zuruck, wo er
spfiter (1775) als Theaterdirektor starb. Die Elegie gehort zu jenen
kleinen, heute ganz unbekannten scherzhaft-satirischen Schriften Fried-
richs des Grossen, die er teils zur Ablenkung von den Staatsgesch&ften,
teils zur literarischen Bekostigung oder Erheitenmg der ihm vertrauten
Umgebung schrieb und die, neben dem literarischen Kuriositatswert, auch
manches Licht auf den liebenswfirdig-vertraulichen Verkehr mit seinen
Untergebnen werfen. E. O.
Komm, Tochter des Himmels, Gottin des Schmerzes und
alter z&rt lichen Herzen, lass deine edlen Trfinen heut fur eine
verlassne Geliebte fliessen, dass deine verwirrten, fliegenden
Haare die Vorbilder meines Schmuckes sind und meine Stimme
4 *
das Echo deiner Klagen i Du wirst meinen Schmerz l&utern
und der Verzweiflung gnadig sein, die ich urn den schandlichsten
aller Manner erdulde. Ihr glucklichen Tage, die ich mit ihm
▼erbrachte, seid nur Aufreizer meiner Pein und meines schwarzen
. ^ W t * h
Hummers, wenn ich euch in meiner Verlassenheit jetzt klagend
zuriickrufe — ihr schonen Tage, da meine Fiaker*) , von meines
Liebsten Klugheit gelenkt, mit jeder Erschiitterung auf meinem
Pf taster mich entzuckten, dass ich jeden Stoss und Ruck als
Neckerei meines Ungetreuen empfand und dankbar hinnahm ;
da' er alter l&cher lichen Zeremonien Lauf auf meinen Strassen
_ i
oder in meinen Hdusem regelte, da meine Haude und meine des
Champs**) sein Lob in alien Bl&ttem sangen. Vergeblich rufe
- - . 1 r -
' % 1
*) Die ersten Fiaker sah man in Berlin, auf erne Anregung des Barons
Von Pdllnitz, am 24. Dezember 1739.
**) Haude, der bekannte VerlagsbuchhSndler, der 1740 eine neue
Zeitung grfindete und Begrfinder der Haude u. Spenerschen Buchhandlung
war* — Des C ha m.p s ist der Verfasser des. „Cours do la philosophie
Wolffienne“, der s. Zt, Aufsehen erregte und fn dem er u. a. sagte, dam
die Gestalt Voltaires hSsslich und l&cherlich seL Er wurde von Friedrich
■ F ^ ' ♦. fc l' * 1 L L ' *' F * ' ■ r
al$ Preqiger nach Berlin berufen.
_ J + F ¥
. 1
39® Elegie der Stadt Berlin an den Baron von Pollnitz
icfa eucfa zuriick, ihr gliicklichen Tage ! Die Hand der Zeit hat
euch ausgeloscht aus der Zahl der Wesen, und nur allein in
meinem Herzen lebt ihr noch. Ja, in diesem schmerzzerfressenen
Herzen bist du, Ungetreuer, noch tief eingegraben, und nur
meiner Mauem und Tiirme Sturz konnte dich in Vergessenheit
begraben. Hottest du raich nur, Unbestandigster aller Liebsten,
uni einer erhabeneren Schonheit willen verlassen, um Paris, deren
Reiz und Schonheit wir ja alle als die vollkommenste anerkennen ,
um des koketten Roms, um des ausschweifenden Londons, um
der grossen Hindlerin Amsterdam, um des verschmdhten Wiens
willen 1 Aber du verlasst mich, und wen ziehst du vor ? Eine
kleine Bettlerin, deren Namen fast unbekannt ist bei uns. Ich
bin so emport, wie man es fur die Venus von Medici w&re, wenn
man ihr eine kleine Debuisson vorzbge. Vergisst du, Grausamer,
dass die Bbrse meiner B iirger so manche Male deiner Betriebsam-
keit sich offnete, dass die L&den meiner Kaufleute so manches
Mai fur dich sich leer ten, dass meine Neustadt dir bereitwilligst
Raum gab, um Krankenh&user zu errichten und . . . Der Schmerz
erstickt mich. Aber ich werde den Trost haben, dass man Bayreuth
nicht besser behandeln wird als Berlin. Wenn aber der Kummer
das Fundament meiner H&user untergraben hat, dass meine Be-
wohner, deine Gl&ubiger, vor Hunger gestorben dank deiner Vor-
sorge, sie ins Elend zu stiirzen, dann wirst du auf meinem Grabe
die traurigen Worte lesen konnen :
,,Wenn die triigrische Welt deine Tr&nen verachtet,
Wirst du an meinem Hugel stehn, weinen und klagen,
Wirst mit tranendem Aug’ die traurigen Worte sagen :
Nur du, Berlin, liebtest mich ehrlich, und ich hab’s nicht
geachtet!"
ATTEST DES ARZTES
„Ich, Hippokrates, durch der Menschen Leichtgl&ubigkeit
Gott der Medizin, attestiere, bestdtige , versichere und garantiere
hiermit, dass die Stadt Berlin, seit der hinterlistigen Abreise des
Baron von Pollnitz, vor Kummer weder gegessen noch getrunken
hat, dass sie diesen Fruhling, von heftiger Melancholie erfasst,
in der Spree sich ertr&nken wollte, dass wir sie wahrhaftiglich
durch Aderlass alsdann errettet haben, dass sie sich aber seitdem
in bleiche Far ben hiillt und an hektischem Fieber leidet, das ihre
Krftfte untergrdbt und ihr so heftige Hitze verursacht, dass aus
ihrem Haupt schwarze, dicke Salpeterddmpfe hervortreten, der-
massen wohl um ihr Leben zu fiirchten ist. Es ist also periculum
in mora, wenn der teure Geliebte sie nicht durch seine Submission
ruhrt und durch emeute Versicherungen seiner Devotion trostet/*
Deutsch von Erich Oesterheld
Gustav Meyrink
Gustav Meyrink
Von WILL SCHELLER
„Tratarah — Tratarah — Obdcht — Obdcht — Kandl —
Kan dal ! Das Angriffssignal der Prager Burger eskadron schallt
durch die Strassen. Ein Mann fehlt, — der F iakerkutscher
Kottysch hat in letzter Stunde sein Handpferd nicht hergeborgt.
Angsterfiillt schlottem die Greise auf ihren Gfiulen im Asthma-
galopp durch die Strassen. Concours hippique “
Spottlust dussert sich gerne drastisch und fbrdert oft, zumal wenn
r
sie persdnlichen Umtrieben entspringt, zutage, was nur Erfolg zu
nennen ist. Als Gustav Meyrink seine Bemerkungen fiber Prag
imd Montreux publiziert hatte, flog seinem Verleger aus den be-
troffenen Ortschaften ein Schwarm von Drohbriefen in den
Kasten, zum vergniiglichsten Beweis, dass die Hiebe sassen, dass
die Satire von echten Farben schillerte, so auswxichsig ihre Drastik
sich immer geb&rden mochte. . . Denn es brechen aus einem durch -
aus empirischen Boden die grotesken Einf&lle, deren sich dieser
Dichter nicht zu erwehren vermag, weil sie ihm das Leben so
ausserordentlich erleichtem ; weil sie die Bilder sind, die sein Ge-
dachtnis belasten, bis es irgendwann eines Oder mehrere fort-
werfen muss. Das leiseste Hindeuten auf etwas, dessen bosartige
I
Schw&chen vom leidenschaft lichen, durch die widrigsten Er-
inneningen fortwShrend geschiirten Hass des Dichters unablassig
verfolgt werden, weckt auch schon seinen Blick dafiir auf, und so
kommt es, dass oft mitten in die romantischste Stimmung plotzlich
irgendein Schimpf koboldartig hineintorkelt und wie ein Schlag-
licht imversehens auf die Dinge fallt, ihren phantastischen Reiz
vdllig zersetzend, und bestenfalls etwas wie eine Groteske bestehen
ldsst.
Meyrink ist von den heutigen Romantikern einer der
ausgesprochensten. Ohne einer allgemein geltenden An-
schauung nachzubeten, bewegt er sich in der ihm eigenen Welt,
deren Farben und For men sonderbar sind — und im Vergleich zu
denen der alltftglichen Welt bizarr und schauerlich beriihren. Ihm
39 *
Gustav Meyrink.
ist aber, im haiben Gegensatz zu Hoffmann, und im gleichen Sinn
wie Poe, die romantische Welt nicht eine Nebenwelt der wirklichen
und einAsyl, in das man sich fliichten kann; sondern die des
eigenen Empfindens, dessen personliche Regungen diese Welt mit
Gebilden lebhaft machen. Die erhbhte Reizbarkeit seiner
N erven verursacht Stimmungskomplikationen .
Meyrink schreibt haupts&chlich dem Nervenleben zu, was
Wesen, Wirkungen und Empf&ngnisse des Individuums um-
schliesst, — verkennt aber dabei nicht die treibenden Krtfte des
Instinktes; wasaus der immer wiederkehrenden Gestalt des Moham-
med Daraschekoh leicht zu deuten ist, als aus der Verkorperung
des ekstatischesten Hasses, der durch die Formen des Verstandes
geht und in bewunderungswurdigen Verbrechen offenbart wird;
Untaten, die sich aus einem ph&nomenalen Wissen um die
Empfindungen — Nervenschwingungen • — der Menschen und;
ihrer instinktiven Gefiihle entwickeln und selber das Entsetzen
zeugen. . , Diese phantastische Stimmung ist das Element
des Dichters, diese hochste Erregung der Nerven sein liebstes
Objekt. In „Der Mann auf der Flasche", in „Das Prfipa-
rat“, in „Der Albino" Und ganz besonders in ,,Bal macabre" hat
er diese Stimmung bis ins Kleinste gefangen und festgehalten,.
weshalb sie den, der diese Geschichten zum ersten Male liest,
mit wahren Schauern des zusammengepressten Bewusstseins
iiberschutten.
Was ihn an Vertiefung meistens hindert, ist seine ganz
personliche Mitgenommenheit, sein persdnliches Geschiitteltsein,
seine eigenen Nerven ...
„Unterbewusstsein" ist ein sehr bequemer Name fur jene
Nervenschwingungen, die nicht an der Oberfl&che des Bewusst-
seins spielen und fiir das Wesen der Meyrinkschen Dichtung von
so grosser Bedeutung sind. Man sagt vielleicht besser : Ahnungs-
vermogen, und denkt daran, dass uns zuweilen, mitten in den
belanglosesten Begebenheiten ein Schauer iiberf&llt, ein plotz-
liches Entrucktsein aus der gegenw&rtigen Atmosphare in eine
vergangene oder zukiinftige, ein Geffihl, das man iibersinnlich
genannt hat, wei! seine Wahmehmung halb nur in dem Kreis des-
Intellektes, halb draussen desselben stattfindet; diese besonderen^
Gustav Meyrink
393
selterT und fast immer infolge des eigenen Befremdens schlecht .
beobach tetenV org&nge sind das Gebiet des „Unbewussten“, besser:
Schlechtvernommenen, sind die verborgenen, dunklen Quellen,
aus denen Dichter wie Meyrink schopfen. Die Nerven als Mem -
brane des dbersinnlichen Ahnungsvermogens — das w&re auch
eine Formel fiir die Analyse vom Wesen Gustav Meyrinks.
DieVermutung liegt nahe, dass dieser Dichter nicht einGestalter
ist, in dem Sinne von Dickens, den er gleichwohl uniiber-
trefflich verdeutscht ; und in der Tat, wir sehen eigentlich nie-
manden und immer nur so viel, als zum notwendigen Verdichten
der Stimmung erforderlich ist. Es geschieht haupts&chlich ; das
Formate der Erscheinungen verliert seine herrschsuchtige Be-
deutung vollig, und die Idee ist das Wesentliche nebst ihrer Be-
wegung in der selbstgeschaffenen Atmosph&re.
• *
Dieser Ideen des Dichters Gustav Meyrink gibt es einen ver-
h<nism&ssig nicht geringen Kreis. Es l&sst sich das rein Phan-
tastische streng unterscheiden vom rein Satirischen.
Die Zwitter sind unter diesen Erzfihlungen recht hdufig ver-
treten, und den reinen Phantasien und reinen Satiren ist vor ihnen
bestimmt der Vorzug zu geben. Die Lust, zu spr ingen, kdnnte das
Bild des Dichters immerhin triiben, aber merkwurdigerweise gibt
es da ein Gemeinsames, das schwer zu bestimmen ist und auf seine
Art simtliche Geschichten miteinander verbindet. Es ist moglich,
dass dieses von der Stilkunst Meyrinks hergeleitet werden kann,
einem gewissermassen unbewussten Konnen, einem instinktiv
getreuen Reproduzieren der jeweiligen Stimmung, nicht nur des
„Unterbewusstseins“, sondern auch des wachen Empfindens.
Die Phantastik Meyrinks ist, sobald sie frei von personlichen
Tendenzen bleibt, natiirlich die am hdchsten zu bewertende
Ausserung des Dichters. Gespenstisch ragen solche nicht allzu
hfiufigen Geschichten aus dem mehr oder weniger tollen Tanz
der iibrigen heraus und ihre teuflische Melancholie wirkt bei ihrem
unvermuteten Erscheinen schrecklich und bet&ubend. Ich erlebte,
dass jemand, der eines vergniig lichen Nachmittags ahnungslos
394 Gustav Meyrink
< m
S^^^^^^S^^^^S^^B^^BSS&ESS^KB^S&SSSSBBSB&SSSE^SSSSSEB^^^^^^SSS^ESE
eine dieser Erz&hlungen vorlas, in der Meinung, etwas Lustiges
in der Hand zu haben, allm&hlich vom Erstaunen ins Entsetzen
Eel und anstatt eines Gel&chters ein einziges Grausen fand.
Geisterbeschworungen, aberwitzige Versuche experimentalen
Charakters mit den verborgenen Krftf ten des menschlichen Kbrpers,
Schauer okkulten Mysteriums und auch die reine, furchtbare
Spiegelung des Innersten der ,,Seele“ der unverhiillten, nur als
ausserkdrperlich zu beschreibenden Vorginge zentraler Emp-
findungen, — dieser bizarr anmutende Formenwust Meyrinkscher
Aussenwelt ist dasjenige, was an seiner gesamten dichterischen
Ausserung als das Hauptsftchliche zu betrachten ist . . . Behag-
lichkeit ist ein Wort, das der Erz&hler Meyrink nicht kennt.
4
Es ist nicht fur einen Augenblick hi nddmmer nde Ruhe in dem ,
was er berichtet, es ist iramer ein unablassiger, brodelnder Prozess
▼on GSrungen, Explosionen und neuen Verbindungen.
* *
*
Eine Menge possenhafter Geschichten, ironischer und bissiger
„Skizzen ganz infamen Inhalts 1 * laufen immer neben her, von der
.p
am Eingang benannten Spottlust erregt und vom Ged&chtnis
unwillig oder launig abgeworfen. Grosse Komplikationen fur die
Betrachtung der Welt Meyrinks ergeben sich nicht daraus, dass
dem D&mon des verzerrend nervosen Empfindens ein skurriles
Gefolge ldcherlicher und boshafter Gefiihle beigegeben ist ; die
Maske dieses Humors ist ihrerseits dermassen phantastisch , dass
ihre Grimassen oft genug ebenso grausig anzusehen sind, wie das
fiirchterliche Gesicht des durch einen betaubenden Nebel blutigen
Dunstes grinsenden Damons Hirn . . .
Gustav Meyrink hat jetzt einen Roman geschrieben. Die
4
seltsame, vom lauernden Unheil beeinflusste Stimmung ist
ungemein lebhaft und eindringlich, und die sich kreuzenden
bosen, das Geschehen tragenden Machte spiegeln sich erschreckend
in den Fratzen der scheinbar leblosen Gegenstande, die in dem
Verwitterungsmilieu des Ghetto fremdartig und vom Dichter im
grausamen Durchschauen ihres Wesens allzudeutlich und
beangstigend lebensvoll, nicht nur als Kulissen der Ereignisse
verwandt worden sind.
Hoftraucr
Das ist zu merken: Meyrink ist als Dichter ha upts&cklich
Temperament. Seine innere Bewegtheit ist sttrker ails das Sicher-
heitsgefiihl des gestaltenden Prinzips. Aber man wird nicht um
die Tatsache herumkommen , dass die besondere Personlichkeit ,
die aus all den Bizarrerien und Drdlerien spricht, Ton einetn
Lebensgefiihl durcfaglubt ist, auf ein furChtloses Sichversenken
in die uirtersten Regungen gedanklich nicht mehr zu for*
H
mulierender NervenvorgSnge zurdckreicht.
■ <
Hoflrauer
Persische Novellette Ton PAUL SCHEERBART
,,Das Glas ist ein sehr wertvolles Material ! ‘ 1 sagte der alte
I wan, Ober-Pfandleihhausdirektor in Teheran.
Aber die Suleika — heulte — heulte — und raufte sich Sir
pechschwarzes Haar, dass ein paar Rubine aus einem Kamm
herausfielen und auf dem Fussboden herumrottten.
Die Suleika war die Direktrice des hdfischen Zeremonien-
amtes zu Teheran.
,,Vergessen wir nicht, “ fuhr der Direktor I wan fort, „dass
wir hier in Persien leben.“
,, Ja,“ schrie die Suleika, „und Persien war seit uralten Zeiten
die Heimat der Brillanten. 44
,,Warum,“ rief der Direktor Iwan mit erhobenen H&nden,
, ,soll Persien nicht f iirderhin die Heimat der Brillanten bleiben ?
Das schadet gar nichts — gar nichts. Ich bleibe sogar Brillanten-
Direktor bis an mein Lebensende — ■ wo mdglich — noch viel
ISnger — vielleicht bis ans Ende der Ewigkeit — wenn mir der
Prophet keinen Strich durch die brillante Rechnung macht.“
„Sie Scheusal," schrie da wieder die Suleika, „aber zahlen
wollen Sie fur die Brillanten nichts mehr? Wie kdnnen Sie da
wagen, sich einen Brillantentitel zu verleihen ? Zahlen sie erst!
Die Titel will ich Ihnen schon beschaffen.**
„Bin ich ein Narr ?“ rief wieder der Direktor, „alle euro-
pftischen Pfandleihh&user zahlen fiir Rubine und Saphire gar
nichts. Da soil ich was zahlen ? Ich — der arme Iwan ? Ich zahl*
gar nichts — gar nichts. Verkaufen Sie die Steine bei den kleinen
Negern im heissen Afrika, die sind so dumm."
„Die haben doch kein Geld! 44 flotete die Suleika.
„Dann,“ verse tzte Iwan hart wie ein ur alter Wucherer,
„bleibt dem persischen Hofe nur tibrig, Hoftrauer anzulegen.
396
Hoftrauer
Legen Sie fur hundert Jahre Hoftrauer an — dann uberleben
Sie die Trauer .wahrscheinlich nicht . 44 ; •
„Hal 44 sagte die Suleika, „jetzt wagen Sie es gar, zu hohnen ?“
„Ich spreche im Ernst ! 44 versetzte deralte Iwan.
„Ohl 44 fujir die Suleika fort, „Sie ahnen gar nicht, welche
Umwilzung die vollsttadige Entwertung des Diamanten herauf-
beschwfirt : Thron, Krone, Zepter, Reichsapf el — alle diese ehr*
wiir digen Gegenst&nde werden plotzlich im Pfandleihhause nicht
mehr beliehen. Das ist ftirchterlich! Da$ ist entsetzlich! Das
ist ganz einfach haarstr&ubend. Unsre herrlichsten Kron- und
Throngfiter pldtzlich wertlos — so viel wie Glas. Beleihen Sie
wenigstens noch die Smaragde ?“
„Nicht drei Sechser dafiir , 44 versetzte Iwan, „t»ald warded
auch die Smaragde nachgemacht werden. Vielleicht sind sie’s
schon. Auch f tir den Ko-hi-noor geb ich gar nichts mehr. Auch
die Tage seines Ruhms sind gez&hlt. Legen Sie Hoftrauer an,
teure Direktrice des hdfiscliien Zetemonienamtes. Weinen Sie
sich zweihundert Jahre au$. Die Zukunft der Pfandh&user
kann mit den Brillanteii nicht mehr in Verbindung gebracht
werden. Mit dieser Verbindung ist es endgiiltig aus. Gehen Sie
nach Raus. bracken Sie all den Krempel zu sa mmen und schiclcen
Sie den ganzen wertlosen Kitt in das grosse Nationalmuseum zu
Teheran. Museen nehmen alles ; 44
„Zahlen aber nichts! “ brullte die Direktrice.
„Was kann denn der alte Iwan dafur ? 44 fragte dieser l&chelnd.
Frau Suleika erhob sich und rannte im Direktionsz immer
auf und ab.
„Ich konnte , 44 schrie sie pldtzlch, „mit dem Kopf die W&nde
einrennen . 44
„Das konnen Sie machen ! 44 sagte der> Alte ernst, „polizeilich
ist das durchaus gestattet. Wenigstens reden Sie dann cdcht mehr.
Ihr Heulen und Schreien wird dann auch verstummen. Aber
— bevor Sie das tun, empfehle ich Ihnen folgendes: legen Sie
erst Hoftrauer an. Das beruhigt. Das macht ernst und stille.
Trauerleute benehmen sich immer wiirdevoU . 44
* p .
Frau Suleika wurde plfitzlicb ruhig. ,
Nach einer Weile sagte sie;
„Direktbr Iwan! Tatsachlich, die Hoftrauer wird beruhigend
wirken. Es wird sich wirklich sehr nett machen, wenn wir mit
dieser Hoftrauer alien europ&ischen Hbfen vorangehen. Denn
die werden ja auch bald dahinter kommen, dass die Zeit des
Diamantenzaubers dahin ist. Dann werden sie auch Hoftrauer
anlegen und damit nachklappen. Wir sind die ersten gewesen,
die gleich dffentlich zu trauem begannen. Das wird in der Welt-
s
Hoftrauer
geschichte loblich vermerket werden. Direktor I wan, ich besorge
Ibnen einen Orden fiir die fulminant® Idee. Sie ist entziickend.
Und meine Gedanken weilen bereits am Garderoben-Magazin. Oh
— da wird man sich freuen. 44
„Nu, sehen Sie/* rief der alte Direktor I wan, ,,dass jede Sache
auch die schlimmste — ihre gute Seite hat. Aber — da$ mit
dem Orden lassen Sie nur sein. Die Brillanten sind doch auch
- '
in den Orden nichts mehr wert. Oder - — wollen Sie mir einen
Trauer orden aus schwarzem Glase schenken ?“
„Meine Gedanken weilen schon/ 4 sagte Frau Suleika schwar-
merisch, dieweil sie I wans Rede gar nicht bemerkt hatte, „im
Garderoben-Magazin. Aber, Herr Direktor I wan! Jetzt muss
ich Sie bitten, nochmals Ihren hocbwohlgeborenen Gehirns-
kasten anzustrengen. War brauchen fur die Brillanten einen
Ersatz. Wie denken Sie fiber die Perlen ? 44
„Die sind/ 4 versetzte I wan hart, „so furchtbar leicht zu
imitieren, dass man gleich immer lacht, wenn man Perlen sieht.
Deswegen sagt ja schon das alte Sprichwort: man soil die Perlen
▼or die Slue schmeissen. 44
„Scheusal! 44 schrie Frau Suleika, „das ist eine Sprichwort-
Ifilschungl 44
„Regen Sie sich nicht so aufl 44 rief Mr. I wan, „das schadet
Ihrer Gesundheit. Denken Sie lieber an Email cloisohnde • — •
ri 4 _ J-
dberhaupt an Glas und Glasmosaik. Das Glas ist, wie ich schon
sagte, ein sehr edles Metall. Besonders das Email! Oh — einfach
kdstlich."
„Mir hat/ 4 versetzte Frau~Suleika hart, „ein guter Freund
in Berlin eine Broscbe aus Email cloisonn6e — ganz echt ist alles
— fiir eine Mark und funfzehn Pfennige gekauft. Nur des Spasses
wegen kaufte er mir den Quark. Aber so was Billiges kann doch
eine anst&ndige Frau nicht tragen. Was denken Sie sich denn ?
Meinen Sie, dass ich zur ordinftren Hefe des Volkes gehore?
Hal 44
Sie reckte den rechten Arm steif in die Hdhe wie Arminius
im Teutoburger Walde. Aber in ihrer Hand war k e i n Schwert.
„Ein Gliick/ 4 rief Mr. Iwan, „dass Sie kein Schwert zar
Hand haben. Lassen Sie den Arm nur wieder sinken. Benehmen
Sie sich nicht so auff&llig! Bedenken Sie, dass Sie gleich Hof-
trauer anlegen sollen. Da passen sich doch derartig kriegerische
Armbewegungen ganz und gar nicht. Ich will Ihnen einen Rat
geben, wenn Sie ein bischen ruhiger geworden sind. 44
„Ah, 44 rief Frau Suleika, „eine neue Idee ? Nun — schnell!
schnell! Ich vergehe vor Ungeduld. Bedenken Sie mein schweres
398 Hoftratior
Amt. Zweitausend Augen sind iulfefldKnd auf mich gericbtet.
Und ich weiss nicht, wie ich helfen soil."
„ Setzen Sie sichl ‘ 4 sagte Mr. I wan.
Frau Suleika setzte sich und schaute den Direktor lange —
lange — durchdringend an.
Der nahm erst gemiitlich eine Prise und begann dann folgen-
denxiasaen:
„Teuer soil aein, was Sie' tragen! Ja — Verehrteste I Es
gibt noch gliicklicherweise tausend andere Dinge, die auchsefar
teuer sind. Denken Sie an die Olgemdlde des Tizian. Doch
die konnen Sie nicht auf der Brust tragen. Freilichl Aber Ideine
Porzellanmalerei geht schon auf die Brosche zu setzen! . Wie
wir's damit ? 44
„Das ist nicht vomehm genug, u versetzte Frau Suleika: mit
henmtergezogenen Mundwiakeln, , r die Porzellanmaler sind nicht
so teuer . 4 1
„Aber,“ fuhr Iwan fort, „wie wftr’s denn mit der Kleinplastik
— mit der Miniatur* und Mikroskop plastik ? Hei! die ist teuer
— natiirlich alles in Silber und Gold mit ein ganz klein wenig
Email cloisonnde."
„Oh, Ihr Email!" rief Frau Suleika, „aber sonst ist die Idee
brillant! Brillanter als aUe Brillanten. Ja! die Mikroskopplastik!
Auf! Ich fahre gleich zu alien Bildhauern der Stadt. Ich bringe
ihnen gleich die Mikroskope mit, Heiligsten Dank! Meister tosi
Pfandhaus! Lassen Sie sich umarmen!"
Herr Iwan trat hinter seinen Sessel und sagte:
„Wir sind in Persien! Vergessen Sie das nicht! Vergessen
Sie aber auch die Hoftrauer nicht."
■ ■ r
„Fiir die Hoftrauer , 44 sagte Frau Suleika, „soll doch eben
Schmuck in Mikroskopplastik hergestellt werden . 44
,, Dann , 44 sagte Mr. Iwan, „lassen Sie diese Kleinplastik unter
Glas setzen! Glas ist ein vortreffliches Material . 44
Wie Mr. Iwan aufblickte, war Frau Suleika schon fort. Und
er ldchelte und rief ganz laut:
„Ei, da werden sich ja die Herren Kiinstler freuen! Ich fahr’
auch zu ihnen und lass mir Prozente zahlen — fhr meine
brillante Mikr oskop-Idee . 4 4
4
Naturalismus
Naturalismus
Eine Definition von FRIEDRICH KURT BENNDORF
+
Um geme insame und durchschnittliche Erkennungs- und
Empfindungsweisen kurzerhand zu kennzeichnen, — um Korn-
plexe von Gewalten und W&ndlungen in ganzer Breite zu decken, —
um sich durch Formulierungen zu entlasten, einigen sich die
Zeiten auf ihre Schlagworte.
*
So ist Naturalismus eine abrundende Sammelbezeichnung,
ein summarisches Schlagwort fur das Wollen der gegenwdrtigen
Zeitseele „ nicht nur im Bereiche der Kunst und des Kunstgewerbes,
sonde rn der geistigen Kultur iiberhaupt. Die griindliche Nach-
prufung der Konventionen und Traditionen hat uns das Be-
wusstsein einer neu erkannten Natur verschafft, und mm gilt
es, alle Lebensftusserungen mit dieser Natur in Uebereinstimmung
zu br ingen. Wir suchen eine neue Ankniipfung an die Wirk-
lichkeit; wir ringen um eine neue Unabh&ngigkeit. Das ist
Naturalismus, das ist Modemismus.
In dieser umfassenden Bedeutung genommen hat der Naturalis-
mus seinen starks ten Vork&mpfer in Friedrich Nietzsche gefunden.
Mit der Verherrlichung der Realit&t als des unschfttzbarsten
Outes, als des einzig und ewig Wertvollen, mit der Forderung
eines restlosen Anbaus der Wirklichkeit, ihrer voile n Eroberung,
ist Nietzsche Naturalist im obersten und radikalsten Sinne, und
die allgemeinen Anregungen, die er gegeben, sind heute in den
mannigfaltigen Bezirken der Kultur (auch denen, die seiner
persbnlichen Zuneigung femlagen) fruchtbar geworden.
Die Reformbestrebungen auf religiosem, sozialem, hygieni-
schem, p&dagogischem , sexuellem Gebiete; die Forschungen im
Felde der Biologie und des Evolutionismus (der nicht nur die Ver-
dnderung und Entwicklung der Arten, sondem auch die des
Denkens untersucht); im Umkreis der Physik die modifizierte
Auffasstmg der Materie als einer Energieform; in der Philosophic
der Positivismus (der mit seiner empirischen Psychologie den
Menschen aufs engste mit der Natur zu verkniipfen trachtet);
dazu der Neuaufbau der Aesthetik; die Durchfuhrung der Milieu-
theorie; der Sprachskeptizismus; die Bemuhungen um die Genea-
logie der Moral: — das alles sind Erscheinungsformen des
naturalistischen Wollens, Aeusser ungen des Bewusstseins, dass
sich Herz, Geist und Sinne fur etwas geoffnet hahen, das bisher
400
Nsturalismus
anders oder gar nicht gefiihlt, erkannt und empfunden wurde.
Daraus, dass sich die Grundvorsteilung der Natur allm&hlich
und unberechenbar wandelt, — dass die Kenntnis der Natur
w&chst und die Menscben neuer Zeiten von den Dingen neu er<-
fasster Wirklichkeit neu ergriffen werden, — dass die Sinne sich
sch&rfen und die Erscheinungen anders bewerten, dass die
Psychologic tiefer schurfen lemt, folgt, dass auch unser Begriff
von kiinstlerischer Wahrheit und Schdnheit sich ftndert und die
■Si '
Handhabung der kunsttechnischen Mittel sich regeneriert. Sine.,
Kunst, deren Ethos wir nicht mehr mitfiihlen, ist fiir tins ein-
drucklos. Und immer, wenn das Feldgeschrei „ZurQck zur.
Natur" ertdnt, hat sich jenes Ethos gewandelt, — hat sich das
Auge der Zeit fiir die Dinge neu eingestellt. So fordert auch der
moderne Naturalismus vom Kiinstler nichts anderes, als gerade
nnsere Art der Natur anschauung durchzusetzen, u nser e n
Mut vor der Realit&t zu beweisen, mag immerhin einer sp&teren
Generation diese Erfassung und Wiedergabe der Natur wieder
fremd werden, wie uns diejenige einer Vergangenheit.
Wird der modische Terminus Naturalismus in diesem
Sinne auf die kiinstlerische Kultur ahgewandt, so erscheint die
heute oft ge&usserte Ansicht ganz ungereimt, dass er nur eine
von einem Literatenkliingel ersonnene Theorie; umschliesse,
— - dass er nur eine Schule, eine Richtung bezeichne, die ge-
kommen ist und wieder geht. Ein neues Grundverh<nis zur
Natuirwirklichkeit hat nichts mit Schule und Theorie zu tun,
sondem ist Sache der Notwendigkeit, Schicksal eines Zeitalters 1
Der Naturalismus ist wie auf andera Kulturgebieten So auch in
der Kunst seinem Wesen nach unverlierbar; von Ueberwindung
kann gar keine Rede sein, hdchstens von Wandlungen, die das
typische Mittel seiner Technik, der Impressionismus, erfahren
hat und noch erfdhrt.
' Alle kiinstlerische Bet&tigung (mit Einsehluss der des Schau-
spielers und T&nzers) hat dem Modemismus mit seiner Devise,
von vom anzufangen, vom Elementaren wieder auszugehen, die
Erstehung jungen Lebens zu danken. Im Kunstgewerbe gibt es
eine „neue Linie“; in der Architektur die Anf&nge einer neuen
RhythmisierUng der Flftche. Die Malerei beschenkt uns allent-
halben mit „neu erkannter" Natur. Die Skulptur weiss dem*
menschlichen Kdrper Bewegimgslinien abzugewinnen, die ein
Ausdruck der typisdsen Lebenswerte gerade unserer Zeit sind
und aus einem anderen naturalistischen Geiste stammen als die
eines Phidias und Michelangelo. Die Tonkunst hat im Punkte
der impressionistischen Technik mit der naturalistischen Idee
engste Fdhlung genommen, und in der Dichtkunst ftussert ahh
Naturalismus
diese Idee ale eine neue Aufriehti gkeit , Unbefangenheit und Ehr-
tfurcht vor alien Tatsachen des Lebens; als ein neuer Glaube an
die Sinne, die dieses Leben beobachten, belauschen und betas ten;
als Erschliessung unbekannter Seelengebiete; als Entdeckung
der Poesie n&chstliegender Dinge, der Welt des Namenlosen;
als Weiterentwicklung der iiberlieferten Kunstformen; als ge-
steigerte Anschauli chke it und Farbigkeit des Wortausdrucks;
als verdnderte Darstellungsweise ( Kristallisation suggestirer
Einzeleindrucke zu Gesamteindriicken) .
Die von Frankreich ausgehende naturalistische Bewegung
in der Literatur bem&chtigte sich nacheinander der epischen,
drkmatischen und lyrischen Gattung. Die photographisch treue
Gegenstandsschilderung, in der man sich zun&chst gefiel, die
blosse Kleinmalerei und subtile Analyse liessen freilich den
Hauptcharakter der Stoffe nicht fiihlbar werden. Es kam nur
zu einer minutiosen Zustandsdichtung, die es weder essentiell
nodi formell zttr Synthese brachte. Dichtungen entstanden,
denen es an Blick fur Haupt- und Nebenwer te , an Willen zur
Reduktion aufs Notwendige, an Suggestivit&t gebrach, — Studien
zu Dichtungen. Aber dann trat eine neue Generation auf, die die
Kunst aus den Fesseln der Wissenschaft befreite, — die zur
exakten, experimentellen Naturdarstellung das synthetische
Element hinzubr achte , — die mit Hilfe der gewonnenen techni-
schen Mittel nicht bloss die ftussere Form der Dinge, sondern
auch die innere auszupr&gen unternahm. Nun kamen alle die
Zu Worte, die sich die Wirklichkeit als Vision&re unterwerfen
wollten, die idealistischen Poeten. Nun beseelten sich die oh*
jektiven Imptessionen aus der Alltagsumwelt und die subjektiven
aus der Innenwelt gesellten sich neu hinzu. Nun erst bescherte
uns die naturalistische Bewegung vollgiiltige Kunstwerke in
Drama, Epos und Lyrik.
Ob ein Dichter heute Pathetiker oder Ironiker ist, ob erzarte
oder robuste Stoffe gestaltet, ob er Grossstadtgeschichten oder
M&rchen erz&hlt, ob er seine Vision einer Landschafts- oder
Alltagsszene wiedergibt, ob er gesellschaftliche Probleme aufrollt
oder von den verschwiegenen Tiefen der Ichgeheimnisse kiindet,
*^— in jedem Falle muss er sich als ein Naturalist erweisen, —
muss er mit seiner indivi due lien Sehweise innerhalb der typischen
(gegen frUher ver&nderten) Naturanschauung unsrer Epoche
stehen. (Begriffe wie Symbolismus, Mystizismus, Idealismus,
Realismus, Romantizismus, StiHsmus and alle dem Begriff
Naturalismus u n te r g eordaet; denn sie deuten nur die
Art der Sensibilitftt, der inneren Disposition eines Kiinstlers an.)
Und in der Tat siiid die Meister der heutigen Dichtkunst, mbgen
Pxntomimiker
ste sieh tttth In ibren AspiratiOnen unteremander so verschieden
geb&rden wie etm Maler des Quattrocento und Cingue cento, alter
gleichermassen erfiilh von Atm naturalistischen Geist noerat
Zeitalters und unverkermbar geschieden von jenca zahlreichen
Takmten, die von dieswn Zeitgeist wenig oder gar nicht bcriihrt
sm4 und derm Erzeugnisse dem Gefete tiner vergangeneti
Pokdt angehdfen.
Pantomimiker
(Schiller
Wagner)
x. SCHILLER
Die Handhtngen dieses Dichters sind ah seiche praehtvolh
weil wir Ste als gftnzUch unkonstruierte ansehen durfen ; als aus
rich herausgescbteuderte. Ror haben sie etwas strriel: und
zwSf das Wort.
Bs ist dies ein sehr mteress&fltes Schanspiel, welches uns nur
gewagt rorkommen dtirfte, weil wir es zum erstenmal spieleh
woften : Schillers Dr amen als wortlos za betrachten.
Seine Worter nebeneinandergestellt sind nicht eine Spfache ;
sind nicht — ich spreche nur von semen Dr amen — > Schillers
Sftfdcfce : dagegen wohl aber das Geriist, mit welchem er Seine
Gestalten zusammenzuhalten suchte; und der Mechanismus, mit
welchem er sein Inner es setbst in Bewegung setzte, um diesen
Gestalten Handlungen tu erfinden.
In Wirklichkeit ist also in Schillers Dramen der Text nur ein
Hilfsmiftet, um auf die Handlungen selbst 2 U kommen : welches
bei der sauberen Ausftihrung wegfallen mtlsste ; wie man die
Konstruktionslinien einer geometfischen Zeiehnung, solange sie
stdrende Hilfslinien sind, bei der sauberen Ausfiihrung wegradiert.
Schiller hitte seine Dramen nicht schreiben konnen, wemt
er nicht gleichzeitig den Text geschrieben h&tte : denn der Rhyth-
mtfs desselben lag ihm im Gehirn : und setzte das Rad der Ef>
findungsgabe in sausende Bewegung, je ttinender sieh die Worte
in ihm drdngten : die dann die Handlung vor seinen Augen vor-
hbergteiten Hessen ate einen Film. Was die Begriindung ist ftor
die richtige Behauptung, dass der Schillersche Text meist so
wenig mit der Handlung selbst zu tun hat ; sich vielmehr in Aus-
sebweif ungen verliert: und dies, weil es dem Dichter weniger
auf den Text selbst ankam, als auf seine melodischen Zuckungen.
(Solches lftsst sich von alien Dichter n behaupten, die in Ekstaoe
sehaffen: denn sie dichten als Musiker ; und nicht als Intellekte^
Bs ist also der Rhythmus der Schillerschen DTamenverse niir
ein Hitfsmittel fiir den Autor : um die bestindige Aktivitftt det
Pantomimiker
Geschehnisse zu erreichen ; weshalb es ate solches nicht fiir uns
in Betracht kommen sollte. Wir beobachten eine BeWegung :
damn ist der Rhytbmus der Schillerschen Sprache der Stoss, der
dnen Kdrper in Bewegung setzt und ihm mit der Bewegung
gleichzeitig die Richtunggibt fur diese ; wobei wir uns unter dent
Kdrper in diesem Falle eben den Komplex der Handlung vorzu-
stellen haben.
2. WAGNER
Man wird die ricbtige Grdsse in ibm und in seinen Werken>
efst linden: bis man ihn und. seine Werke ate Pantomimiker und
Pantomimen erkennen wird..
Seine Personlichkeit zeigt. sich ate die eines Pantomimikers :
in alien seinen Phrasen ; in alien seinen Briefen : in alien Hand*
* * i ™
hmgen seines Lebens.
Sein Werk zeigt sick ate Pantomime : in seiner herr lichen
; in der unglaubliehen Plastik seiner Rhythmen.
Wo er eine plastische Form nicht versinnbildlichen kann, da
fehlt es ihm auch g&nzlich an E in fallen. Deswegen. ist der.
Parsifal sein schw&chstes Werk : es hat zwei Ideen und im Rest
Eintdnigkeit ; deswegen sind die Meistersmger sein grossartigstes :
denn hier ist jeder T&kt in den Schmelzfluss der Musik starr-
gegossen.
Indem Wagner zum erstenmal die Motirwiederholungen in
strengster Konsequenz durchfiihrt, zeigt er sich ate der grosse
Pantomimiker : denn diese Motive sind nichts anderes als die in.
die Musik eingestreuten Worte der Erkl&rung : wie man in jedem
Drama von den Agierenden unausgesprochene, aber befolgte:
also geformte S&tze finden wird. Das bedeutet, dass diese Motiv-
wiederholungen horbar ausgesprochene Regiebemerkungen sind.
Wir miissten Wagner untersch&tzen, wenn wir ihn als einen
Dramatiker betrachten wollten : auch miissen wir vergessen, dass
gerade er von einer gleichen Vollkommenheit in Text und Musik
sfuach ; denn seine Texte wftren noch l&cherlicher ohne seine
herrliche Musik; ebenso, wie diese noch herrlicher wire ohne
seine lficherlichen Texte ; die uberdies auch noch unnotig sind.
Denn durch die Ausgestaltung der Motive hat er in die Musik
selbst Handlung gebracht : und diese ist noch gesteigert durch
Wagners starke Empf&nglichkeit fflr Rhythmik; sie wirkt ohne
den l&rmenden Text auf der Biihne spannender, interessierender.
(Vielleicht, dass sich Wagners Talent heute, da wir die Kunst
der Pantomime anzuerkennen beginnen, noch viel vollgestalteter
entwickelt hdtte; denn es liegt in der Mimik, in den Grimassen,
Gesten : in der Pantomimik sein^* Musik.)
THEODOR TAGGER
4 -
Die Unterirdischen
wirklich vom Staat angenommen werden diirfen. — An dem
Dementi in den N. N. ist nur das rich tig, daB das Depot, in
4 - *
dem die Bilder jetzt sind, nicht unterirdisch, sonderh zu ebener
r . “ '
Etde Uegt. A.
4 *
DIE UNTERIRDISCHEN
Bin frOherer Redakteur der „GroBen Glocke", Herr Walter
(jetzt Redakteur der Deutschen llontagszeitung) lifit deb too Herrn
Rechtsanwalt Puppe „langjihrig« vertreten.
Cs ergibt sich folgendes Bild :
r r k
I'd
Puppe liber den
an danten :
Puppe an die „Aktion*‘,
>6. Juli 1911 :
4
n^^Ahr ist} • # * d^8
mein Mandant (Walter
Steinthal) {QnfzigMark
Geldstrafe erhielt.**
' Puppe an den ,,Pan**, 5. Febr, 1913 ^
„Wahr ist, daB ichals Herrn Steintbab lang-
jihriger einzigster Rechtsbeistand persdnlich die
Erklirung abgebenkann, daBHerr Steinthal tiber-
haupt nodi niemals, sei es wegen Beleidigung, sei
es wegen eines anderen Deliktes, vorbestraft ist.* 4
Zweites Doppelbild :
Der Koilege i
Die „GroBe Glotke**
Ober Steinthal :
,, . . . Walter Stein-
thal, den frQheren Re-
dakteur der „GroBen
Glocke'*. ; . „dem Kol-
. legen Steinthal
, ,,bei uns Redakteur
war* 1 . . . , ,seine Lehr-
zeit bei uns** . . . „dafl
dies* Lohre gut war. . .**
Steinthal liber die „Grofle Glocke** :
’ • + ■ w
„Nicht den Enth
, nicht den Entlarrer
spielen, nicht die amtliche GroBe Glocfce von
ja wohl der
mwm
1 1 t 1 j
Binilm
Berlin sein woUeh“. . . „So h .
h
terminus technicus derer um
und Richard Dietrich . . . “ ... „Wo
rund heraus gesagt, dieNIhe von Zeitungen wie
die ,Wahrheit* erheblich fatal .{wittert**, .. .
Rechtsanwalt Puppe plante f olgende
Berichtigung :
1. Es ist unwahr, daB Herr Steinthal infotge einer Titigkeit an dem
von Ihnen genannten Berliner Blatt vorbestraft ist. Wahr ist, daB ich als
Herts Steinthals langjihriger einzigster . . . (siehe oben).
a. . Unwahr ist, daB Herr Steinthal versucht hat, irgendetaen Abschnitt
seiner Berliner Titigkeit dutch Unwahrheiten wegzuleugnen.
■06-
Die Unterirdischea
Wahr ist, daB Herr Steinthal vor etwa einem Jahre aut Anlafi e trier
irrt&mlichen Angabe des Berliner Tageblattes die Redaction dieses Blattes
gebeten hat, der Wahrheit gemfiB zu berichtigen, daB er nicht die Stellung
eines Redakteurs der „GroBen Glocke“ bekleide.
Ein kleiner
Nachtrag:
„Aktion“ vom 20. M&rz 1911:
Nach der Beendigung des Prozesses hatte Herr Walter Steinthal den
Einfall, dem „B. T.“, das den ProzeBberieht gebracht hatte, mitzuteilen,
daB Walter Steinthal mit sich nicht identisch sei.
Wir bitten, Mitteilungen und Beitrige nor:
An die Redaktion, Berlin W. 10, Victoriastrasse 5, zu adressieren.
Bei umiangreicheren Zusendungen ist vorherige Anfrage notwendig.
Sprechstunde: An Werktagen, mit Ausnahme des Montags, t — 3 Ubr,
Berlin W., Victoriastrasse 5.
Verantwortlich fflr die Redaktion: Albert Damm, Berlin-Wibnersdorf.
Gedruckt bei Imberg ft Lefson G. m. b. H. in Berlin SW. 68.
Kdniglich Bayrische Komodie 407
Koniglich Bayrische Komodie
Bin optimistischer Freund sah die Zukunft Bayems so : es be-
kommt ringsherum Mauem und wird gegen Entrde den Fremden
gezeigt ; die Eingeborenen fiihren das Schuhplatteln, Biertrinken,
Schmalzlerschnupfen , Bal par 6, die deutsche Kunst, Reform-
theater und Oberammergau vor ; aUe fiinf Minuten singt Gross
und Klein das Nationallied mit dem Refrain ,,Saupreiss“ ;
Schenkkellner demonstrieren das Messerstechen.
Braucht man eine Mauer ? Sie ist ja da. Die Zukunft ? Sie ist
ja Gegenwart. Man braucht nur neue Nummern, die nicht aus
dem bestens erprobten Programm fallen. Wir haben eine solche
neue Nummer : ein ultramontanes Ministerium, akkompagniert
▼on der Kastagnettenmusik des angstschlottemden bayerischen
Liberalismus, der sich zu einem Kampf bis auf das im Griff fest-
stehende Messer durch gegenseitigen Zuruf vorbereitet. Die
Miinchener Neuesten Nachrichten trieften von Blutriinstigkeit am
Tage der Ernennung — am dritten Tage stellte es sich auch den
paar Glaubigen her aus, dass das Blut nur Tinte war wie immer :
man erkl&r te , dass man scharf aufpassen miisse. Das ist unge-
fihrlicher als mit einer Pistole spielen, selbst wenn diese nicht
geladen ist. Es ist das Programm und das Schicksal des Libe-
ralismus, dass er immer genau weiss, er kann mit der rechten
Hand nicht halten was er mit der linken versprochen hat (er gibt
immer mit der Linken seinen Handschlag). Der Liberalismus
ist die fatale Situation zwischen zwei Stiihlen in Permanenz.
Da sitzt er und erklftrt emphatisch : hier ist mein Platz. Der
Liberalismus muss schwankend sein wie die Borsenkurse. Er
lebt von Protesten, die ihn zerschmettern, wenn sie aus der
Phrase zur Tat wiirden. Das weiss er. Darum hat er kein Inter-
esse an der Tat
In Bayern hat das, wie alles andere,noch seine besondere FSrbung.
Bayern versteift sich auf seine Sonderrechtsbarkeit imReiche, und
fuhrte sie auch zu nichts mehr als dem Unsinn der besonderen
Brief marken, die ein Hoheitsrecht der Krone sind, das wir bei den
schlechtenZeiten, welcheHoheitsrechte haben, demHauseWittels-
bach'gerne gonnen. Wir sind keine Unmenschen. Bayern hat
aber auch noch ein anderes Reservatrecht und das ist das Recht,
alles, was an noch so stumpfsinnigen heimischen Einrichtungen,
Brauchen, Sitten riihrt fur „preussisch“ zu erklaren und damit
unpopular zu machen. Politische Minoritaten fiihren Zust&nde,
29
4
Koniglich Bavrische Komodie
die sie durch ihre Dummheit verursacht haben, auf „preussischen
Einfluss“ zuriick, um fiir ihre Dummheit einVersteck zu gewinnen
und ihre kleine Popularit&t zu erhalten. „Saupreiss“ ist die grosse
Ausrede der bayrischen Indolenz. Einem Druck von Preussen
nachgebend, habe der Prinzregent, dem ,,Preussen“ die rote Flut
recht lebhaft gemalt habe, ein ultramontanes Ministerium ernannt:
so erzahlte man herum, ungeachtet der gleichzeitigen kaiserlichen
Thronrede, die voller Haltung nicht die geringste Nervosit&t vor
diesem roten Reichstage zeigte.
Was geschah denn eigentlich? Ein, wenn auch nicht dem
Titel nach, so doch in seinen Taten durchaus dem Zentrum
ergebenes Ministerium musste gehen. Podewils war ganz nach
Sinn und Geschmack des Regenten gewesen, der fromm ist ohne
ultramontane E xtravaganz , landesv&terlich ohne irgend politische
Voreingenommenheit : ein feiner, lieber, alter Herr, ein Gentle-
man alten guten Schlages, dem ein ebensolcher Gentleman als
Ministerprdsident durchaus passte. Denn Podewils ist ein liebens-
wurdiger Weltmann, ein etwas irenischer Zuschauer und ganz
ohne Illusionen fiber politische Dinge und Figuren, die er gar nicht
so emst nimmt wie diese sich selber. Menschen solcher Art
werden in der Politik immer seltener, denn auch sie mechanisiert
sich, schafft sich Beamte, die nichts weiter sind als Teile einer
Maschinerie und ohne personlichen Charakter. Der ungeduldig
wartende Thronfolger ist voller Tatendrang. Prinz Ludwig ist
fast siebenzig Jahre alt und wird nervos. Nicht schwer, dem uber
neunzig alten Prinzregenten zu beweisen, dass er die Zeit nicht
verstehe, die zu verstehen einer nicht die geringste Lust mehr ver-
spurt, der so alt ist. Also kam der Abschied : „Mein lieber Pode-
wils, Sie sind mir zu gut fiir das, was man die Politik in Bayern
nennt, ich habe in meiner Hof haltung was viel Schoneres fur Sie.“
Und der Thronfolger erfiillte eine demokratische Forderung : er
emannte (konform seinen persdnlichen Wiinschen) ein Mini-
sterium aus der parlamentarischen Majorit&t, die zufallig ultra-
montan ist. Das war „ein Faustschlag ins Gesicht der Bevolke-
rung“, wie die liberalen Blotter im Boxers til sagen.
Es ist eine Kraftprobe, deren endlichen Eintritt man gutheissen
kann, wenn sie auch gerade jetzt etwas provokant aussieht. Bisher
herrschte in Bayern das Zentrum hinten herum, im Dunkeln ge-
wissermassen. Jetzt steht es im vollen Licht. Ist verantwortlich zu
machen. Ist verantwortlich. Was kann erwunschter sein ? Gewiss !
Die Erfiillung der demokratischen Forderung eines parlamen-
tarischen Ministeriums nahm eine Voraussetzung als erfiillt an,
die es nicht ist, n&mlich eine demokratische Verfassung. Das
Zentrum hat die parlamentarische Majoritat, aber nicht die der
Koniglich Bayrische Komodie
Wahler. Die Einteilung der Wahlkreise begiinstigt das Land,
benachteiligt die St&dte. Aber die Liberalen haben zur Aenderung
der Wahlkreiseinteilung und des Abstimmungsmodus nie mehr
getan als beides programmatisch zu fordern. War eine Moglichkeit,
diese Forderung zu verwirklichen, so fanden sie immer Vorw&nde,
nichts dafur zu tun.
Schon Bethmann Hollweg ist ein verkappter Gelehrter, ein
Amateur-Philosoph. Jetzt haben wir einen richtigen Philosophies
professor als bayrischen Staatsleiter und das auf die Bildung
versessene Biirgertum kbnnte stolz sein. Aber es ist bds, weil
Herr von Hertling, dieser kleine kluge Herr mit den Augen,
die einen nicht anschauen konnen, ein katholischer Professor ist
und die Herren seines Ministeriums bis auf einen Renommier-
protestanten, ebenfalls ultramontane Herren sind. Diese ultra-
montane Regierung ist eine Kraftprobe, nicht fiir die Liberalen, die
mit ihrer Kraft nicht renommieren sollen, sondern fiir das
Zentrum. Das Zentrum muss zeigen, was es kann. Endlich
einmal dffentlich zeigen, vor aller Augen, der Kritik ausgeliefert,
die sich auf Fakten stutzen kann, alien zug&nglich imd sichtbar,
nicht zum Abstreiten und nicht zumVerdrehen wie bisher, wo alles
hinter den Kulissen gemacht wurde und es vor den Kulissen nicht
gewesen sein woUte, wie der Prozess Auer beweist.
Also nur hereinspaziert ins schdne Bayerland, verehrte
Freunde und Saupreussen, hier ist zu sehen ausser den alt-
bewahrten Attraktionen was ganz Neues : ein ul tramontanes
Ministerium und die kochende liberate Volksseele. Hotels up to
date. Messerstechen der biederen Landbewohner, neu ein-
studiert von Reinhardt. Schmalzlerwettschnupfen der Pfarrer bei
Kati Kobus. Hausgemachte Malerei yon Scholle und Cie.
BONNIE.
29 *
Bin jungfranzdsticher Roman
Ein jungfranzosischer Roman
Von G. LE CARDONNEL
Neulich hat mir jemand meine Gleichgti ltigkeit gegen die
modemsten Richtungen vorgeworfen*). Ich glaube nun wirklich
nicht, den Kultus der Mode vor alien — acfa, nur zu meist
provisorischen — Heiligttimem treiben zu mtisSen, und ich
erwarte von der Zukunft die Antwort, ob ich Recht habe. Ich
gestehe, daB ich mich am Uebsten an die Schriftsteller halte,
deren Talent, deren Stfirke ich anerkennen mufi. Im ubrigen
ktlmmere ich mich nicht um ihr persfinliches Wollen, noch um
ihr Klagen, noch um ihre Freunde, noch um ihre Feinde. Ihr
Werk allein interessiert mich, um der Kunst willen , die ich
darin entdecke, oder wegen ihres Mangels an Kunst, den ich
beklage.
Unter diesen provisorischen Heiligttimem unterscheide ichdrei,
die ihre treuen Anh&nger haben. Das erste ist das des Paul
Claudel, aber Paul Claudel schreibt keine Romane, und ich
mochte hier nur von Romanen sprechen. Das zweite — das
von Andrd Gide; vor dem neigen sich emste und gewichtige
junge Leute und junge Frauen, die sich ftir reine Zerebr&l-
menschen halten. Das ist eine hugenottische, kahle und
ntichteme Kapelle, dieses Heiligtum; doch l&uft wohl auch die
eine Oder andere htibsche intellektuelle Abwechselung mit unter.
Ich hoffe davon noch einmal mehr zu erzahlen. Und schliefi-
lich haben wir das Heiligtum Romain Rolland. Hier treibt
man Laienkult; die hochgestimmte Seele seufzt ohne UnterlaB
tiber die Traurigkeiten der Zeit. Und manchmal wird sogar
auch die Orgel gespielt.
Romain Rolland verdf fentlicht eben ein neues Buch : , ,Der
brennende Busch' Es ist der neunte Teil seiner Romanserie
von Jean Christophe, die im ganzen zehn z&hlen soil. Man
kann also wohl schon dem Gesamtwerk ins Gesicht sehen.
Dieses ist eigentlich gar kein Roman, und doch tut es so. Es
ist kein Essay, und doch n&hert es sich dem. Es ist auch
nicht Reportage, und manchmal bertihrt es sich doch damit.
Es ist nicht Poesie und hat doch lyrische Seiten. Ich kenne
kein Werk, das nach alien Richtungen repr&sentativer wfire
ftir die Unordnung der Geister, die in Frankreich zwanzig
•) Der Verfasser ist Kritiker der Zeitschrift „Les Marges^.
Bin jungfranzdsiscber Roman
411
Jahre lang geherrscht hat, und die wir noch nicht ganz iiber-
wunden haben. Begreiflich, daB ein solches Buch enthusiastische
Freunde unter den zahlreichen Nichtfranzosen findet; die be-
teuem gem ihre Bewunderung vor jedem Werk der franzosischen
Sprache, das die Fehler ihrer eigen en Schriftsteller hat und
die Vorziige jener franzosischen Kultur vermissen l&Bt, die wir
▼erlangen. Nicht nur fiir die Periode der Zerriittung des
franzosischen Geistes ist dieses Werk mit seiner ungeordneten
Folge von Banden charakteristisch ; es spiegelt die Zerriittung
des ganzen franzosischen Vaterlandes. Es ist ein Dokument.
Es erz&hlt den Inhalt des Schauspiels vom Tage. Alle diese
Unterhaltungen iiber Antisemi tismus und die Rolle der Juden,
liber Pauperismus, Pazifismus, iiber Kunst, iiber Strebereien,
uber Liebe, iiber die Frau, iiber die Anarchie, iiber die Moderne,
wir haben sie gehdrt. Wir haben uns an ihnen sogar be-
teiligt. Diese Fragen werden hier so behandelt, wie sie vor
einigen Jahren in den Kreisen behandelt wurden, die sich als
die Intellektuellen gefielen. Es ist gar nicht erstaunlich, daB
eine groBe Anzahl von Geistem sich hier wiedererkennt und
diesem Buch, in dem ihre eigenen Gedanken noch nachzittem,
Interesse und auch Beifall schenkt.
Jean Christophe ist ein zugewanderter Deutscher, und er
taucht hier auf , gleichwie in der Rolle eines Compare, wie in einer
, .intellektuellen* ‘ Revue. Er verlafit Frankreich, nachdem er bei
einem Aufruhr einen Polizisten getotet hat, als einer jener
guten Fremden, die sich in die Biirgerkriege auf unseren
StraBen mis c hen, ohne daB die sie etwas angehen, und er
ftftchtet zu seinem Freunde Braun iiber die deutsche Grenze.
Hier gerSt er in ein protestantisches und tristes Milieu, in dem
es auch Brauns Frau, Anna, nicht eben zu gefallen scheint.
Anna ist eine phantastische Person, geschaffen fiir amoureuse
Liebesleidenschaften, aufierdem eine Frau, die sich langweilt, und
so sucht sie bald Zerstreuung in Christophes Gesellschaft. Der
freilich, eine schone Seele, empfindet ein Widerstreben, seinen
Freund zu betriigen , bei dem er zu Gast weilt. Am Ende aber
entschlieBt er sich dazu. Anna und Christophe ftihlen sich einer
zum andern gedr&ngt, wie man erraten kann, durch unwider-
stehliche und dunkle Mdchte. Das ist der brennende Busch.
Es gibt hier in der Tat ergreifende Stellen, voll von einer
lyrischen Psychologie. In triiben Stunden hat Christophe An-
wandlungen, Braun alles zu gestehen. Er wird nur zuriick-
gehalten durch die Angst, ihm Schmerzen zu bereiten, eine
sicher sehr berechtigte Angst. Anna, die bis an das Letzte ihrer
Leidenschaft geht, denkt zuerst einen Moment daran, ihren
Ein jungfranzosischer Roman
Mann zu toten , dann an einen Selbstmord zusammen mit
Christophe ; dazu entschlieflen sie sich auch, aber es miBlingt.
Anna wird krank, und Christophe flieht. Anna wird schliefilich
wieder gl&ubig, fromm. Und nun ein entscheidender Moment
im Leben Christophes: wo sein Schmerz einen Gott sucht,
an den sein Verstand nicht glaubt. Eines Tages, auf einem
seiner Spaziergdnge , sieht sich Christophe einem Menschen
gegeniiber „mit blassen Augen, mit dickem und gelbem Ge-
sicht, der zusammengesunken auf einer Bank sitzt unter zwei
Pappeln und vor sich hinblickt. Ein zweiter Mann sitzt neben
ihm und die beiden schweigen.“ Christophe erkennt in dem
Mann mit den hellen Augen einen deutschen Dichter, jetzt
Pensioner einer benachbarten Heilanstalt. ,,Einstmals ein
Mann voll Kraft, voll Selbstsicherheit, voll Verachtung vor
allem, was nicht sein Werk war, ein Romancier, dessen
realistische und sinnliche Kunst liber die Mittelm&Bigkeit der
Tagesliteratur weit hinausragte.“ „Christophe verabscheute ihn
eigentlich und konnte sich doch nicht enthalten, die Voll-
kommenheit seiner mater ie lien, klaren und in sich beschrSnkten
Kunst zu bewundem. (<
„Es hat ihn gepackt, jetzt gerade vor einem Jahr“, sagt der
WcLrter. „Man hat ihn gepflegt, man hat ihn als geheilt ent-
lassen. Und dann, dann hat es ihn wieder gepackt. An einem
Abend hat er sich aus dem Fens ter gestiirzt. In der ersten
Zeit, wie er hier war, da kampfte er und schrie er. Jetzt ist
er ruhig. So verbringt er seine Tage, wie Sie ihn sehen, still
dasitzend.“
Und da Christophe den Kranken fragt: ,,Wonach schauen
Sie aus ?“, sagt dieser unbeweglich, halblaut:
„Ich warte.“
„Worauf ?“
„Auf die Wieder auf erstehung. ‘ ‘
Christophe erzitterte. Er stiirzte da von. Das Wort hatte
ihn getroffen wie ein Blitzschlag.
Von diesem Augenblick an kommt fiber Christophe eine
Art Erleuchtung; er fiihlt die Heimsuchung Gottes, er macht
uns zum Zeugen seiner Gespr&che mit Gott. Aber wer ist der
Gott, der diese vom Nichts umlauerte Seele gewinnt? Hdren
wir den Dichter selbst:
„Gott war fiir ihn nicht der verborgene Schopfer, nicht
der Nero, der vom Gipfel seines ehernen Turmes die brennende
Stadt betrachtet, die er selbst angesteckt hat. Gott war
Kampfer, Gott litt, ein Genosse aller derer, die kampfen und
die leiden, denn er war das Leben selbst und war der Tropfen
1 ... -Li i — ..
Ein jungfranzosischer Roman 413
Licht, der in das Dunkel fallt, der sich ausdehnt, ausbreitet,
der die Nacht tr&nkt. Aber die Nacht ist ohne Ende, und so
ist auch der gottliche Kampf grenzenlos, und niemand kann
wissen, was sein Ausgang sein wird. Eine heroische Sinfonie,
in der auch die Dissonanzen, die sich stoBen und dr&ngen, ein
erhabenes Konzert sind! Wie der Buchenwald, der in seiner
dunklen Stille von furchtbaren Kdmpfen voll ist, so ist das
Leb&n mitten im ewigen Frieden voll von Kampf."
Ein Gott also, wie man sieht, sehr weltlich, sehr vage . . .
Das Leben selbst . . .
Dank dieser mystischen Erhebung fdngt Jean Christophe
wieder an, zu schaffen, aber nun ganz anders als vorher :
„Friiher, da er sich schon auf der Hohe seines Lebens und
seiner Kunst wahnte — und er war doch erst auf dem Gipfel
eines seiner Leben und einer seiner Inkarnationen in der
Kunst — da war seine Sprache die Sprache, die dem Denken
vorausgeht, da unterwarf sich sein Empfinden ohne Wider-
streben einer Art Logik, die yon vomherein feststand, die ihm
seine Phrasen zufliisterte und der er gelehrig, auf gebahnten
Wegen, an jenes Ziel folgte, wo das Publikum ihn erwartete.
Jetzt gab es keinen solchen Weg mehr. Jetzt mufite er ihn
sich selbst bahnen. Jetzt muBte der V erstand einfach folgen.
Seine Rolle war es nicht mehr, die Leidenschaft zu beschreiben
oder zu zerlegen. Er mufite selber mit ihr eins werden, er
mufite sich selbst ihren Gesetzen unterwerfen."
„Nun fielen auch mit einem Schlage die Widerspriiche, mit
denen Christophe sich lange herumschlug, ohne sich mit ihnen
abfinden zu wo lien, denn obwohl er ein reiner Kunstler war,
hatte er in seine Kunst doch oft Dinge vermischt, die ihr
fremd waren; eine soziale Aufgabe hatte er ihr zugeteilt, und
er hatte nicht gemerkt, dafi in ihm zwei Menschen waren: der
Kunstler, der sein Werk schuf, ohne sich um seine unmittelbare
Wirkung zu kUmmern, und der handelnde und denkende Mensch,
der seineKunst zu etwasMoralischem und Sozialem machen wollte.
Sie standen sich oft im Wege und machten sich Schwierig-
keiten. Nun, da ihn die reine Schopferidee ergriffen hatte mit
ihrer Gesetzm&fiigkeit, ihrer organischen Kraft, eine Realit&t,
die jeder anderen Realitat iiberlegen ist, stand er nicht mehr
im Dienst irgendeines praktischen Bedenkens. Er gab freilich
nichts auf von seinem Widerwillen gegen den niedrigen und h&B-
lichen Immoralismus der Zeit. Er dachte freilich immer noch,
dafi eine unreine und ungesunde Kunst die niedrigste Stufe der
Kunst sei, dafi sie nur eine Krankheit sei, ein F&ulnispilz an
einem toten Baumstumpf. Aber wenn die Vergniigungskunst
Ein jungfranzosischer Roman
nur eine Prostitution der Kunst ist, so wollte Christophe doch
auch nicht jenen kurzsichtigen Nutzlichkeitssinn, der die Kunst
nur fur die Moral und den Pegasus nur als fiiigellosen Karren-
gaul gelten l&fit. Die Kunst, die die hochste ist, die allein
diesen Namen verdient, steht uber den Gesetzen eines Tages.
Sie ist ein Komet, geschleudert durch die Unendlichkeit. Es
kann sein, daB sie Nutzen stiftet, und es kann auch sein, daft
sie nutzlos und gef&hrlich erscheint im praktischen Getriebe.
Aber sie ist die Kraft, sie ist die Bewegung und das Feuer.
Sie ist der Blitz, der aus dem Himmel springt. Und deshalb
allein ist sie auch heiUg und wohltfitig.“
Ich habe diese lange Stelle zitiert, weil sie nicht nur diesen
einen Jean Christophe, sondem auch viele seiner Zeitgenossen
mit alien ihren Fehlem und alien Vorzilgen kennzeichnet. In
diesem ganzen Werk herrscht das Dunkel. Betrachtet man
diesen Relden, der nach seiner schmerzlichen JLiebeskrise von
Gott spricht, so glaubt man irgendeine tragische und reine
menschliche Bekehrung mitzumachen . Romain Rolland trifft
einen Augenblick diese Saite. Nur der Ton, der uns dabei er-
greifen kdnnte, fehlt freilich. Nur uber das Liter arische kommt
man dabei, ffir mein Empfinden wenigstens, nicht hinaus.
Welch ein Irrtum von Christophe, zu glauben, daB er ein
lebendiges Werk schaffen werde, wenn sein Verstand sich der
Leidenschaft unterwirft! Als ob in der Kunst der Geist nicht
ebensoviel zu sagen h&tte wie das Gefiihl. Dieser Cristophe,
scheint mir, ist zu deutsch.
Rolland hat es selbst einmal ausgesprochen, was ich oben
meinerseits andeutete, daB er keine Romane schreibt. Romane
sind seine Bucher nicht. Es sind Werke eines t&tigen Menschen,
der — um seine Meinung zu sagen — die Tribiine nimmt, die
ihm gef&llt. Man kdnnte sagen, daB die kiinstlerische Wirmis
darin ihr Recht habe, da sie die Verworrenheit ihrer Zeit ab-
spiegelt. Aber ich konnte freilich darauf erwidem, daB es das
Franzdsische in der Kunst sei, auch die schlimmste Verwirrung
nach MaB und Ordnung zu gestalten.
Europ&er vor viertausend Jahren
4X5
Europaer vor viertausend Jahren
Von EMIL WALDMANN (Athen)
Am Nordrande der Insel Kreta, eine Stunde vom Meer ent-
femt, liegen am Hiigelabbang in einem Bachtal, die Rumen des
Kdnigspalastes von Knossos, dort, wo der sagenhafte K6nig
Minos wohnte. Was an ihm eigentlich noch Sage ist, was
Historie, das lisst sich schwer feststellen. Dass er eine See-
herrschaft bis Asien und Agypten und Griecbenland ausiibte,
dass er von Attika Gefangene heimbrachte und sie dem stier-
gehomten Gott opferte, dass sein Palast ein Labyrinth war mit
endlosen schmalen Gangen, aus denen man sich nicht herausfindet
— dies ist alles so gut wie sicher. Jedenfalls konnen wir uns ein
anschaulichesBildvon der fiusseren Kultur dieser Sagenzeit machen
als von manchen sogenannt historischen Epochen. Wie Perikles
lebte , so als Mensch und (erster) Burger, das ahnen wir nur
eben halbwegs; unser Bild von ihm entbehrt der Farbe. Wir
mochten wissen, wie es um ihn herum aussah, wenn er einmal
nicht auf der Akropolis, zwischen alle den auf sein Geheiss
errichteten Bauten einherging; doch so gut wir das ewige Teil
dieses Menschen kennen, Oder zu kermen meinen, — sein gegen-
wdrtiges und allt&gliches ist uns verschlossen. Aber der Mann
a
da in Kreta vor rund viertausend Jahren, ob er nun Minos
hiess und was es mit seinem Architekten Dadalos auch auf
sich haben mag, von dem erz&hlen uns die Ruinen mit ihren
Funden, eine Menge fast greifbarer Dinge.
Auf einem runden Htigel, an seinem Abhang, liegt ein grosser
quadratischer Palastblock, 120 Meter breit. Das Zentrum der
weitldufigen Anlage bildet ein etwa 70 Meter langer rechteckiger
Hof, auf alien Seiten von Gebauden umgeben, links, im Westen,
zweigeschossig, rechts, auf der stark abfallenden Hiigelseite,
viergeschossig, so dass zwei Etagen fiber dem Hofniveau liegen,
die anderen zwei den Abhang hinuntersteigen. Wer vom Zentral-
hof auf dieser Seite ins „Parterre*‘ ging, befand sich also tatsdch-
lich im dritten Stock des Geb&udes. Links, im Westen, waren
m
J
4x6 Europaer vor viertausend Jahren
< nun die Hauptwohnr aume , der Baderaum des Kdnigs, und,
in der Erde, nach alien Richtungen orientiert, die endlosen
Vorratskammern, die Keller mit den riesigen Tongefdssen und
den bleigedichteten Steinkisten, die Tresors und die Magazine,
ein undurchdringliches Gewirr schmaler R&ume, Gange und
Korridore. Rechts vom Hof, in dem Vieretagenhaus, unten die
Reprdsentationssale mit Vorhdfen und Vorzimmern, von Saulen-
stellungen auf alien Seiten umgeben, eine zweite Wohnungs-
anlage und eine Hauskapelle mit Altar. Dann durch einen
Korridor von diesem Teil getrennt, wieder Wirtschaftsr&ume,
eine Olpresse mit einer lan gen, in ein Reservoir fuhrenden Leitung
und vielleicht auch die Gesinde wohnungen . Zugfinge hatte das
Schloss zwei: Einen im Nordwesten gelegenen, offiziellen, mit
einer grossen Preitreppe, auf die von aussen ein langer gepflasterter
Gang zufiihrte, und mit mehreren S&ulenhallen dahinter. Dann
einen einfacheren an der Siidwestecke. Der fiihrte erst an der
einen Aussenmauer entlang, bog an der Ecke um und miindete
in einen kleinen Portalbau.
Hier lebte nun dieser Konig in grossem Luxus. Das Bau-
material war glanzender Alabaster, er nahm es als Pflaster fur
den riesigen Hof, und auch sonst fiir die Fussboden, fiir Treppen
und Schwellen. Ja, auch fiir den Sockel und die Quadem der
Wande nahm er denselben Stein bis etwa Mannshohe. Dariiber
war Fachwerk mit Stuck verkleidet und mit Fresken geschmiickt.
Die Dec ken, die nach oben sich verbreitemden Saulen und Pfeiler
fiir Dach und Treppen waren aus Holz, ebenso wie die in mehreren
Geschossen iibereinanderliegenden Galerien, die auf alien Seiten
die Hofe umzogen; auf die trat man aus den Zimmern heraus
und schaute in den Hof hinab, wenn da unten bei dem grossen
homergeschmiickten Altarbau ein religioses Fest und ein Opfer
war, vielleicht ein Menschenopfer. Da wogte auf den Alabaster-
platten eine dichte Menge auf und ab, eine Masse eleganter Weiber
dabei, die schwatzten und gestikulierten — ein Miniatur-Fresko-
gemalde gibt uns eine Vorstellung davon.
Fiir grosse Zeremonien und Hoffestlichkeiten war alles vor-
gesehen. Schon die Anlage des Schlosses weist darauf hin. Den
Hauptzugang bildete, wie gesagt, ein langer gepflasterter Weg.
Europ&er vor viertausend Jahren
4*7
Da kaxnen die Gesandtscbaften in feierlichem Schritt heran-
gezogen , dem Konige ihre Geschenke zu bringen, Gef&sse a us
kostbaren Steinen — jetzt stehen sie im Museum im nahen
Candia zu Haufen herum. — Empfangen wurden die Fremden
auf der grossen rechtwinklig gebrochenen Freitreppe, die in der
If She der Portale liegt, und fiber der an der einen Seite eine
gedeckte Loge ist. Dort zeigte der Konig sich, feierlich von den
Herolden begleitet, die Straussenfederschmuck im Haar und
lange, elfenbeinerne St5.be in den HSnden trugen — so wie ein
Fresko, das noch erhalten ist, sie abbildet, schlanke sehnige
Gestalten von dunkler Hautfarbe mit blitzenden Augen. Man
hat darum gestritten, was diese Freitreppe sei, man h51t sie fiir
ein Amphitheater mit ihren niedrigen Sitzstufen. Aber das ist
sie nicht, da sie doch nicht kreisformig , sondera rechtwinklig
gebrochen ist, und da doch ein langer Weg darauf zufuhrt. Auch
ist ganz dicht dabei ein Bad. Das war damals immer am Haupt-
eingang, auch in kleineren Palasten : der Fremde, der kam,
wurde zun&chst einmal gebadet, ehe man ihn zum Herrscher liess.
* *
*
Wenn der Herrscher badete, das war eine Zeremonie, ihnlich
wie das Lever der franzosischen Konige. Im Erdgeschoss seiner
Wohnung liegt sein Badegemach, zwei miteinander verbundene
Zimmer. Das kleinere, mit Alabaster ausgekleidete, zu dem
ein paar Stufen abw&rts fuhren , diente als eigentlicher Baderaum,
dort standen die tonemen Wannen, wie sie im Palast gefunden
wurden; das grossere, durch Sfiulen davon getrennt, als Ruhesaal.
An seinen W&nden laufen steinerne SitzbSnke entlang, in der
Mitte der Hauptwand steht ein steinerner Sessel mit blattformig
ausgeschnittener Lehne und fiir die Glut&en vertieften Sitzflache,
an der Wand dahinter flankiert von zwei wappenmassig einander
zugekehrten gemalten Greifen. Dort ruhte der Konig, nackt
Oder fast nackt nach dem Bade, und auf den Steinb&nken sassen
die Hofleute. Hier ward geplaudert, hier war der Fiirst gnadig,
in der Kiihle nach dem Bade, die so wohltut in der afrikanischen
Sonne Kretas. Man hat diesen Raum den Thronsaal genannt,
wegen des alleinstehenden Sessels. Aber davon kann wohl keine
Europ&er vor viertauaend Jahren
Rede sein bei diesem ziemlich niedrigen, gebundenen, kaum
offenen Gemach. Wenn er thronte, brauchte er keinen Bade-
sessel mit vertieften Flfichen (die damals nur Sinn haben bei
dem unbekleideten Korper) , sondem er hatte, wie es sich gehbrte,
einen Thron aus Elfenbein und Gold mit Fellen und Kisaen
belegt, und er war auch nicht nackt; eine Zivilisation, die so
unerhort prachtige gewebte und gestickte bunte Gew&nder
besass wie die Wandgem&lde sie uns zeigen, die ldsst ihren Konig
nicht nackt gehen, stehen Oder sitzen. Als ob ein Menelik je
halbnackt auf seinem Thron gesessen h&ttel
Zudem befindet sich ja der grosse Reprasentationssaal in
dem anderen Gebaudekomplex , am Hiigelabhang, im luitersten
Stock des Vieretagenhauses. Ein Lichthof mit Tier hintereinander-
liegenden, durch S&ulen und Pfeiler getrennten und auf zwei
freien Seiten auch von Sfiulenh alien umgebenen R&umen, halb
unter freiem Himmel, mit weitem offenen Blick fiber das Bachtal
imd auf die Htigel jenseits. Dieser Raum, auf drei Seiten von
Treppenanlagen umgeben, charakterisiert sich schon im Grundriss
als der Mittelpunkt der ganzen Anlage. Ein Luxusraum mit
grosser Platzverschwendung hergerichtet und „praktisch“ nicht
zu gebrauchen — das redet deutlich von dem stark zeremoniellen
Charakter dieser Hofhaltung.
Die ganze bunte morgenlandische Sinnenfreude dieses Lebens
leuchtet uns aus den vielen Dingen entgegen, kostbaren wie
wertlosen, die in dem Palast gef unden sind. Grosse Skulptur
i
fehlt fast vollstandig, dagegen blfiht das „Kunstgewerbe 4 * in
alien nur denkbaren Zweigen. Die merkwurdigen Steingef&sse,
meist trichter- und kannenformig, grau und blau marmoriert,
oder gefarbt wie Strausseneier mit rosa Adern, wetteifern an
Schonheit der Arbeit mit Trinkgefdssen in Tierform, einem
prachtvollen Stierkopf aus dunklem bronzefarbigen Stein und
dem einer elfenbeinfarbenen Lowin. Aus bunter Fayence sind
kleine Relief gruppen von Tieren, Genrebilder einer Kuh mit
Kalb, einer Ziege mit Zicklein; femer kleine HSuser als Spielzeug;
dann die beriihmten Statuetten von Frauen mit Schlangen,
sowie fliegende Fische. Ein Prunkstiick war das Brettspiel des
Kdnigs, aus bemaltem Stuck, verziert mit Elfenbeinintarsia,
Europ&er vor viertausend Jahren 4x9
Pl&ttchen aus Kristall auf Silberfolie, Goldstreifen und Einlagen
Ton far bigem Email. Dann das Schonste: die Fresken, mit denen
die Wande verziert waren, Genrebilder in dgyptischer Art, eine
Scene, wie eine graugelbe Katze einen roten Vogel in dem Griin
der Biische beschleicht, Oder Darstellungen der Feste und Zere-
monien. Einmal sehen wir eine pompos angezogene tanzende
Frau mit unendlich vielen Gew&ndem in weiss, rot und blau,
fiber lebensgross , dann Greifen, am Fluss im Riedgras liegend
und gef&sstragende Jfinglinge aus einerProzession,grossdekorative
Arbeiten in hellen Farben aus Korridoren und Hdfen. Dann wohl
aus intimeren Gem&chem kleine Fresken, ein Opfer am Haupt-
altar mit viel Volks, und eine reizende Gesellschaftsszene im Park
unter B&umen, vielleicht eine Art embarquement pour Cythdre.
Wunderschone Bilder, ausdrucksvoll und illusionistisch im
Zeichnerischen, streng und von dunkler auf Schwarz, Rot,
Gelb und Griin gestimmter Harmonie im Koloristischen, hierin
einem Farbenholzschnitt eines primitiven japanischen Meisters
etwa aus der Toriischule nicht unihnlich. Auch von der Freude
dieses Konigs am Sport erz&hlen uns die GemSlde. Da ist ein
kleines Fresko, mit einem Stiergaukler. In eleganter schneller
Bewegung schwebt die dunkle Gestalt fiber den Riicken der
riesigen Bestie, springerhaft, ganz gestreckt, und zwei schon an-
gezogene weisse Frauen machen an Kopf und Schwanz das Tier
scheu. Eine Ahnliche Gruppe aus Elfenbein geschnitzt ist zwar
nur in Fragmenten erhalten, aber die Figur des schwimmend
durch die Luft sausenden Springers ist ein kleines Wunderwerk
kostbarster Kleinplastik.
♦ e
*
Dass auch die Frauen am Sport teilnahmen, dass sie, wie
man neuerdings weiss, auch mit zur Jagd hinausfuhren, dass
sie in Kreta also sogar am Stiergefecht teilnahmen, ist hbchst
auffdllig. Aber in dieser Kultur spielen die Frauen ja tiberhaupt
eine merkwfirdig positive Rolle. Wenn wir es sonst nicht merkten,
wie diese ganze Kultur mit Sinnenfreude und Lebensgenuss
durchsetzt war, diese Frauen wiirden es uns verraten. Schon
ihre elegante Tracht mit den kostbar geschnitzten grossen
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Europ&er vor viertausend Jahren
Elfenbeink&mmen im schwarzen Haar, mit den stark geschnfirten
Taillen und den iibertriebenen Rdcken, die bald einer volant*
besetzten Krinoline dhnlich sehen, bald ganz eng zwischen den
Beinen gen&ht sind wie ein Hosenrock mit starker Betonnng
all jener Teile, die unter den Begriff Reize fallen, mit den bieg-
samen Corsagen, welche die ganze iippig schwellende Decollete
freilassen, und den nackten Armen — schon diese Tracht, die
ungefahr so wirkt wie die der spanische